Nordirland: Ein Rundgang durch Portadown

«Mehr Hass als in der Hölle»

1. Juli 1999 | Viermal hintereinander hat die Parade von Drumcree in Nordirland Unruhen ausgelöst. Mit dem Umzug 1999, der für nächstes Wochenende geplant ist, könnten die ProtestantInnen den Friedensprozess zum Teufel schicken.

Was, um Himmels willen, hat der liebe Herrgott bei diesen beiden Männern bloss angerichtet? Da sitzen sie ordentlich gekleidet und sauber gekämmt in einer Ecke des mit Segeltuch und Plastikfolie abgedichteten Verschlags und würden am liebsten im Boden versinken. Das Protestieren, so viel wird sofort klar, ist ihre Sache nicht. Verlegen gucken sie an die Bretterwand und ihre Antworten sind – sofern sie überhaupt reagieren – kaum hörbar. Welch dumpfe Schuld hat diese Seelen wohl in solche Demut getrieben? Oder trauen sie einfach dem Neuankömmling nicht? Vielleicht ist es ihnen aber auch gleich, was andere von dem Kampf halten, mit dem sie Nordirland gerade in die nächste grosse Krise stürzen. Und überhaupt: Wozu reden, da doch der Aufenthaltsort alles erklärt? Das Behelfszelt, über dem der Union Jack und die Ulster-Fahne mit der blutroten Hand flattern, steht an der Friedhofsmauer der Himmelfahrtskirche von Drumcree. Hier werden sie am nächsten Sonntag -– sofern nicht noch ein Wunder geschieht – den nordirischen Friedensprozess zum Teufel schicken.

Harold Gracey, dessen Wohnwagen hinter der Kirche steht, ist ebenso wortkarg. Man habe den Fremden genau beobachtet, um zu sehen, ob er sich von «denen da unten» hat «Lügen» erzählen lassen – mehr will er erst einmal nicht sagen. «Die da unten» sind die BewohnerInnen des katholischen Viertels an der Garvaghy Road, und in der Nähe wurden kürzlich zwei Katholikinnen umgebracht. Wer weiss, vielleicht sinnt die IRA schon auf Vergeltung. Auf der Hut müsse man derzeit sein, meint Gracey, der Grossmeister des protestantischen Oranier-Ordens von Portadown, und kommt plötzlich in Fahrt – die Terroristen hätten sich ja schon fast an die Regierung gebombt! Wo auf der Welt gibt es denn so was! Und dass alle durch die Garvaghy Road gehen dürften, nur er und seine Mitstreiter nicht, ist doch ein sicheres Zeichen dafür, dass finstere Mächte am Werke sind!

An diesem Nachmittag sind Gracey und die beiden Kirchgänger im Zelt die einzigen Posten vor Drumcree. Gegen Abend aber kommen die ersten Autos aus Portadown angefahren, später trifft eine Abordnung aus der Grafschaft Tyrone ein, und kurz nach acht haben sich rund zweihundert Männer und Jugendliche bei der Kirche versammelt. Manche tragen purpurfarbene Schärpen, andere haben ihren Bowlerhut aufgesetzt, dann spielen die Trommler und FlötistInnen der Oranier-Loge aus Tyrone das protestantische Triumphlied «Sash», Kirchenlieder und Marschgesänge folgen. Doch marschieren, das dürfen sie nicht. Zweihundert Meter weiter unten, am Fuss des Hügels, haben Polizisten die Strasse abgeriegelt. Hier gibt es kein Durchkommen, also bleiben die Demonstranten oben, reden und warten. Irgendwann gehen die ersten wieder nach Hause, auch die Delegation aus Tyrone fährt heim, kurz nach Mitternacht ist der 62 Jahre alte Harold Gracey wieder allein – aber nur bis zum nächsten Morgen.

In den letzten elf Monaten hat es über zweihundert Kundgebungen und Demonstrationen dieser Art gegeben, manchmal mit fünfzig, manchmal mit fünfhundert oder fünftausend TeilnehmerInnen. Und nicht immer enden sie so friedlich wie an diesem Tag – häufig kommt es zu kleineren Scharmützeln mit der Polizei (die doch eigentlich immer ihre Polizei gewesen war), ab und zu auch zu veritablen Strassenschlachten mit Steinen und Brandflaschen, Hartplastik-Geschossen und Knüppeleinsatz. Denn seit dem 5. Juli 1998 will der Oranier-Orden von Portadown endlich die Parade zu Ende marschieren, die vor einem Jahr von einem Grossaufgebot an Polizei und Armee abgebrochen worden war.

