Kapital & Arbeit: Der Tellerrand in den Köpfen

Jacke und Hemd

27. April 2006 | Jeweils kurz vor dem 1. Mai entstauben die Gewerkschaften den Begriff «internationale Solidarität». Und lassen ihn kurz danach wieder in der Versenkung verschwinden. Wieso eigentlich?

In Frankreich hat ein breites Bündnis von Studierenden und Gewerkschaften mit Demonstrationen und Streiks die Abschaffung des Kündigungsschutzes für jüngere Beschäftigte verhindert. In Britannien zwang ein landesweiter Ausstand von über einer Million Gemeindebediensteter die Regierung zu Änderungen an ihrer Rentenreform. In den USA fordern Putzleute und LatinoarbeiterInnen immer lauter ihre Rechte. Im deutschen Service public widersetzen sich Zehntausende mit punktuellen Arbeitsniederlegungen der von den Landesregierungen geforderten Verlängerung der Wochenarbeitszeit. Und in der Schweiz haben die Gewerkschaften nach dem fünfwöchigen Kampf der Swissmetal-Beschäftigten in Reconvilier eine gemeinsame Lohnkampagne lanciert, die ohne Konflikte nicht abgehen wird.

Es bewegt sich also was auf internationaler Ebene. Die meisten Streiks sind zwar defensiv, weil das bereits Erkämpfte gegen das Kapital und den Staat verteidigt werden muss, aber immerhin: Die Beschäftigten lassen sich nicht alles gefallen. International jedoch, also grenzüberschreitend vernetzt, sind diese Kämpfe nicht.

120 Jahre nach dem Streik von 400.000 US-ArbeiterInnen für den Achtstundentag (der in Chicago blutig endete – vier unschuldige Arbeiter wurden später dafür gehenkt) und 117 Jahre, nachdem die Zweite Internationale in Paris den 1. Mai in Erinnerung an die Chicagoer Ereignisse zum «Internationalen Kampftag der Arbeiterklasse» ausgerufen hatte, sind die Organisationen der ArbeiterInnenbewegung immer noch lokal, regional oder national orientiert. Die internationale Solidarität wird zwar gross geschrieben, aber klein gehandelt.

Gewiss: Es gibt eine Reihe von Initiativen (auch in der Schweiz, in der die Gewerkschaften aufgeschlossener sind und offensiver auftreten als in vielen anderen europäischen Ländern), aber diese Projekte wie Solifonds und SAH konzentrieren sich auf die Solidarität mit den Ausgebeuteten in der Dritten Welt. Gemeinsame Aktionen mit den Lohnabhängigen jenseits der Grenze kommen jedoch auch hierzulande höchst selten vor.

Null Fortschritt in dreissig Jahren

Woran liegt dieser Mangel an internationaler Perspektive? Wie kommt es, dass sich beispielsweise die deutsche IG Metall – immerhin die grösste Industriegewerkschaft der Welt – jeder Zusammenarbeit ausserhalb der zahnlosen internationalen Gewerkschaftsföderationen verwehrt?

Anfang der siebziger Jahre hatten Liverpooler Ford-Arbeiter auf eigene Faust eine europaweite Versammlung einberufen, um zu verhindern, dass der Automulti die Belegschaften gegeneinander ausspielt. Die IG Metall schlug damals die Einladung aus, weil sie nicht von ihr ausgegangen war. Vor zwei Wochen versagte der Vorstand derselben Organisation einer Weltkonferenz von linken Daimler-Chrysler-Betriebsräten in Berlin jegliche Unterstützung. Fortschritt in über dreissig Jahren: null.

So geht das seit Jahrzehnten. Wer die Berichte von offiziellen wie inoffiziellen internationalen Seminaren, Tagungen, Delegiertenversammlungen oder Sozialforen liest, wird – wann und wo auch immer sie stattgefunden haben – stets auf den gleichen Satz stossen: «Ein Anfang wurde gemacht.» Die internationale Handlungssolidarität steht immer am Anfang. Seit über einem Jahrhundert.

Es gibt handfeste Gründe für dieses Defizit. Die nationalstaatlichen Unterschiede spielen eine grosse Rolle. Unterschiedliche Gesetze schränken den Handlungsspielraum der Gewerkschaften verschieden stark ein, die Tarifvertragsbestimmungen lauten jeweils anders, und unterschiedlich ausgeprägt sind auch die Kampftraditionen. Dazu kommen die Sprachbarrieren.

Das Standortdenken

Ausschlaggebend für die Tatsache, dass Gewerkschaften bestenfalls national auf global agierende Konzerne und transnational regierende Institutionen wie die EU reagieren, ist jedoch etwas anderes: der Blick nach innen und das Standortdenken.

Das Hemd ist mir näher als die Jacke, sagen die Beschäftigten und wehren sich für ihre Jobs und ihre Arbeitsbedingungen. Solange sie das tun, ist das in Ordnung; man kann sich schliesslich nur vor Ort widersetzen. Nur: Widerstand vor Ort allein genügt nicht immer, wie die Swissmetal-Arbeiter in Reconvilier erfahren haben. Solidarität lässt sich nicht einfach abrufen – nicht einmal unter den KollegInnen im selben Unternehmen. Denn auch die kümmern sich mehr um das Hemd als die Jacke und verlieren es vielleicht gerade deswegen. Über den betrieblichen (und nationalen) Tellerrand hinausblicken können nur die Gewerkschaften – und dazu sind sie da. Die ersten Trade Unions wurden vor über 150 Jahren gegründet, um die Konkurrenz der Lohnabhängigen aufzuheben.

Genau dies ist in Zeiten der Globalisierung wichtiger denn je. Einfach ist der Perspektivwechsel nicht. Er erfordert auch eine beharrliche Aufklärung und Informationsarbeit. Daran mangelt es. In Europa gibt es derzeit keine offizielle Gewerkschaftszeitung, die eine ernstzunehmende internationale Berichterstattung pflegt. «Verzichten kann ich auch alleine, dafür brauche ich keine Gewerkschaft», sagte kürzlich ein deutscher Arbeiter. In die Offensive (beispielsweise hin zu einer gesellschaftlich wie individuell sinnvollen Arbeitszeitverkürzung) kommen er und seine europäischen KollegInnen nur, wenn sich die Organisationen grenzübergreifend auf gemeinsame Ziele verständigen. Von solchen Ansätzen ist jedoch wenig zu sehen.

Nur in einem Sektor funktioniert die internationale Solidarität: Seit Jahrzehnten organisiert die Internationale Transportarbeiterföderation (ITF) weltweit Kampagnen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Seeleute und der Hafenarbeiter. Die ITF hat auch deshalb Erfolg, weil die Seefahrt schon vor über einem halben Jahrhundert globalisiert worden war. Und weil sie vor ihren globalen Aktionstagen, Streiks, Boykotts und Blockaden nicht zuerst die nationalen Einzelorganisationen anruft, sondern selbst in allen Häfen präsent ist und als internationale Gewerkschaft agiert. Von diesem Modell könnten wir GewerkschafterInnen durchaus lernen. (pw)