Britannien: Tony Benn (1925–2014)

Fünf Fragen an die Mächtigen

19. März 2014 | Erst erlag der klassenkämpferische Gewerkschafter Bob Crow einem Herzinfarkt, dann starb der grosse Labour-Politiker Tony Benn: Innerhalb einer Woche verlor die britische Linke zwei wichtige Repräsentanten.


«He encouraged us», er ermutigte uns – das solle einmal auf seinem Grabstein stehen, sagte er bei einem unserer letzten Gespräche. Und sonst nur sein Name: Tony Benn. Nun ist der grosse Vertreter der Labour-Linken, der Sozialist christlicher Prägung, der unentwegte Verfechter von Demokratie und der Interessen der Arbeiterklasse tot, gestorben im Alter von 88 Jahren. Kaum ein anderer Politiker hat im Laufe seines Lebens so viele Menschen erreicht und ihnen aus dem Herzen gesprochen, kein Labourabgeordneter wurde so oft ins Unterhaus gewählt, und am Schluss zollten ihm selbst seine vielen WidersacherInnen Respekt, weil er immer geradlinig geblieben war: für die Schwachen, für die Lohnabhängigen, für den Frieden.

Dabei hatte seine Karriere in der Oberschicht begonnen. Schon seine Grossväter waren im Parlament gesessen, sein Vater war Mitglied in zwei Labourkabinetten, und so begann der junge Anthony Wedgewood Benn standesgemäss ein Studium in Oxford, das vom Kriegsdienst in der Royal Air Force unterbrochen wurde. Von seiner Herkunft geprägt waren auch die folgenden Jahre: 1950 (im Alter von 25 Jahren) ins Unterhaus gewählt, gehörte er lange Zeit zum Mitte-rechts-Spektrum der Labourpartei und fiel in den fünfziger Jahren nur drei Mal auf – weil er sich als erster britischer Abgeordneter gegen die Apartheid wandte, dem Komitee gegen die Wasserstoffbombe beitrat und die Menschenrechte gesetzlich schützen wollte, ein damals unerhörtes Unterfangen.

Kampf gegen den Oberhaussitz

Radikalisiert wurde er aber erst nach dem Tod seines Vaters 1960, den Labour als Viscount Stansgate ins Oberhaus geschickt hatte. Tony Benn erbte den Adelstitel, mit dem er sein aktives und passives Wahlrecht verlor, und begann einen langen Kampf um sein Bürgerrecht. Erst drei Jahre und eine Gesetzesänderung später (sie war sein erster grosser Erfolg) sass er wieder im Unterhaus. Diese Auseinandersetzung, erläuterte Benn Jahrzehnte danach bei einem unserer Treffen, habe ihm gezeigt, «wie zutiefst undemokratisch die britische Monarchie ist».

Nach Labours Wahlsieg 1964 wurde er vom damaligen Premier Harold Wilson zum Postminister ernannt – und versuchte prompt, die Briefmarken vom Bild der Queen zu befreien. Von 1966 bis 1970 gehörte der brillante Redner als Technologieminister dem Kabinett an und wurde aufgrund seiner Intelligenz und Herkunft bereits als künftiger Premierminister gehandelt – bis er sich als Industrieminister (1974-1975) und Energieminister (1975-1979) auf die Seite von um ihre Existenz kämpfenden Belegschaften schlug, die Betriebe besetzten, sozial nützliche Produkte entwarfen und Kooperativen gründeten.

Tony Benn, sagte Wilson einmal, werde mit zunehmenden Alter «unreifer». Richtig an der Beobachtung ist: Je länger Benn als Minister amtierte, je genauer er Macht- und Marktmechanismen durchschaute, je heftiger er sich gegen Labours Mainstreampolitik wehrte, desto stärker rückte er nach links. Nicht nach linksaussen (die Gewerkschaftspartei Labour blieb seine politische Heimat), aber hin zu einem eigenen Verständnis von Menschlichkeit, Solidarität und Gerechtigkeit über das politisch jeweils gerade Mach- und Vorstellbare hinaus.

