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Italien: Die Kooperativen von Reggio Emilia

Der Flug der Hornissen

23. Oktobber 2012 | Kaum irgendwo sonst sind so viele Genossenschaften so gut vernetzt wie in Norditalien, und wohl nirgendwo ist die Kultur des kollektiven Wirtschaftens so ausgeprägt wie zwischen Po und Apennin. Eine Rundreise durchs Land der Alternativökonomie.

Da stand er nun und musste sehen, wie er weiterkam. Achtzehn Monate lang hatte er in den Bergen gegen italienische Faschisten und die deutsche Naziwehrmacht gekämpft, hatte Hunger gelitten und mit seiner Sabotageeinheit zahllose Brücken gesprengt. Aber was jetzt, nach der deutschen Kapitulation 1945? In die grosse Rüstungsfabrik Reggiane, wo er vorher gearbeitet hatte, konnte und wollte er nicht mehr zurück. «Viele Partisanen haben nach dem Krieg ihre alte Arbeit wieder aufgenommen, manche gingen auch in die Politik», erinnert sich Fernando Cavazzini, «aber ich bin ein Partigiano geblieben, ein Parteigänger für eine bessere Gesellschaft.»

So kam der 1923 Geborene auf die Idee, mit ein paar Bauarbeitern eine Kooperative zu gründen. Sie hätten sich an die Gewerkschaft und den damaligen Genossenschaftsverband gewandt, erzählt Cavazzini im Istoreco, dem Geschichtsinstitut des Partisanenverbands Anpi (siehe Kasten unten). «Die haben uns nur ausgelacht», erinnert er sich, «und gesagt: Das schafft ihr nie!» Nach dem Krieg war die lokale Ökonomie zusammengebrochen, die Reggiane hatte Tausende entlassen, die Arbeitslosigkeit stieg steil an. «Wenn es uns wenigen Partisanen gelungen ist, die Deutschen aufzuhalten», habe er sich gedacht, «dann werden wir auch das schaffen.»

Cavazzini behielt recht. Sein Maurerkollektiv Rinascente setzte sich durch, investierte viel in die Weiterbildung, entwickelte neue Maschinen (die Patente bekam eine Baugerätekooperative, die ehemalige Partisanen gegründet hatten) und zählte 1979, als er in Rente ging, 670 Mitglieder – 600 ArbeiterInnen und 70 Angestellte. Genauso stolz wie auf den geschäftlichen Erfolg ist Cavazzini auf die Entwicklungsarbeit, die die GenossenschafterInnen leisteten: «Wir wollten ja den Gedanken einer solidarischen Ökonomie weitertragen.»

Über Jahre hinweg reiste der Rinascente-Geschäftsführer wöchentlich in die Toskana, wo er mit Rat und manchmal auch mit einem Kredit seiner Kooperative die Gründung von Genossenschaften unterstützte.Und seine Ferien verbrachte er auf Sizilien, wo dank seiner Hilfe die Baukooperative La Proletaria und andere Kollektive entstanden. Die Vernetzung sei dabei wichtig gewesen, erzählt er – und kann sich noch gut daran erinnern, wie ihm einmal Mitglieder einer Transportgenossenschaft von den vielen Leerfahrten berichteten: «Die karrten Obst aus Sizilien in die Emilia Romagna und fuhren mit leeren Lastern zurück. Da habe ich ihnen den Kontakt zu einer Backmaterialfirma hier und zu La Proletaria in Ragusa vermittelt.»

Wer kollektiv wirtschaften wolle, müsse stets über den Tellerrand des eigenen Kollektivs hinausschauen, sagt der alte Partisan. Davon ist auch Ildo Cigarini überzeugt, der mit seinen Lackschuhen und seiner ordentlich-gelierten Frisur ganz anders daherkommt als der einfach gekleidete Cavazzini, der immer noch auf einem alten Fahrrad durch Reggio fährt. «In der Provinz Reggio Emilia mit ihrer halben Million Einwohner gibt es keine Familie, in der nicht mindestens eine Person einer Kooperative angehört», sagt der frühere Präsident der regionalen Kooperativenvereinigung Legacoop im Hauptquartier an der Via Menccio Ruini. Rund 660.000 Mitglieder hätten die 241 Legacoop-Genossenschaften allein in dieser Provinz, sagt Cigarini, «dazu kommen noch die Genossenschafter jener Kooperativen, die uns nicht angeschlossen sind».

