Kapital & Arbeit: Arbeitskonflikt um Grundrechte

Kampf ums Streikrecht

23. Oktober 2014 | Bei den Arbeitsniederlegungen im deutschen Schienen- und Luftverkehr geht es auch um Löhne, Arbeitszeit und Pensionsansprüche. Aber nicht in erster Linie.


Mitte vergangener Woche ein eintägiger Streik der LokführerInnen, danach ein Ausstand bei der Lufthansa-Tochter Germanwings, am Wochenende dann eine zweitägige Arbeitsniederlegung bei der staatseigenen Deutschen Bahn AG (DB) und ab Montag ein erneuter Streik der Lufthansa-Piloten: Wer derzeit in Deutschland unterwegs ist, muss sich auf manches gefasst machen. Denn die Arbeitskämpfe sind noch lange nicht vorbei. Die Unternehmen mauern, und die beiden Gewerkschaften – die Vereinigung Cockpit (VC) und die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) – können es sich gar nicht leisten, jetzt einfach nachzugeben. Es steht für sie zu viel auf dem Spiel.

Dabei wäre ein Kompromiss in der Sache nicht nur möglich, er wird wohl auch kommen. VC wehrt sich vor allem dagegen, dass Lufthansa die bisherige Übergangsversorgung von Pilotinnen und Co-Piloten einseitig abschaffen will; bisher konnten die Cockpit-Besatzungen von Lufthansa, Lufthansa-Cargo und Germanwings ab dem Alter von 55 Jahren in Frührente gehen. Das Management, so VC, wolle zudem die FlugkapitänInnen in mehrere Tarifgruppen aufteilen und schiebe bei Verhandlungen immer neue Forderungen nach.

Fünf Prozent und zwei Stunden

Auch bei der Bahn ist der eigentliche Tarifkonflikt eher simpler Natur: Die GDL, die achtzig Prozent aller DB-LokführerInnen vertritt, verlangt fünf Prozent mehr Lohn und eine Arbeitszeitverkürzung von zwei Wochenstunden. Angesichts der Tatsache, dass ein Lokführer nach 25 Dienstjahren ein Grundgehalt von knapp über 3000 Euro brutto bekommt und damit weniger verdient als ein Facharbeiter, und angesichts der unzähligen Überstunden, die das DB-Fahrpersonal schiebt, sind das moderate Ziele.

Doch es geht um weitaus mehr. Was die Arbeitskonflikte so kompliziert macht, sind das autoritäre Gebaren der Unternehmensführungen (Lufthansa wollte vier Mal die bisher sieben PilotInnen-Streiks gerichtlich verbieten lassen), aktuelle politische Auseinandersetzungen um die sogenannte Tarifeinheit und zwischengewerkschaftlicher Zwist. Denn GDL und VC sind Spartengewerkschaften, die nur einzelne, durchsetzungsfähige Berufsgruppen organisieren und damit das lange Zeit in Deutschland vorherrschende industriegewerkschaftliche Konzept unterlaufen: Eine Branche, eine Gewerkschaft, ein Tarifvertrag – das war bis in die neunziger Jahre hinein die Regel.

Gewerkschaft für den Börsengang

Das änderte sich mit der Zeit – auch aufgrund der strikt sozialpartnerschaftlichen Orientierung des Gewerkschaftsbunds DGB und der Lohnzurückhaltung seiner meist SPD-nahen Mitgliedsorganisationen. Dass es überhaupt eine separate Interessenvertretung der FluglotsInnen gibt, ist beispielsweise der grossen Dienstleistungsgewerkschaft Verdi zuzuschreiben, die ohne Zwang schlechtere Entgeltbedingungen für die Beschäftigten der Flugsicherheit akzeptierte.

Und ohne die geradezu devote Haltung der etatistischen Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG (früher Transnet) hätte die GDL nie so viele Mitglieder gewonnen. So war etwa der frühere Transnet-Vorsitzende Norbert Hansen, der 2008 die Seiten wechselte und als Arbeitsdirektor einen lukrativen Posten im DB-Vorstand übernahm, ein vehementer Befürworter der Bahnprivatisierung gewesen. Dass es dann doch nicht zum Börsengang der DB kam, ist übrigens nur zum Teil der Finanzmarktkrise ab 2008 zuzuschreiben: Auch die vielen GDL-Streiks 2007 zur Durchsetzung eines eigenen Arbeitsabkommens (und einer elfprozentigen Lohnerhöhung) hatten potenzielle InvestorInnen abgeschreckt. Zwischen der privatisierungskritischen GDL mit ihrem hemdsärmeligen Vorsitzenden Claus Weselsky und der EVG liegen Welten.

Gesetzentwurf mit weitreichenden Folgen

Kern des aktuellen Streits ist, dass nun die GDL auch die Interessen der ZugbegleiterInnen zu vertreten beansprucht; Bahnvorstand und EVG lehnen dies rundweg ab. Dabei ist die GDL-Forderung so abwegig nicht: Lokführerinnen und Kondukteure haben ähnliche Schichtpläne und leisten vergleichbar viel Überzeit. In einem Betrieb dürfe es nur einen Tarifvertrag geben, argumentieren hingegen Bahn-Management und die EVG-Spitze – und den müsse die grösste Organisation aushandeln. Diese Haltung vertritt auch die Politik. Auf Drängen von DGB und den Unternehmensverbänden will die Regierung unter Federführung von SPD-Arbeitsministerin Andrea Nahles demnächst ein Gesetz zur Tarifeinheit vorlegen, das den Alleinvertretungsanspruch der jeweils grössten Gewerkschaft vorsieht.

Damit aber wären den Spartengewerkschaften die Existenzgrundlage und sämtliche Kampfmittel entzogen: Laut derzeitiger Rechtsprechung darf in Deutschland nur zur Durchsetzung eines Tarifvertrags gestreikt werden. Das geplante Gesetz ist somit ein direkter Angriff auf die grundgesetzlich garantierte Koalitionsfreiheit und das Streikrecht. Dass es in vielen Branchen mehrere Tarifverträge gibt (mit besseren Bedingungen für schon länger Beschäftigte und mit deutlich schlechteren für NeueinsteigerInnen und Lohnabhängige in ausgegliederten Geschäftsbereichen), dass auch DB-Tochtergesellschaften separate Tarifverträge aushandeln – all das kümmert den DGB und die Regierung derzeit wenig.

Mittlerweile haben etliche grosse DGB-Gewerkschaften erkannt, dass die de-facto-Aushebelung des Streikrechts für die kleinen Organisationen auch sie treffen könnte, und sind auf Distanz zu Nahles' Entwurf gegangen. Doch die Arbeitsministerin interessiert das nicht. Das Vorhaben Tarifeinheit sei Bestandteil des Koalitionsvertrags, argumentiert sie. Und so wird sich wohl das Bundesverfassungsgericht mit dem geplanten gesetzlichen Zwang zur Tarifeinheit befassen müssen. (pw)