Freiheit oder Sklaverei

Seit vier Jahren stehen Drumcree und die Garvaghy Road im Zentrum der Aufmerksamkeit – die Verhältnisse in der nordirischen Kleinstadt Portadown sind zu einem wichtigen Gradmesser für das politische Klima in Nordirland geworden. Nirgendwo sind die Erschütterungen des protestantischen Gemüts genauer zu registrieren als in dieser Zitadelle des Protestantismus. Denn immer am Sonntag vor dem 12. Juli zogen Mitglieder des Oranier-Ordens von Portadown von Drumcree durch die Garvaghy Road, an der eine irisch-nationalistische Gemeinde lebt, ins Stadtzentrum von Portadown. Am 12. Juli selber feiern die UnionistInnen* den Sieg von Wilhelm von Oranien über die Truppen seines katholischen Konkurrenten Jakob II. in der Schlacht am Boyne 1690. Nur im letzten Jahr kamen sie nicht durch – und diese Schmach steckt tief. Vor dem Waffenstillstand der republikanischen und loyalistischen Paramilitärs hatten Konflikte um Märsche und andere Rituale nur eine untergeordnete Rolle gespielt; jetzt aber geht es um nicht weniger als «Freiheit oder Sklaverei», «Leben oder Tod». So jedenfalls drückt es der protestantische Kirchengründer und Politiker Ian Paisley aus, der jetzt bei der EU-Wahl wieder einmal die meisten Stimmen in Nordirland erhalten hat (und mehr als alle anderen unionistischen Kandidaten zusammen).

Die Garvaghy Road, durch die die ProtestantInnen unbedingt marschieren wollen, ist eine breite Strasse, viel zu breit für das bisschen Verkehr einer Kleinstadt. Die irische Trikolore, die an allen Laternenpfählen hängt, signalisiert, wer in den billigen Sozialbauten beidseits der Einfallstrasse wohnt. Rund 6000 KatholikInnen haben sich hier niedergelassen, die Hälfte der Erwerbsfähigen ohne Arbeit, eine Tankstelle gibt es, fünf Geschäfte, eine Pommes-frites-Bude, einen Friseur. Nur siebeneinhalb Minuten würde ihr Marsch durch diese 500 Meter lange Strasse dauern, sagt Harold Gracey. Siebeneinhalb Minuten pro Jahr – dagegen könne doch nur sein, wer ganz anderes im Schilde führe.

Sean Dunbar, 41 Jahre alt, Vater von drei Kindern und seit zwanzig Jahren arbeitslos, sieht das ganz anders. Er sitzt im winzigen Büro der Garvaghy Road Residents' Coalition im Gemeindezentrum der katholischen Quartierbevölkerung. Das Community Center ist von einem hohen Zaun umgeben und dient (je nachdem) als Kneipe, als Bingo-Halle, als Zentrum des Mietervereins und einer Behindertengruppe, als Treffpunkt der Jugendlichen. «Von wegen siebeneinhalb Minuten», sagt Sean Dunbar. «Auf jeden Protestanten, der hier durchmarschieren will, kommt ein Polizist. Und auf jeden Polizisten kommen zwei Soldaten. Das sind 4500 Sicherheitsleute, die schon am Abend zuvor alle Strassen und Hauseingänge abriegeln.» Mindestens einen Tag lang stünde das ganze Viertel unter Hausarrest. Anfang der neunziger Jahre hatten die BewohnerInnen der Garvaghy Road genug von dieser alljährlich wiederkehrenden Besetzug ihres Quartiers, sie hatten auch die Nase voll den Triumphmärschen der Oranier, die mit Pauken, Trommeln, Schmähgeschrei und obszönen Gesten die protestantische Überlegenheit hochleben liessen. Also protestierten sie, erst mit Gejohle, Pfeifen und Spruchbändern am Strassenrand, dann mit Sitzblockaden.