Dreissig Prozent der Wertschöpfung

Viele seien bloss Mitglied in Konsumgenossenschaften wie Coop und Conad, «aber 33000 arbeiten in Kooperativen, die ihnen gehören». Sie wählen ihre Vorstände und Geschäftsführungen, fassen auf Vollversammlungen die wichtigsten Beschlüsse, bestimmen über die Höhe der Einlagen und entscheiden über Gewinnausschüttungen. Es sind Theater- und Kulturinitiativen, Architekten- und Ingenieurskollektive, Speditions- und Busunternehmen, Übersetzungsdienste, Fitnessstudios, Restaurantketten wie die Cooperativa Italiana Ristorazione (mit 5500 GenossenschafterInnen), IT-Firmen, Landmaschinenhersteller, Reinigungs- und Wachdienste wie Coopservice (mit 14.000 GenossenschafterInnen) oder hochdiversifizierte Kooperativen wie der CCPL-Verbund, dessen 1500 BesitzerInnen im Energie-, Baustoff- und Verpackungsgewerbe arbeiten. Dazu kommen selbstverwaltete Bauunternehmen wie Coopsette mit rund 600 GenossenschafterInnen, Unieco mit einer neuen Zentrale direkt neben dem Legacoop-Hauptquartier und Orion, wie Cavazzinis Genossenschaft nach mehreren Fusionen mittlerweile heisst.

Sie alle haben ihren Sitz in der Provinz Reggio Emilia, auch wenn viele von ihnen längst national und international operieren. Sie erwirtschaften knapp dreissig Prozent des regionalen Sozialprodukts und sind mit einer Eigenkapitalsumme – in Form von Genossenschaftsanteilen und Darlehen ihrer Mitglieder – in Höhe von 2,4 Milliarden Euro finanziell robust. Sie können Krisen wie den Wirtschaftseinbruch seit 2009 einigermassen überstehen (Cigarini: «In den letzten Jahren baute die Privatwirtschaft in der Provinz Tausende von Arbeitsplätzen ab, die Genossenschaften aber haben bisher niemanden entlassen.»). Und sie verfügen über eine hohe Lebenserwartung.

Über 120 Jahre alt

«In manchen Kooperativen wirtschaften die Enkel und Urenkel mit dem Geld, das frühere Generationen zurückgelegt haben», erläutert Cigarini – und erzählt von den vielen Jubiläen. «Während im privatwirtschaftlichen Bereich viele Firmen nur ein paar Jahre überleben, weil die Patrons die Gewinne einstecken und kaum investieren, hat kürzlich eine Wohnungsbaugenossenschaft ihren 100. Geburtstag gefeiert.» Zwei weitere Kooperativen konnten 2010 sogar ihren 120. Jahrestag begehen: Die 1890 von Schreinern gegründete Cormo Società Cooperativa, die ihre Fenster und Türen mittlerweile international verkauft. Und die aus einem Malerkollektiv hervorgegangene Tecton Coop, Marktführerin bei der Restaurierung alter Kirchen und Paläste.

Ivano Barberini habe vor seinem Tod im letzten Jahr ein sehr schönes Buch verfasst, erzählt Ildo Cigarini: «Der Flug der Hornisse». In ihm vergleiche der frühere Präsident des italienischen und des internationalen Genossenschaftsverbands die Kooperativen mit dem Insekt: «Sie sind aufgrund ihrer Prinzipien schwer wie der Körper einer Hornisse, haben wie sie nur kurze Flügel und können doch fliegen.» Barberini habe sich, so Cigarini, zeit seines Lebens mit der Frage beschäftigt, unter welchen Bedingungen Kooperativen in der Marktwirtschaft überleben könnten.

Früher, zu Beginn der Genossenschaftsbewegung, lautete die Frage noch anders. Damals ging es weniger um die Konkurrenzfähigkeit gemeinwirtschaftlicher Ansätze und deren Überleben im Kapitalismus. Sondern um den Umbau der Gesellschaft und die Zukunft der Arbeiterklasse. Die Kooperativenbewegung habe den Zweck, «die Bevölkerung auf ein ökonomisches, intellektuelles und moralisches Niveau zu heben, um so die siegreiche Revolution vorzubereiten, ohne das Proletariat in ein Massaker und in die Niederlage zu führen», hiess es beispielsweise 1889 in der sozialistischen Zeitung «La Giustizia».

