Kapital & Arbeit: Tarifverhandlungen im Service public

Sparen, bis niemand mehr rechnen kann

16. Januar 2003 | Der Tarifabschluss im öffentlichen Dienst ist schlechter, als er aussieht. Aber angesichts des rot-grünen-Sparkurses ganz passabel.


Wenn man Erfolge der einen Seite am Gejammer der Gegenseite misst, dann hat die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di bei den Lohnverhandlungen im öffentlichen Dienst einen mächtigen Sieg errungen. Den Verhandlungsführern beider Tarifparteien blieb am vergangenen Freitag kaum Zeit, das Ergebnis mitzuteilen – da brach auch schon ein Sturm der Entrüstung los.

Die Bürgermeister der Republik erklärten die Einigung – der mehrere Warnstreiks und ein Schlichtungsversuch vorausgegangen waren – unisono zur «Katastrophe», die unweigerlich zu weiterem Arbeitsplatzabbau und grösseren Einschnitten im Dienstleistungsangebot führen werde. Viele Gemeinden wollen den Tarifverband verlassen. Etliche Bundesländer haben angekündigt, dass sie dem Beispiel Berlins folgen werden, das noch vor Abschluss des neuen Vertrags aus der Tarifgemeinschaft von Bund, Ländern und Gemeinden ausgeschieden ist und nun eigene Verhandlungen führen wird.

Ausgerechnet die SPD-PDS-Koalition der Bundeshauptstadt will Kindergärtnerinnen, Müllmännern, BuschauffeurInnen sowie dem Personal von Krankenhäusern, Sozialämtern oder Friedhofsverwaltungen noch weniger zahlen – ein Ansinnen, das Ver.di, derzeit grösste Gewerkschaft der Welt, kaum hinnehmen kann. Nur der Verhandlungsführer des Bundes begrüsste den Abschluss. Dabei hatte SPD-Innenminister Otto Schily kurz zuvor noch jede Lohnerhöhung rundweg abgelehnt. Da aber in Niedersachsen und Hessen zwei wichtige Landtagswahlen anstehen und ein Streik im öffentlichen Dienst der SPD kaum dienlich gewesen wäre, lenkte er ein.

Der öffentliche Dienst hinkt hinterher

Ein Erfolg also für die Beschäftigten des öffentlichen Diensts? Wenn man das Ergebnis an der Forderung misst, kann davon keine Rede sein. «Mindestens eine Drei vor dem Komma» hatte die Tarifkommission von Ver.di verlangt; herausgekommen sind 2,4 Prozent im ersten und nochmals zweimal 1 Prozent im zweiten Jahr. Ausserdem müssen die Beschäftigten auf einen Ferientag und teilweise auf die üblichen Höherstufungen verzichten. Durchsetzen konnte Ver.di nur die schrittweise Anpassung der Löhne und Gehälter in Ostdeutschland. 2007, siebzehn Jahre nach der Vereinigung, werden die unteren Lohngruppen im Osten endlich das gleiche Geld erhalten (EmpfängerInnen höherer Gehälter müssen zwei Jahre länger warten).

Aber viel ist das nicht. Denn auch im Westen stiegen die Löhne im Service public während der letzten zwanzig Jahre um nominal gerade mal 57 Prozent, während sie in der Gesamtwirtschaft um 73 Prozent zunahmen. Jahrelang haben die Beschäftigten bei Bund, Ländern und Gemeinden Reallohneinbussen hinnehmen müssen, Krankenpfleger und Sekretärinnen verdienen auch mit dem neuen Vertrag kaum mehr als 1100 Euro netto. Einen Sieg kann man das nicht nennen.

Und doch scheint der Aufschrei vor allem der Kommunen berechtigt. Alle Gemeinden sind schwer verschuldet, viele Grossstädte praktisch bankrott. Im Osten haben sich praktisch alle Kommunalverwaltungen von westlichen Beratern teure Infrastrukturmassnahmen aufschwatzen lassen, neue Industriegebiete erschlossen (die niemand haben will) und Freizeitzentren eingerichtet (deren Nutzung niemand bezahlen kann). Aber auch im Westen steht den Stadtkämmerern das Wasser bis zum Hals. Selbst im reichen Südwesten werden Städte wie Freiburg demnächst Museen schliessen und Schwimmbäder trockenlegen; in Konstanz schnellten die Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr Ende 2001 um bis zu 24 Prozent nach oben. Überall müssen die BürgerInnen mehr für öffentliche Dienstleistungen zahlen.

Rot-grüne Steuerreform

Verantwortlich für die desolate Finanzlage sind neben der Wirtschaftsflaute die vielen Steuerreformen, die mit der Abschaffung der Vermögenssteuer 1997 durch die frühere CDU-FDP-Regierung begannen, im rot-grünen Steuergesetz 2000 einen vorläufigen Höhepunkt fanden und trotz leeren Kassen weiter betrieben werden. Nach einer Untersuchung der OECD, dem Klub der reichsten Staaten, machte bereits im Jahre 1999 der Anteil der Eigentumssteuern in Deutschland nur 0,9 Prozent des Bruttosozialprodukts aus (in Britannien waren es 3,9, in den USA 3,1 Prozent). Seither hat Berlin Unternehmen und Wohlhabende weiter entlastet.

Beispiel Gewerbesteuer: Seit Unternehmen die Möglichkeit zu langjährigem Verlustvortrag und Sonderabschreibungen haben und der Steuersatz allgemein gefallen ist, wächst die Finanznot der Gemeinden, denen diese Steuer zugute kommt. In den letzten beiden Jahren haben die Kommunen fünfzehn Milliarden Euro eingebüsst.

Beispiel Körperschaftssteuer: Bis zur Steuerreform 2000 mussten Unternehmen für einbehaltene Gewinne einen höheren Steuersatz zahlen als für ausgeschüttete. Mit der Reform sank der Ansatz, ausserdem durften die Unternehmen plötzlich rückwirkend agieren. So schütteten sie nachträglich Gewinne aus und kassierten auch noch Geld dafür. Während der Fiskus noch im Jahre 2001 23,6 Milliarden Euro Körperschaftssteuer einnahm, musste er 2002 fast eine halbe Milliarde an die Konzerne auszahlen.

Wären Vermögens-, Körperschafts- und Gewerbesteuern auf altem Niveau geblieben, könnten ihre Erträge jährlich rund vierzig Milliarden Euro zur Deckung der Gemeinkosten beitragen; mit dem Geld wären viele Probleme behoben. Dank rot-grüner Politik zahlen die grössten und reichsten Unternehmen aber null Cent. So finanzieren mittlerweile die Lohnabhängigen durch Lohn- und Mehrwertsteuern selbst die Strassenbeleuchtung vor den Zentralen jener Konzerne, die sie bei der nächsten Rationalisierungsrunde feuern. Die Aussenhandelsbilanz konnte 2002 übrigens weiter Zuwachs verzeichnen: Deutschland ist immer noch Exportweltmeister.

Reiches Land, armer Staat – und die Kluft wächst. Die Methode hat System. Wer sich vom öffentlichen Dienst nicht mehr versorgt fühlt, sucht nach Alternativen. Die preisen die Regierenden gerne an und loben den freien Markt. Derweil nimmt der Bildungsnotstand weiter zu. Laut Pisa-Studie liegen die Rechenleistungen der deutschen SchülerInnen schon heute deutlich unter Durchschnitt – irgendwann wird niemand mehr die Haushaltszahlen nachrechnen können. (pw)