Trimble und der Killer

1995 blockierten sie die Strasse zum ersten Mal. Damals wusste die vorwiegend protestantische Polizei Nordirlands noch genau, was sie zu tun hatte, aber sie zögerte ein paar Tage; schliesslich hatte die IRA im Herbst zuvor einen Waffenstillstand erklärt, da wollte es die Regierung in London nicht sofort mit den Republikanern verderben. Ian Paisley war wie stets sofort zur Stelle, und auch der lokale Unterhausabgeordnete der Ulster Unionist Party (UUP), David Trimble, stritt so energisch für den Durchmarsch, dass später die Staatsanwaltschaft gegen ihn ermittelte. Als nach einem «Kompromiss» die ProtestantInnen mit Tschinderassabum marschieren konnten, schritten Paisley und Trimble Hand in Hand voran. Es war ein historischer Sieg für die Hardliner; kurz danach wurde Trimble zum Vorsitzenden der UUP gewählt. Und die Marschierer erhielten eine Verdienstmedaille.

Bei der zweiten Belagerung 1996 – Sean Dunbar und die BewohnerInnen der Garvaghy Road stellten sich erneut quer – war Trimble wieder präsent und traf sich nebenbei mit Billy Wright, dem Führer der neu gegründeten Loyalist Volunteer Force (LVF). Wright hatte am Tag zuvor, weil die konservative Regierung in London den Marsch untersagt hatte, einen katholischen Taxifahrer töten lassen. Fünf Tage lang standen sich tausende UnionistInnen und die Beamten der Royal Ulster Constabulary (RUC) gegenüber, dann gaben die Behörden nach. Überall in Nordirland hatte der Oranier-Orden zum offenen Widerstand aufgerufen: Aufgebrachte UnionistInnen blockierten Strassen, Häfen und den Flughafen von Belfast; selbst die Familien der RUC-Beamten wurden bedroht (die protestantischen Polizisten leben in einem protestantischen Umfeld). Schliesslich prügelte die RUC den Weg durch die Garvaghy Road frei. Darauf kam es in den katholischen Vierteln Nordirlands tagelang zu Unruhen.

1997, die Labour-Partei hatte gerade einen grossen Sieg errungen, dauerte die Belagerung nur ein paar Stunden lang - dann wurden die Oranier (für die BewohnerInnen der Garvaghy Road völlig überraschend) frühmorgens durch die Strasse geschleust. Er habe eine Entscheidung treffen müssen, entschuldigte sich später der neue Polizeichef Ronnie Flanagan, und sei zu der Schlussfolgerung gekommen, dass ein Durchmarsch der UnionistInnen weniger Unruhe bringen würde als eine Konfrontation bei Drumcree. In den folgenden Tagen versuchten republikanische Jugendlich (wie schon im Jahr zuvor), diese Einschätzung zu revidieren: Es kam in der ganzen Provinz zu heftigen Auseinandersetzungen mit vielen Verletzten.

1998 bahnte sich der nächste Konflikt an. Eine mittlerweile eingesetzte Kommission zur Genehmigung der Paraden hatte den Marsch von Drumcree durch die Garvaghy Road verboten, und die Staatsgewalt blieb standhaft. Der Oranier-Orden rief alle Mitglieder auf, nach Portadown zu kommen (zehntausend waren schon da), um die Polizeisperre zu durchbrechen, doch dann steckten Loyalisten im fernen Ballymoney ein Haus in Brand. Drei Buben der Familie Quinn kamen dabei um; die protestantischen Hilfstruppen des Oranier-Ordens von Portadown blieben daraufhin zu Hause, und nur Hardliner wie Harold Gracey schworen, den Protest fortzusetzen. Doch die Scham über den Anschlag dauerte nicht lange.

Eine feste Burg

Von Drumcree zum oberen Ende der Garvaghy Road sind es zu Fuss zwölf Minuten, von dort in die Stadt nochmals zehn. Unten, wo die Teppich-Fabrik steht (690 Beschäftigte, davon 90 katholisch), wird die Strasse enger und loyalistisches Territorium, bevor sie unter dem Autobahnzubringer und der Bahnlinie Belfast-Dublin hindurch ins Stadtzentrum führt. «Stadt» ist etwas übertrieben – 20 000 Menschen leben in Portadown – und auch das Wort «Zentrum» ist zu hoch gegriffen. Zwei Shopping-Center, ein riesiger Parkplatz, dahinter die Hauptstrasse mit Filialen der grossen Ladenketten. Dazu eine Kirche, deren Glocken die Melodie des Luther-Chorals «Eine feste Burg ist unser Gott» intonieren, und eine Baustelle an der Market Street. Die haben die örtlichen Handwerker der Continuity IRA zu verdanken, einer Abspaltung der IRA, die Anfang 1998 vier Häuser sprengte (die richtige IRA hatte 1993 an derselben Stelle mit dem gleichen Ergebnis gebombt). Interessanter an Portadown ist, was hier fehlt - an einem Sonntag zum Beispiel jedes Leben. Am Tag des Herrn steht die Stadt still. Alle Freizeiteinrichtungen haben geschlossen, der öffentliche Nahverkehr ruht, nur ein Inder steht in seiner Kebab-Bude. Am Sonntag geht man zum Gottesdienst und dann wieder heim.