Aufbau am Po

Reform oder Revolution beziehungsweise Reform und Revolution – das waren damals die grossen Themen, und natürlich die Sicherung der Lebensgrundlagen. Innert weniger Jahrzehnte legte die Genossenschaftsbewegung einen beachtlichen Aufschwung hin; in Reggio Emilia, dieser Provinz zwischen Po und Apennin, betrat der vierte Stand mit Macht die Bühne. Die Landarbeiterinnen und Halbpächter – die anders als im italienischen Süden oder in der Region um Mailand nicht unmittelbar von den Grossgrundbesitzern abhängig waren, sondern auf nahe beieinanderliegenden Gehöften wirtschafteten und sich gegenseitig halfen – formierten sich zu einer sozialen und politischen Kraft. Sie gründeten Gewerkschaften, bauten gemeinsam Strassen, Bahnlinien und Dämme gegen die Hochwasser des Po, errichteten Volkshäuser mit Bibliotheken, Versammlungsräumen, Kleintheatern und Beizen und wählten Sozialisten wie den «La Giustizia»-Herausgeber Camillo Prampolini in die regionalen und nationalen Parlamente.

Noch heute ist der zentrale Altstadtplatz in der Provinzhauptstadt nach Prampolini benannt, der wie kaum ein anderer italienischer Politiker seiner Zeit das Konzept einer alternativen Ökonomie vorantrieb. Während seiner Zeit vergesellschaftete die Verwaltung der Stadt Reggio Emilia die Gas-, die Strom- und die Wasserversorgung; sie kommunalisierte Bäckereien und Schlachthöfe und gründete 1900 kommunale Apotheken, die nicht nur die Armen mit billigen Medikamenten versorgten, sondern auch selbst Arzneimittel herstellten. Noch heute erwirtschaften die Farmacie Comunali einen Überschuss, der städtischen Sozialprojekten zugute kommt.

GenossInnen und ihre Angestellten

In jener Zeit, als Genossenschaften wie Unieco und CCPL entstanden, die den Armen zu billigem Wohnraum verhalfen, schlossen sich in Reggiolo, einer Kleinstadt nordöstlich von Reggio Emilia, auch ein paar Maurer zur Cooperativa Muratori Reggiolo (CMR) zusammen. Von den früheren systemtransformierend-sozialistischen Zielen ist die 1907 gegründete CMR mittlerweile allerdings weit entfernt, wie Alberto Rebuzzi freimütig einräumt. «Natürlich halten wir an den genossenschaftlichen Grundsätzen fest», beteuert der gepflegte CMR-Präsident mit grauem Dreitagebart. Die rund 230 Kollektivmitglieder bestimmen auf der jährlichen Vollversammlung den Kurs der Genossenschaft, alle haben bei den Gremienwahlen eine Stimme (egal, wie hoch ihre Einlage ist), und «an den grossen politischen Generalstreiks nehmen selbstverständlich alle teil».

Aber das Geschäft habe sich im Laufe der letzten Jahrzehnte doch geändert. So arbeitet mittlerweile rund die Hälfte der Belegschaft im Büro. Die CMR, die unter anderem ein Kieswerk betreibt, ist zum Dienstleistungsunternehmen geworden, das für seine Bauprojekte wie Fabrikhallen, Shoppingcenter oder Wohnhäuser – je nach Bedarf – LeiharbeiterInnen von anderen Firmen einsetzt. Die werden zwar ordentlich bezahlt, gehören aber nicht der Kooperative an. «Wir organisieren und planen, transportieren den Baustoff, stellen die Kranführer und die Poliere», erläutert Rebuzzi. «Aber wir müssen auch auf unsere Kosten achten.» Die Konkurrenz ist gross. Und jetzt, «in der grössten Krise der Baubranche seit fünfzig Jahren, müssen wir darauf achten, dass die Arbeitsplätze unserer Mitglieder erhalten bleiben».

