Eurozone: Protest von den Rändern

Widerstand gegen den Zuchtmeister

8. Januar 2015 | Derzeit erhalten die staatstragenden Parteien von Griechenland, Spanien und Irland die Quittung für ihre Austeritätspolitik. Kommt von dort nun die Revolte gegen die deutsche Dominanz?


Jetzt ist also wieder Panikmache angesagt: Die Eurozone schlittert in ihre nächste Krise, dem Kontinent droht der Kollaps, und Griechenland ist kaum noch zu retten – jedenfalls dann, wenn die griechische Bevölkerung bei der Parlamentswahl in rund zwei Wochen nicht die richtige Entscheidung treffen sollte. Ein «falsches Wahlergebnis», so warnte schon vor der griechischen Präsidentschaftswahl Ende Dezember EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, hätte für das Land und die Eurozone gravierende Folgen. Und nach der gescheiterten Wahl liess die deutsche Kanzlerin Angela Merkel verlauten, dass ein Erfolg des Linksbündnisses Syriza ein Ausscheiden Griechenlands aus der Währungsunion «nahezu unausweichlich» mache: Zum Austeritätskurs gebe es keine Alternative.

Woher diese Aufregung? Und worum geht es bei diesen Drohungen überhaupt? Besonders radikal gebärdet sich die griechische Koalition der Radikalen Linken (wie Syriza mit vollem Namen heisst) schon lange nicht mehr. Ihre Ziele sind weitaus weniger extrem als die gesellschaftlichen Zustände, die das Diktat der Troika von Europäischer Zentralbank (EZB), Internationalem Währungsfonds (IWF) und EU-Kommission in Griechenland geschaffen hat: JedeR zweite Jugendliche ist arbeitslos, vierzig Prozent der Bevölkerung leben in Armut, Zehntausende haben ihr Obdach verloren, Hunderttausende sind von der Stromversorgung abgeschnitten, zahllose Familien können nicht einmal die elementarsten Schutzimpfungen für ihre Kinder zahlen.

Gleichzeitig stieg die Staatsverschuldung von 120 Prozent der Wirtschaftsleistung auf 175 Prozent. Und das korrupte, von Klientelinteressen durchsetzte politische System der Elite ist so intakt wie eh und je.

Moderate Pläne

Diese vor allem von der deutschen Regierung vorangetriebene Kürzungspolitik will Syriza beenden – mit einem volkswirtschaftlich sinnvollen und eher pragmatischen Programm, das der Syriza-Vorsitzende Alexis Tsipras im September 2014 an der Internationalen Messe von Thessaloniki vorstellte: kostenlose Energie-, Lebensmittel- und Gesundheitsversorgung für alle Bedürftigen; Anhebung des Mindestlohns auf 751 Euro (im Monat) und eine bescheidene Rentenerhöhung; Rückkehr zu Tarifverträgen, Beschäftigtenschutz und Kündigungsregeln; Abbau der teilweise absurd hohen Besteuerung von Kleinunternehmen und GelegenheitsarbeiterInnen; öffentliche Investitionen (etwa im sozialen Wohnungsbau). Allein auf diese Weise – das denken nicht nur Syriza-nahe ÖkonomInnen – könne die Wirtschaft wieder auf die Beine kommen. Ein Teil der Bevölkerung sieht das genauso: Laut Umfragen liegt Syriza, schon bei der Europawahl 2014 stärkste politische Kraft, vor der konservativen Partei Nea Dimokratia von Ministerpräsident Andonis Samaras.

Finanziert werden sollen diese Pläne (geschätzte Kosten: zwölf Milliarden Euro) durch höhere Reichensteuern, eine effektive Bekämpfung von Steuerflucht und Steuervermeidung, eine Kürzung der Militärausgaben. Und durch eine substanzielle Befreiung von der Schuldenlast, die derzeit auf rund 320 Milliarden Euro beziffert wird. Im Unterschied zu früher will das grundsätzlich europafreundliche Linksbündnis im Fall eines Regierungsantritts jedoch keinen allumfassenden Schuldenschnitt aushandeln. Ziel ist ein Schuldenerlass in Höhe von rund fünfzig Prozent; der Rest soll je nach Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum zurückgezahlt werden.