Hundert Meter hinter der Kirche, an der Carleton Street, steht der ehrwürdige Backsteinbau der Orange Hall. Im lokalen Hauptquartier des Oranier-Ordens erläutert David Jones die Ziele seiner Vereinigung. In der Eingangshalle hängen alte Fahnen, das erste Zimmer links ist rundum mit Holz getäfelt, alte, abgewetzte Bänke säumen die Wände. Eine gerahmte Fotografie der Queen dominiert die Längsseite, darunter und viel kleiner die Fotos der Oranier, die dem Orden seit fünfzig Jahren und länger angehören. Den Fenstern gegenüber hängen das Porträt von Lord Mountbatten (dem ehemaligen Vizekönig von Indien, der 1979 von der IRA in die Luft gejagt worden war) und ein uralter Union Jack. Der Loge, die diesen Raum nutzt, gehören vor allem Ex-Soldaten an.

«Der Oranier-Orden wurde 1795 drei Meilen nördlich von Drumcree gegründet», beginnt David Jones seinen Geschichtsunterricht. Schon damals drohte Gefahr; die katholischen EinwohnerInnen Irlands erhoben sich gegen die protestantischen Siedler (die ihnen alle Rechte und das gute Land genommen hatten, aber das erzählt Jones nicht), welche daraufhin den Geheimbund gründeten; die «Loyal Orange Lodge Nr. 1» entstand hier in Portadown (inzwischen verzeichnet der Distrikt 32 Logen). Schon bald wurde der Orden neben der reformierten Kirche eine wichtige Stütze der Siedlergesellschaft, später kam die von Oraniern gegründete Unionistische Partei dazu.

Freiheit eines Christenmenschen

«Einfache Leute haben ihn gegründet, und zu diesen Wurzeln kehrt der Oranier-Orden nun zurück», sagt Jones. Im letzten Jahrhundert übernahm der Landadel das Kommando, später waren Fabrikanten und Politiker (alle nordirischen Premierminister gehörten ihm an) tonangebend. Die Logen – ihre Sitzungen beginnen immer mit einem Gebet und einem Bibelspruch – stärkten das Zusammengehörigkeitsgefühl; da sassen der Unternehmer neben dem Arbeiter, der Bürgermeister neben dem Knecht, der Arzt neben dem Handwerker. Und alle waren Brüder, bildeten eine Volksgemeinschaft und halfen einander, auch mit Jobs. Mit den Troubles und dem Niedergang der alten Industrie änderte sich dies, heute gehören dem 70.000 Mitglieder starken Orden vor allem Arbeiter an.

«Unser Grundprinzip ist die Durchsetzung bürgerlicher und religiöser Freiheit.» Auch die Freiheit der anderen? «Natürlich», sagt David Jones «wir sind keine antikatholische Organisationen. Niemand darf getötet werden, nur weil er Katholik ist.» Aber Kinder aus Mischehen und Männer mit katholischen Frauen werden nicht aufgenommen. Gegen David Trimble, den künftigen Premierminister, läuft ein Ausschlussverfahren, weil er letzten Juli der katholischen Trauerfeier für die Quinn-Buben beiwohnte. «Alle dürfen nach ihrer Fasson selig werden», sagt Jones. Freiheit müsse sein, aber ebendiese sei bedroht, wenn freie Menschen nicht mehr frei durch die Strassen ziehen dürfen. Schlimmer noch: Durch das Verbot des Umzugs im letzten Jahr habe der Staat die «illegale Proteste der Katholiken» legalisiert und die legale Parade verboten. Dagegen müsse man als freier Bürger doch rebellieren! Nirgendwo sind Grundrechte verhandelbar, und schon gar nicht in diesem Vorposten der Zivilisation, dem Geburtsort des Oranier-Ordens. Also haben die Oranier bis jetzt jeden Kompromiss abgelehnt.