Ein bisschen ähnelte das CMR-Krisenkonzept dem Ansatz so manch anderer Kooperativen. Im Agrarsektor zum Beispiel gehören die meisten Kooperativen nicht den ArbeiterInnen, sondern den LieferantInnen: den Bauern und Winzerinnen. Die Weinbaugenossenschaft Riunite etwa, die in Campegine die weltweit grösste Lambrusco-Fabrik betreibt, ist im Besitz von 2600 Winzerfamilien; die 300 Arbeiterinnen und Önologen jedoch, die den Wein keltern, abfüllen, verpacken und ausliefern, sind nur angestellt. Die Kooperative habe durchweg demokratische Strukturen, beteuert Riunite-Präsident Corrado Casoli im geräumigen Sitzungszimmer der Kooperativenzentrale. Aber mitbestimmen können nicht alle, auch jene WeinbäuerInnen nicht, deren Keltereien die rasch expandierende Riunite (mittlerweile die grösste Weinexporteurin Italiens) in den letzten Jahren aufgekauft hat und als normale Firmen führt.

Von Ausbeutung könne jedoch keine Rede sein, versichert Casoli, ein smarter Vierzigjähriger, der selber kaum noch zum Winzern kommt. Aber hat es nicht auch schon Lohnkürzungen gegeben? Das sei nur der Fall gewesen, antwortet der Präsident, «wenn es auch den Winzern schlecht ging». Aber jetzt seien die Probleme bewältigt, denn «wir setzen auf Qualität».

Kinder und Alte

Das galt lange Zeit auch für die Baukooperative CMR. Im Unterschied zur Riunite hatte sie jedoch immer wieder über den Tellerrand hinausgeblickt – und den Anstoss zu neuen Genossenschaften gegeben: Als ein paar Kollektivmitglieder nach Beschäftigungsmöglichkeiten für ihre behinderten Kinder suchten, schuf CMR die Sozialkooperative Il Bettolino, in der mittlerweile fünfzig Beschäftigte mit psychischen und physischen Handicaps Basilikumpflanzen züchten. Und als ein Bauherr pleiteging, verkaufte CMR nicht etwa das für ihn fertiggestellte Altersheim, sondern gründete kurzerhand eine Genossenschaft, die den Betrieb übernahm.

Das Unterfangen war so erfolgreich, dass die inzwischen 400 Ärztinnen, Therapeuten, Köchinnen, Pfleger und Putzleute, allesamt GenossenschafterInnen, jetzt acht Heime führen, in denen sie sich um Alte und Kranke kümmern und ein Freizeitprogramm anbieten. Die Unterbringungskosten sind vergleichsweise gering, erläutert Tiziana Pè, Leiterin des Achtzig-Betten-Heims I Tulipani in Gonzaga, «und doch arbeitet unser Betrieb wirtschaftlich», vor allem «dank der grossen Motivation der Kollektivmitglieder». Deswegen seien die Wartelisten auch lang; eine Reihe der ehemaligen CMR-GenossenschafterInnen habe sich bereits angemeldet.

Ohne die zahlreichen Sozialkooperativen wären viele Menschen aufgeschmissen. Selbst im hintersten Winkel der Provinz, am Ende eines Tals, sorgt eine Kooperative dafür, dass ihr Bergdorf Succiso nicht ausstirbt. Hier, an den Abhängen des Apennin, betreiben die Mitglieder der Genossenschaft Valle dei Cavalieri eine Herberge, ein Besuchszentrum des Nationalparks Appennino, eine Landwirtschaft mit Schafzucht und Pecorino-Herstellung, ein Restaurant, einen kleinen Laden und einen Schulbus für die wenigen Kinder des Sechzig-Seelen-Orts. Sie helfen den zumeist betagten DorfbewohnerInnen beim Schneeschippen und bieten mit der Bar – in der sich im Winter nur ein paar Leute verlieren – einen sozialen Treffpunkt. Ohne das Projekt der 32 GenossenschafterInnen (viele von ihnen abgewanderte, junge DorfbewohnerInnen, die 3000 Euro Einlage zahlten) und das Engagement der hier arbeitenden Kooperativenmitglieder (Einheitslohn: 1000 Euro netto) wäre Succiso so tot wie viele andere Dörfer im Tal.