IWF für Schuldenschnitt

All das ist weder besonders radikal noch antikapitalistisch. So befürwortete der IWF bereits 2010 eine weitgehende Entlastung Griechenlands. Damals hätte ein Schuldenschnitt vor allem die FinanzmarktspekulantInnen wie die Deutsche Bank getroffen, doch Berlin lehnte ab. Im Mai 2014 plädierte IWF-Chefin Christine Lagarde bei einem Treffen mit Merkel erneut für diese Lösung – ohne Erfolg. Warum also sollte eine Entschuldung nicht möglich sein, weshalb darf Griechenland nicht einmal bessere Modalitäten für den Schuldendienst aushandeln?

Dabei weiss man in Berlin durch vielfältige Kontakte zwischen Syriza-Delegierten und MinisteriumsvertreterInnen (Tsipras traf mindestens drei Mal Jörg Asmussen, früher EZB-Direktoriumsmitglied und heute Staatssekretär im Arbeitsministerium), dass Syrizas Wirtschaftspolitik im Kern sozialdemokratisch ist. Trotzdem droht die Kanzlerin, obwohl ein Ausschluss Griechenlands aus der Eurozone laut EU-Verträgen gar nicht möglich ist. Warum? Weil für die deutsche Regierung, dieses «Oberkommando der Euromacht» («taz»), eine Lockerung ihrer Kreditbedingungen und Kürzungsvorgaben nicht infrage kommt – und zwar nicht nur in Griechenland. Ihre Warnung richtet sich auch an Frankreich und Italien.

Und natürlich an Spanien.

Im Mai Ganemos, dann Podemos

Denn in Spanien zeichnen sich ähnliche politische Umwälzungen ab wie in Griechenland: Die rechtskonservative Volkspartei PP und die sozialdemokratische PSOE haben weitgehend abgewirtschaftet; allen Umfragen zufolge dürfte die vor knapp einem Jahr gegründete Partei Podemos bei der Parlamentswahl im November 2015 stärkste Kraft werden. Und nicht nur Podemos («Wir können es!») fordert das alte Establishment heraus: Bei den Kommunalwahlen im Mai treten in allen grösseren Städten lokale Bündnisse unter dem Namen Ganemos («Gewinnen wir!») zum Sturm auf die Rathäuser an; in Barcelona zum Beispiel hat eine Ganemos-Kandidatin gute Chancen, Oberbürgermeisterin zu werden.

Die Ganemos-Initiativen haben sich wie Podemos aus der sozialen Protestbewegung 15M entwickelt, die seit 2011 die Austeritätspolitik der Merkel-hörigen PP-Regierung bekämpft. Ihre Aktionen halten unvermindert an – laut Medienberichten kam es im vergangenen Jahr im Land zu rund 33.000 Demonstrationen, Kundgebungen, Protesten und Widerstandsmassnahmen gegen Zwangsräumungen von Familien, die aufgrund des Spardiktats zur Bankenrettung mit seinen Massenentlassungen, Lohn- und Rentenkürzungen ihre Hypotheken nicht mehr zahlen können.

Die Opposition der Strasse ist mittlerweile so stark, dass die Regierung vor kurzem ein «Gesetz zum Schutz der Bürger» verabschieden liess, das an die «Zeiten der Franco-Diktatur» erinnert (so die Vereinigung Richter für die Demokratie) und das Demonstrationsrecht faktisch abschafft. Künftig entscheiden nicht mehr Gerichte, sondern die Polizei, ob eine Kundgebung statthaft ist – und wie Verstösse bestraft werden. Wer prügelnde Polizisten fotografiert (und die Bilder danach verbreitet), zahlt 30.000 Euro. Demonstrationen vor Parlaments- und Regierungsgebäuden kosten 600.000 Euro. Die Strafe für das Verbrennen der spanischen Fahne: 30.000 Euro. Die tatsächliche oder vermeintliche Beschimpfung eines Polizisten (sein Wort gilt): 600 Euro. Insgesamt 45 Vergehen listet das Gesetz auf, und die Kriterien sind so schwammig formuliert, dass sich die Polizei jederzeit aus dem umfangreichen Katalog bedienen kann.

Noch schreckt das niemanden ab: Derzeit laufen vielerorts die Vorbereitungen für einen erneuten Marsch der Würde, der sich im März sternförmig auf Madrid zubewegen wird.

Irland und das Recht auf Wasser

Es ist dieser Basiswiderstand gegen die Austeritätspolitik, den die politischen Eliten in Berlin und Brüssel einzuschüchtern versuchen. Von Griechenland könnte der Funke der Hoffnung ja auf Spanien überspringen.