Der Robert-Hamill-Tanz

Etwa achtzig Meter von der Carleton Orange Hall mündet die Thomas Street in die Market Street. Hier, mitten im Stadtzentrum von Portadown, wurde am 27. April 1997 der Katholik Robert Hamill zu Tode getreten. Der 25-jährige Vater zweier Kinder (seine Frau erwartete gerade das dritte) verliess kurz nach Mitternacht mit einem Freund und zwei Kusinen die nahe gelegene Disco; die vier warteten vergeblich auf ein Taxi, sahen dann den Polizeiwagen, der vierzig Meter entfernt parkte, glaubten sich also sicher, und beschlossen, die fünfhundert Meter bis hinter die Bahnlinie, wo katholisches Gebiet beginnt, zu Fuss zu gehen.

Da jedoch attackierte rund zwei Dutzend Loyalisten. Sie schlugen Hamill und seinen Freund nieder, traten mit Stiefeln auf sie ein und sprangen ihnen auf den Kopf. Erst dann schritten die Polizisten ein. Hamills Freund überlebte schwer verletzt, Robert starb nach einer Woche Koma. Ein paar Tage nach der Beerdigung sah Hamills Familie auf benachbartem, loyalistischem Gebiet eine gespenstische Aufführung. Jugendliche inszenierten auf offener Strasse einen Tanz, bei dem sie die Todestritte imitierten. Die AnwohnerInnen der Strasse standen dabei und klatschten. (Im März 1999 sprach ein Gericht den letzten Verdächtigen in dieser Sache mangels Beweisen frei; die Polizei habe bei ihren Ermittlungen eine «merkwürdige Ineffizienz» an den Tag gelegt, sagt der Richter.)

Ein Kilometer südöstlich dieser Tanzbühne liegt Rectory Park, ein in den siebziger Jahren errichtetes Sozialwohnungsquartier. Die rund 500 Häuser bilden das wohl schäbigste protestantische Viertel im ansonsten wohlhabenden Portadown. In Rectory Park haben loyalistische Sozialarbeiter in Eigenarbeit eine leere Wohnung zum Gemeindezentrum ausgebaut, und hier treffen sich auch an diesem Abend ein paar jener Bandmitglieder, die derzeit fast pausenlos durch Portadown ziehen und mindestens einmal die Woche vor Drumcree aufspielen. Judith, 14 Jahre, spielt Akkordeon bei «Star of David»; Stewart (16) und Gareth (17) trommeln bei «Portadown True Blues». Das tun sie natürlich nur der Musik wegen, sagen die drei. Würden sie auch bei einer katholischen Band spielen? «Nein, deren Musik gefällt uns nicht.» Warum nicht? «Die mögen uns nicht, und wir sie auch nicht.» Die Kids – Trainers, schlabbrige Hosen, Baseballmützen – schaffen es auch ganz ausgezeichnet, völlig gelangweilt am Tisch zu sitzen. «Ausserdem können die in Irland noch nicht einmal richtige Strassen bauen, so arm sind die.»

Immer noch im Krieg

Clifford Forbes, der Vater von Stewart, mischt sich ein. «Wir befinden uns immer noch im Krieg», sagt er. Und die Waffenruhe der IRA? «Wenn die eine Fraktion der IRA mit ihrer Waffenruhe nicht kriegt, was sie will, kriecht eine andere aus dem Unterholz und legt Bomben.» Forbes meidet derzeit die ™ffentlichkeit, da er immer noch mit dem loyalistischen Killer und LVF-Gründer Billy Wright in Verbindung gebracht wird, dessen rechte Hand er einmal war (Wright wurde Ende 1997 von Republikanern im Gefängnis erschossen). Er sei ja auch für einen Frieden, sagt er, aber nicht um jeden Preis. Eine raffinierte Strategie sei das: Belfast habe Mittlerweile einen katholischen Bürgermeister, an der Queen's University sei die Nationalhymne bei Promotionsfeiern abgeschafft worden, und nun käme auch noch die IRA an die Regierung. Das alles werde von Politikern gutgeheissen, die man eigentlich gewählt habe, um die Union mit Britannien zu verteidigen.