Das kleine Geldnetz …

An der Geldwirtschaft kommen jedoch auch erfolgreiche selbstverwaltete Projekte nicht vorbei. Wohin mit den Überschüssen und Rücklagen? Und woher die Kredite für krisenbedingte Durststrecken und Investitionen nehmen? Dafür gibt es gute Adressen: das grosse Consorzio Cooperativo Finanziario per lo Sviluppo (CCFS) und die kleine, durchweg basisdemokratisch strukturierte Finanzkooperative Mag6. Beide Finanzdienstleister sind genossenschaftlich organisiert, beide beziehen ihr Kapital ausschliesslich von Mitgliedern oder Mitgliedsorganisationen (und nur an diese vergeben sie Kredite), und beide behandeln alle AntragstellerInnen gleich, egal, wie gross sie sind, wie viel Geld sie eingelegt haben und wie hoch der gewünschte Kredit ist. Und doch gibt es Unterschiede.

Mag6 zum Beispiel, 1988 von dreissig Leuten gegründet, legt grossen Wert auf den zwischenmenschlichen Umgang. «Unser Geld ist nicht dazu da, Profit und neues Geld zu erzeugen», sagt Gründungsmitglied Luca Iori in der kleinen Bibliothek der Initiative: «Wir wollen Werte schaffen und haben daher beschlossen, dass wir von den Kreditnehmern keine Sicherheiten verlangen.» Vertrauensbürgschaft statt Vermögensbürgschaft. Sein früherer Chef habe ihn ausgelacht, erzählt der ehemalige Bankangestellte – aber im Unterschied zu den kommerziellen Geldhäusern, wo Kredite oftmals platzen, habe Mag6 seit Bestehen nur einen einzigen Ausfall verkraften müssen.

Das liege vor allem daran, erklärt Iori, dass der Verwaltungsrat der 1200 GenossenschafterInnen und die sechs Festangestellten mit den potenziellen KreditnehmerInnen zuerst eine persönliche Beziehung aufbauen. «Wir wollen sie kennenlernen und haben in den letzten Jahren den Wert der Langsamkeit entdeckt», sagt er. Zudem unterstütze Mag6 nur Projekte, «die keine finanziellen Interessen verfolgen, im Gegensatz zu vielen Grossgenossenschaften weitgehend hierarchiefrei sind, Selbstverwaltung und Transparenz respektieren und sich für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse aller einsetzen».

Das funktioniert offenbar. Mag6 hat das ganze, von Mitgliedern investierte Genossenschaftskapital (2,5 Millionen Euro) an 180 politische und kulturelle Initiativen verliehen. Und das, obwohl der Zinssatz – der nur von den Betriebskosten her bestimmt ist – momentan bei 8,5 Prozent liegt. «Viele Projekte müssten bei den Banken bis zu vierzehn Prozent zahlen oder würden gar nichts kriegen», sagt Iori. «Zudem beraten und coachen wir kostenlos.» Dieser Wissenstransfer sei nicht zu unterschätzen.

… und das grosse

Während Mag6 nicht weiterwachsen will und lieber ähnlich basisdemokratische Konzepte unterstützt, dreht das Kooperativenfinanzkonsortium für Entwicklung CCFS an einem ganz grossen Rad. Die Ursprünge des Finanzdienstleisters reichen weit zurück: Er war früher eine lokale Eisenbahngenossenschaft gewesen, die ab 1904 Schienen durch die Provinz legte und den Bahnbetrieb organisierte. Nach der Verstaatlichung aller Bahnen in den siebziger Jahren bauten hundert Genossenschaften im Jahr 1981 die alte Bahnkooperative in ein Finanzkonsortium um, das ihre Rücklagen verwaltet und im Bedarfsfall günstige Kredite bietet. Und das tut CCFS mit wachsendem Erfolg.

Präsident Ilio Patacini, der seit 1981 dabei ist, zählt im Konferenzsaal der neuen Zentrale an der Via Rochdale in Reggio die wichtigsten Fakten auf: CCFS ist der einzige Finanzdienstleister dieser Art in Italien. Den 1140 Mitgliedsgenossenschaften aus ganz Italien steht ein Gesamtkapital von über 800 Millionen Euro zur Verfügung. Da viele Geschäftsbanken das Konsortium (Eigenkapital: 29 Millionen) als verlässlichen Partner kennen, kann CCFS auf weitere 400 Millionen zugreifen. Die Differenz zwischen Spar- und Kreditzins lag vor der Krise bei einem Prozent; inzwischen aber ist es angestiegen: Derzeit (2012) bekommen die Kooperativen für ihr eingelegtes Geld 2,5 Prozent; wer Geld braucht, zahlt bis zu 6 Prozent. Spekulations- und Börsengeschäfte schliesst die CCFS-Satzung aus.