In Irland ist er schon angekommen. Jedenfalls durchläuft die Republik derzeit eine Protestwelle wie selten zuvor: Im November demonstrierten über 100.000 IrInnen überall auf der Insel gegen die Einführung einer Wasserabgabe, im Dezember versammelten sich rund 70.000 DemonstrantInnen vor dem Parlament, das die Polizei mit grossem Aufwand abschirmte. Offenbar befürchteten die Behörden – erstmals in der Geschichte der Republik – einen Sturm auf das Gebäude und die Ministerien.

Was die bisher so duldsame Bevölkerung auf die Strasse treibt, ist die Empörung darüber, dass ihr die Regierungsparteien auch nach Abzug der Troika Anfang 2014 in die Tasche greifen, um die Bankenrettung zu finanzieren; gleichzeitig schaffen sie mit der Abgabe die Voraussetzungen für eine Privatisierung der Wasserversorgung. Dazu hatte die Regierung 2013 die neue halbstaatliche Institution Irish Water geschaffen, die Ervia unterstellt ist, der früheren Gasbehörde Bord Gáis Éireann, die das Energiegeschäft mittlerweile an ein britisches Konsortium verkauft hat.

«Jetzt ist genug», sagen viele IrInnen, die die Lohn-, Renten- und Sozialkürzungsprogramme letzten Jahre nicht klaglos, aber eher mit der Faust in der Tasche hingenommen hatten. Die Wohnungsräumungen, die wachsenden Schlangen vor den Suppenküchen, die zunehmende Emigration der Jugendlichen, die um sich greifende soziale Kälte – alles hatten sie akzeptiert, weil sie sich ein bisschen mitschuldig fühlten: Hatten nicht auch sie an das Wirtschaftsmodell des Keltischen Tigers geglaubt? Liessen sie sich nicht unseriöse Kredite aufschwatzen? Wollten nicht alle vom Immobilienboom profitieren?

Diese Lähmung ist nun vorbei – auch weil die IrInnen seit dem Ende der Budgetaufsicht durch die Troika wieder das Gefühl haben, selbstständig agieren zu können. Die Regierungskoalition, bestehend aus der traditionell konservativen und wirtschaftsliberalen Fine Gael und der rechtssozialdemokratischen Labour-Partei, hat erst spät begriffen, welchen Sprengstoff die Einführung einer Wasserabgabe birgt. Überall in Europa müssten die Menschen für Trink- und Abwasser zahlen, argumentierte sie – warum also nicht in Irland? Zwischen 300 und 400 Euro pro Familie und Jahr seien doch nicht zu viel verlangt.

Als die BewohnerInnen des regenreichen Lands dennoch auf das ihnen traditionell zustehende Recht eines kostenlosen Bezugs pochten, krebste die Regierung zurück: Sie setze die Wasserabgabe erst auf 260 Euro an und kürzte den Betrag später um 100 Euro. Trotzdem hat nun die Bewegung «Right2water» (Recht auf Wasser), die auch von Gewerkschaften getragen wird, zu einem Boykott aufgerufen. Ihr Argument: Die Abgabe diene nicht sinnvollen Investitionen wie etwa der Sanierung von Wasser- und Abwasserleitungen, sondern käme direkt den Banken zugute, die der Staat weiterhin stützen muss. Oder anderen Interessengruppierungen. Hatten nicht Irish-Water-Chefs zugeben müssen, dass allein bei der Gründung der neuen Behörde fünfzig Millionen Euro in Beraterverträge geflossen seien? Wer profitiert?

Nach Regierungsangaben sollen sich bereits 800.000 der rund 1,5 Millionen Haushalte bei Irish Water registriert haben. Aktuellen Umfragen zufolge sind aber nur 48 Prozent der IrInnen bereit, die Abgabe zu zahlen. Gewonnen hat also noch niemand – ausser vielleicht der früheren IRA-Partei Sinn Féin. Diese vor allem in Arbeiterquartieren viel gewählte Organisation bewegt sich zwar seit Jahren in Richtung politische Mitte. Aber als sie vor kurzem in einem sicher geglaubten Wahlkreis bei einer Nachwahl gegen einen Right2water-Aktiivisten unterlag, schloss sie sich dem Protest an. Mittlerweile gilt sie als die Partei, die bei einer Parlamentswahl am meisten Stimmen auf sich vereinigen könnte. Ihr Anteil liegt – laut Umfragen – derzeit bei 28 Prozent; die beiden Regierungsparteien kommen zusammen nur auf 25. In Irland wird Anfang 2016 gewählt. (pw)