Kapital & Arbeit: Schweizer Streikbrecher in Süddeutschland

Selectas Rache an der Belegschaft

25. Januar 2001 | Der Ausstand hat gewirkt: Das Schweizer Automatenunternehmen erhöht die Löhne. Und schliesst gleichzeitig die Filiale der Streikenden.


Sieben Wochen lang haben sie gestreikt, und sie hätten problemlos noch viel länger durchgehalten, denn die Stimmung war gut und die Solidarität lief gerade erst an – aber als die Firmenleitung nachgab und «einen Grossteil unserer Forderungen erfüllte», konnten sie schlecht Nein sagen. Und so votierten am Montag dieser Woche die neunzehn süddeutschen Beschäftigten des Schweizer Verpflegungsunternehmens Selecta einstimmig für ein Ende ihres Ausstands, den sie Anfang Dezember begonnen hatten.

Grund des Streiks war die Weigerung der deutschen Selecta-Tochter gewesen, mit den Beschäftigten ihrer Niederlassung Hilzingen (bei Singen am Hohentwiel) einen Tarifvertrag abzuschliessen und Lohnverhandlungen zu führen. Ab 1995 hatten die AutomatenbefüllerInnen das gleiche Entgelt erhalten (umgerechnet etwa zweitausend Franken netto), dafür aber zwei Wochenstunden länger arbeiten müssen. Jahrelang nahmen die Beschäftigten, welche die Snack- und Getränkeautomaten warten und auffüllen, die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen hin; als dann aber neu angestellte Kollegen noch miserabler entlohnt wurden, riss der Geduldsfaden.

Solidarität in Singen

Ihr Streik fand in der Region grosse Beachtung. Vor allem die Betriebsräte einiger Singener Grossunternehmen, die von Selecta versorgt werden, forderten ihre Werksleitungen auf, die Geschäftsbeziehungen mit dem Zuger Unternehmen abzubrechen. Aus der ganzen Bundesrepublik seien Solidaritätsbekundungen eingetroffen, sagt Karl-Heinz Müller von der Singener Geschäftsstelle der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG); die grosse IG Metall habe jetzt sogar sämtliche Bezirke aufgefordert, Selecta unter Druck zu setzen.

Auch in der Schweiz hat der Boykottaufruf der Streikenden immer mehr Beachtung gefunden. Die zunehmende Publizität des Konflikts verfehlte ihre Wirkung nicht: Mitte letzter Woche nahm die Geschäftsleitung der Selecta Deutschland GmbH Verhandlungen mit der NGG auf, und schon am Freitag waren sich beide Seiten einig: Selecta stimmt einer bundesweiten Vereinbarung zu (akzeptiert also einen Tarifvertrag), erhöht die Löhne ab 1. April um drei Prozent und zahlt eine Einmalprämie in Höhe von 400 Mark. Nutzniesser des Konflikts, so Müller, seien damit auch die übrigen 700 Beschäftigten der deutschen Selecta-Tochter, die am Arbeitskampf gar nicht beteiligt waren. Zumindest in der Lohnfrage hat sich der Widerstand der südbadischen Selecta-Belegschaft bezahlt gemacht – obwohl das Unternehmen (und das ist möglicherweise ein Novum in der süddeutschen Gewerkschaftsgeschichte) Streikbrecher aus der Schweiz einsetzte. Etwa ab Neujahr, sagt der Hilzinger Betriebsratsvorsitzende Siegfried Badent, seien in den Singener Grossbetrieben wie dem Aluminiumwerk von Alusuisse Schweizer Selecta-Beschäftigte aufgetaucht, um die Automaten zu füllen.

Selectas Retourkutsche: Stilllegung

Ganz ungetrübt ist die Freude der Streikenden allerdings nicht. Denn kurz nach Beginn des Ausstands hatte die Firmenleitung bekannt gegeben, dass sie die Niederlassung Hilzingen schliessen wolle – angeblich aus Kostengründen. «Dagegen können wir nichts unternehmen», sagt Badent: «Dem Gesetz nach kann jede Firma Betriebsteile stilllegen, egal ob sie Gewinne erwirtschaftet oder nicht – und Selecta macht Profit, das sagen die Manager selber.» Für den Betriebsratsvorsitzenden ist klar, dass der Konzern ganz gezielt vorgeht: «Die haben uns schon vor Streikbeginn gesagt, dass kein Stein auf dem anderen bleibe, wenn wir die Arbeit niederlegen.» Diese Drohung würde nun umgesetzt. Die Begründung der Selecta-Manager, Hilzingen habe seit Jahren nur Verluste eingefahren, lässt er nicht gelten: «Die Geschäftsleitung redet seit langem von einem Defizit, aber warum will sie ausgerechnet jetzt die Niederlassung zumachen?»

Der Singener NGG-Geschäftsführer Müller vermutet noch andere Motive. «Selecta gibt die Region ja nicht auf, sondern möchte hier weiter im Geschäft bleiben und die Kundschaft halten», sagt er. Deswegen biete das Unternehmen den Beschäftigten neue, mittelfristig aber wohl nachteilige Arbeitsverträge an, jedoch nur im Rahmen einer neuen Zuordnung – die Hilzinger sollen auf die Niederlassungen Kempten (im Allgäu) und Stuttgart verteilt werden. Der Trick dabei: Nach dem deutschen Betriebsverfassungsgesetz hat jede Betriebseinheit mit mehr als zwanzig Beschäftigten Anrecht auf einen Betriebsrat. In Hilzingen gibt es diese Interessenvertretung aber nicht (ausser den 19 Streikenden sind dort drei weitere Selecta- Beschäftigte angestellt). «Die wollen die Betriebsratsstruktur zerschlagen», sagt Müller.

Die Verhandlungen über den im Falle einer Betriebsschliessung gesetzlich vorgeschriebenen Interessenausgleich («Sozialplan») haben am Dienstag letzter Woche begonnen. Am nächsten Montag will der Hilzinger Betriebsrat – er ist bislang der einzige offiziell anerkannte Belegschaftsrat bei Selecta Deutschland – seine konkreten Forderungen auf den Tisch legen. Dass die lang gedienten Hilzinger (sie arbeiten im Schnitt seit zwanzig Jahren in dem Job und verfügen über beste Kundenkontakte) nebenbei mit grossem Interesse Stelleninserate lesen, ist angesichts ihrer Erfahrungen mit Selecta nicht weiter verwunderlich. Und dass Selectas Konkurrenten bessere Bedingungen bieten, eigentlich auch nicht. (pw)