Vor allem aber, und das macht das Konsortium zu einer besonderen Einrichtung, «können wir vermitteln». Wenn eine Gemeinde etwa ein Schwimmbad bauen will, «akzeptiert sie vielleicht die Offerte eines Baukollektivs», sagt die frühere CCFS-Direktorin Simona Caselli, die 2011 die Präsidentschaft von Legacoop übernommen hat. «Aber wer betreibt das Bad? Wir kennen Genossenschaften, die solche Einrichtungen verwalten können. Und wir haben Kontakt zu Kooperativen, die Grünflächen pflegen oder das Catering besorgen könnten.»

Mit solchen Gesamtpaketen und mit Leasingofferten für Kooperativen, die ihrer Kundschaft die Finanzierung des jeweiligen Vorhabens erleichtern wollen, ist CCFS zu einer allseits anerkannten Instanz geworden. «Manchmal müssen unsere Mitglieder bei Bankgesprächen nur erwähnen, dass wir ihr Kreditbegehren unterstützen», erzählt Patacini und lächelt, «und schon bekommen sie Konditionen eingeräumt, die nicht einmal wir ihnen bieten könnten.»

Wo sonst haben Kooperativen einen solchen Einfluss? Wo sonst gibt es eine von Genossenschaften gegründete und finanzierte Solidaritätsinitiative wie die Genossenschaft Boorea, die an Schulen Unterrichtseinheiten organisiert, in denen SchülerInnen die Grundprinzipien kollektiven Wirtschaftens lernen? Die Frauenhäuser und antifaschistische Museen unterstützt, in Palästina drei Krankenhäuser subventioniert, im (natürlich ebenfalls genossenschaftlich verfassten) lokalen TV-Sender Telereggio jeden Samstagabend ein Programm gestaltet und – wie Boorea-Direktor Stefano Campani ergänzt – die musische Ausbildung von MigrantInnenkindern fördert?Und wo gibt es ein Netz, das ganze Kooperativen auffangen kann?

Die Wirtschaftskrise hat schliesslich die Bauarbeiterkooperative CMR doch noch schwer getroffen: Strategische Entscheidungen (fehlende Diversifizierung und Konzentration auf die Provinz Reggio) und eine millionenschwere Fehlinvestition (CMR plante vor den Toren der Stadt Reggio eine Neubausiedlung mit 1800 Wohneinheiten, die sich in der Krise aber kaum verkaufen liessen) führten die Kooperative in die Insolvenz – das Genossenschaftskapital deckte nicht mehr die Einlagen der GenossenschafterInnen.

Gerettet wurden CMR und deren Mitglieder von einer Gemeinschaftsaktion der vier grossen Kooperativen Tecton, Coopsette, Unieco und Par.co sowie von Legacoop, die insgesamt 25 Millionen zuschossen und die Rückzahlung des allergrössten Teils der Genossenschafter-Einlagen zusicherten. Dank ihrer Intervention kam es (bis Redaktionsschluss dieses Beitrags) in keinem der CMR-Arbeitsfelder zu Entlassungen. Natürlich gab es im genossenschaftlichen Umfeld auch Kritik an der bisherigen CMR-Politik: Vielleicht sei CMR einfach zu grosszügig gewesen – die Kooperative habe immer gute Löhne gezahlt, die Rechnungen der Lieferanten stets pünktlich beglichen und sich um anständige Sozialstandards bemüht. Trotzdem: Eine solche Rettungsaktion hat es in der italienischen Privatwirtschaft bisher nie gegeben. Auch deswegen könnte ein ehrgeiziger Plan der selbstbewussten GenossenschafterInnen von Reggio aufgehen: «In den nächsten Jahren», sagt die heutige Legacoop-Präsidentin Caselli, «wollen wir landesweit tausend neue Kooperativen gründen.» (pw)

PS (1): Die Reportage wurde Ende 2010 erstmals veröffentlicht. Alle Fakten wurden im Sommer 2012 für das Buch «Wirtschaft zum Glück» aktualisiert.

PS (2): Ende Oktober 2016 ist der Partisan und Genossenschaftsgründer Fernando Cavazzini im Alter von 93 Jahren gestorben. Mehr über ihn findet sich hier.