«Mehr Zeit für Politik»

Und er liess sich nicht dreinreden. Er flog gegen den Willen seiner KabinettskollegInnen nach Eindhoven und drohte dem CEO von Philips (erfolgreich) mit einem Boykott, sollte der Konzern seine Steuervermeidungspolitik nicht aufgeben. Er wetterte 1976 gegen das Hilfsgesuch der Labourregierung an den IWF, dessen Strukturreformen Margaret Thatcher 1979 den Weg ebneten. Er kandidierte 1981 für das Amt des stellvertretenden Parteivorsitzenden (und verlor nur knapp), entwarf ein radikal-alternatives Wirtschaftsprogramm (von dem heute noch viele albernerweise behaupten, es habe Labour 1983 den Wahlsieg gekostet), liess sich nicht zerreiben – und sprach auch offen über Fehler: seine Zustimmung 1969 zum Einsatz der britischen Armee in Nordirland oder seine einstige Befürwortung der Atomkraft.

Charismatisch, humorvoll und durchweg freundlich konnte Tony Benn auch Menschen ausserhalb des linken Spektrums erreichen, weil er es schaffte, Zusammenhänge auf den Punkt zu bringen: «Wenn wir Geld dafür aufbringen können, um Leute zu töten, können wir auch das Geld finden, um Menschen zu helfen.» Vielen BesucherInnen der WOZ-Veranstaltungsreihe Schöne Neue Weltordnung 1992 sind wahrscheinlich seine fünf Fragen in guter Erinnerung, die allen Mächtigen gestellt werden sollten: «Welche Macht hast du? Woher hast du sie? In wessen Interesse übst du sie aus? Wem bist du verantwortlich? Und wie können wir dich loswerden?»

Bis 2001 sass der leidenschaftliche Parlamentarier im Unterhaus, dann gab er seinen Wahlkreis auf, zerrieben vom Kontrollwahn der New-Labour-Führung um Tony Blair. «Ich dürfte gar nicht mit dir reden», sagte er, als ich ihn 1997 beim Wahlkampf in Chesterfield begleitet hatte: «Die Parteizentrale hat uns verboten, ohne ihre Zustimmung mit Journalisten zu sprechen.» Natürlich hielt er sich nicht daran. Benn, der früher «nur mit den Beinen voraus das Parlament verlassen wollte», genoss die Zeit nach 2001. Endlich sei er frei, endlich habe er «mehr Zeit für Politik». Und die nutzte er weidlich.

Der ewige Optimist

Er, der wie kein anderer Labourpolitiker auf der Seite der Bergarbeiter gestanden hatte, die vor dreissig Jahren ihren epochalen Kampf gegen Zechenstilllegungen und Thatchers Privatisierungsprogramm begannen, besuchte Streikposten, sprach auf Protestkundgebungen, redete alljährlich beim Glastonbury Festival (dem grössten Open-Air-Ereignis des Landes), nahm an Occupy teil, gab zahllose Radio- und TV-Interviews und veröffentlichte Bücher, Videos und CDs. Wenn er nicht unterwegs war, verbrachte er seine Zeit im Souterrain seines Hauses an der Holland Park Avenue, wo er – umgeben von Regalen und Aktenordnern – Tee aufbrühte, seine Pfeife ansteckte und BesucherInnen empfing. Jedes Interview, das er gab, nahm er auch selber auf, weil er beim Reden seine Gedanken ausfeilte und neue entwickelte. Aus seinen Notizen wurden zehn dickleibige Tagebücher, die zeigten, dass er, so die «Financial Times», der «beste politische Tagebuchschreiber unserer Zeit» war.

Auch viele seiner Gesetzesentwürfe entstanden in diesem Kellerbüro, darunter einer, von dem er an der Zürcher Veranstaltung 1992 berichtete: Es war die Verfassung eines offenen, solidarischen, demokratischen Europas. Benn war schon damals überzeugt, dass die zentralistische, allein dem Markt verschriebene EU einen nationalistischen Rückschlag hervorrufen würde. Was ihn immer antrieb – Benn amtierte bis zuletzt als Präsident der britischen Antikriegskoalition – war sein unverwüstlicher Optimismus, sein Glaube an das Gute im Menschen und an die Radikalität der einfachen Leute. Er war kein grosser Theoretiker, aber überzeugt davon, dass gesellschaftlicher Fortschritt nur durch kollektives Handeln entsteht. Das inspirierte viele. Zu seinen Veranstaltungen, die Benn vor seinem Schlaganfall 2012 im ganzen Land abhielt, strömten zunehmend junge Menschen, weil sie dort nicht den üblichen Politikersprech zu hören bekamen und auch keine persönlich abfälligen Bemerkungen (nicht einmal über Thatcher oder Blair) – sondern ermutigt wurden. Vielleicht steht ja demnächst der Satz tatsächlich auf seinem Grabstein. Passen würde er jedenfalls. (pw)



Bob Crow (1961-2014)

Er war der mit Abstand erfolgreichste britische Gewerkschaftsführer der letzten Jahrzehnte: Bob Crow, der am 11. März 2014 im Alter von nur 52 Jahren einem Herzinfarkt erlag, wurden von den PolitikerInnen gehasst, von den Medien verteufelt, von den Bossen abgelehnt – von den Mitgliedern der «Rail, Maritime and Transport»-Gewerkschaft RMT aber verehrt, sogar geliebt.

In den zwölf Jahren seit seinem Amtsantritt als Generalsekretär wuchs die RMT, in der auch Seeleute organisiert sind, schneller als jede andere britische Gewerkschaft (von 57.000 auf über 80.000 Mitglieder). Kein Wunder: Im Unterschied zu anderen Trade Unions verfügte die RMT noch über industrielle Power, die der konfliktbereite Crow zu nutzen wusste. Während andere Gewerkschaftsfunktionäre immer nur auf Verhandlungen und politische Einflussnahme setzten, scheute die RMT unter Crows Leitung nicht vor Arbeitsniederlegungen zurück, im Gegenteil. Die RMT-Miglieder gehören heute zu den wenigen ArbeiterInnen des Landes, die noch halbwegs anständig entlohnt werden.

Crow, der seien Fussballclub Millwall genauso liebte wie das Bier, stand stets auf Seiten der Basis, wenn diese in den Kampf ziehen wollte. Und das war oft der Fall. Praktisch immer lief irgendwo in Britannien eine RMT-Urabstimmung, bei der regelmässig zwischen 80 und 95 Prozent der Stimmberechtigten für Kampfmassnahmen votierten. Ausgestattet mit solchen Blankoschecks marschierte Crow dann in die Verhandlungen mit privaten BahnbetreiberInnen oder öffentlichen Verkehrsunternehmen, und konnte sich oft durchsetzen. Sein Verhandlungsgeschick war beträchtlich; zudem genoss der oft sehr rustikal daherkommende Crow bei den obersten ManagerInnen einen guten Ruf: Auf sein Wort war Verlass.

Auch politisch hielt sich der in Ostlondon aufgewachsene Gewerkschafter nicht zurück. Er gehörte zuerst der Kommunistischen Partei an, trat dann radikallinken Splittergruppen bei (darunter Arthur Scargills Socialist Labour Party), und war nur auf wenige Labour-PolitikerInnen gut zu sprechen, darunter Tony Benn. New Labour hingegen unter Tony Blair und Gordon Brown, die die Privatisierungspolitik der Konservativen fortsetzten, wurde vom RMT-Vorstand erbittert bekämpft. Und so machte es Crow wenig aus, als die RMT 2004 aus der Labour Partei flog (weil Gewerkschaftsgremien KandidatInnen einer sozialistischen Partei in Schottland unterstützt hatten).

Den letzten Erfolg errang Crow vor wenigen Wochen, als die RMT und die Angestelltengewerkschaft TSSA zwei Tage lang die Londoner U-Bahn bestreikten. Sie widersetzten sich damit erfolgreich den Plänen des städtischen Verkehrs-unternehmens Transport for London unter dem konservativen Oberbürgermeister Boris Johnson, das die Fahrkartenschalter der U-Bahn schliessen und tausend Stellen abbauen wollte. Mehr über Bob Crows basisorientiertes Gewerkschaftskonzept lesen Sie in den Beiträgen Die StreikexpertInnen und Mit angezogener Handbremse. (pw)