Die tiefe Verunsicherung ist auch Mark Proctor anzusehen, der gerade zur Tür hereinkommt. «Wir werden beiseitegefegt», sagt Proctor, der als Sozialarbeiter an der loyalistischen Shankill Road in Belfast tätig war, bis protestantische Paramilitärs, die das Friedensabkommen befürworten, den Kritiker des Verhandlungsprozesses von dort vertrieben. Jetzt lebt er im LVF-Land Portadown. «Die Katholiken sind ja so viel cleverer», sagt er, «die wissen, wie man einen Friedensfonds anzapft». Seit dem Karfreitagsabkommen investieren die Londoner und die Dubliner Regierung, die EU und die USA viel Geld für Gemeinschaftsprojekte. Die Katholiken, erläutert Proctor, würden Millionen abzocken, indem sie zum Beispiel Musikkapellen zu Gemeinschaftsprojekten deklarierten, nur weil ein Protestant mittrommle. «Wenn die den Behörden sagen, dass sie mit Unionisten ein Bier trinken gehen, spendieren die Beamten gleich eine Runde.» Die Protestanten hingegen seien einfach zu ehrlich, möglicherweise naiv, vielleicht sogar etwas einfältig. Hier der vertrottelte, aber ehrenwerte Arbeiter; dort das verschlagene Asozialenpack.

Rosemary, haha

Von Rectory Park zurück über Brownstown und wieder unter der Bahnlinie durch. In den letzten drei Jahren wurden in und um Portadown sieben Menschen getötet. 1996 erschoss die LVF den katholischen Taxifahrer Mike McGoldrick. Im Jahr danach starben Darren Murry und Robert Hamill. 1998 traf es Adrian Lamph und den Polizisten Frankie O'Reilly. 1999 wurden Rosemary Nelson und Elizabeth O'Neill zerfetzt. Elizabeth O'Neill (siehe WoZ Nr. 23/99) starb als eine Bombe in ihr Wohnzimmer geworfen wurde; sie war Protestantin, die einen Katholiken geheiratet hatte. In den letzten elf Monaten wurden in Portadown zwei Dutzend Familien aus loyalistischen Vierteln vertrieben. Seit den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien nennt man das hier «ethnische Säuberung».

Rosemary Nelsons Tod ging durch die Weltpresse. Die anerkannte Anwältin im benachbarten Lurgan vertrat unter anderem die Belange der Garvaghy Road-Leute (sie stritt auch für Sean Dunbar, dem 1996 Polizisten einen Arm zertrümmert hatten). Anfang März detonierte unter ihrem Wagen eine Bombe; die Vermutung, dass Polizisten die Finger im Spiel hatten, wollte sogar die RUC-Führung nicht ganz von der Hand weisen. Rosemary Nelson starb nicht sofort, die Bombe hatte ihre Beine weggerissen, sie verblutete auf dem Weg ins Krankenhaus. An einer Mauer in Portadowns Stadtpark hinter der Bahnlinie ist der Spruch zu lesen: «No legs Rosemary, haha!» - «Hier gibt es mehr Hass als in der Hölle», sagt eine Passantin.

Am oberen Ende der Obins Street – durch die die Oranier immer ziehen, um danach von Drumcree durch die Garvaghy Road zu marschieren – liegt die Drumcree High School, die katholische Mittelschule von Portadown. Seamus O'Neill, der Rektor der Schule, hat kein leichtes Amt. Die Hälfte der 700 SchülerInnen kommt aus ärmlichen Verhältnissen (Massstab dafür ist das Gratis-Mittagessen, das nur Kinder erhalten, deren beide Elternteile arbeitslos sind). Und die meisten der armen Kinder kommen aus der Garvaghy Road. «Sie fühlen sich als Menschen zweiter Klasse», sagt O'Neill, «und ich kann dem kaum widersprechen. Nimm den Hamill-Fall - wäre die Sache andersherum gewesen, hätte man alle Verdächtigen längst verurteilt.

Mangelndes Selbstwertgefühl sei das Hauptproblem seiner SchülerInnen, sagt O'Neill; dem käme die Schule dank zahlreicher Initiativen allmählich bei. Die «Glaswände» aber blieben: «Überall in Portadown stehen sie herum.» Hier oben im nationalistischen Quartier könnten die Jugendlichen einigermassen sicher leben, «aber es gibt eine Grenze». O'Neill zieht auf einem Blatt Papier eine Linie, die Portadown nördlich der Bahnlinie durchschneidet. Südlich dieser Linie «sind das Schimmbad, die städtische Bibliothek, das Arbeitsamt, das Freizeitzentrum, das Technische College. Dieses College hat bisher kein einziger unserer Schüler besucht.»

Die unsichtbaren Mauern beherrschen das Leben in Portadown. «Unsere Jugendlichen meiden eine Grenzüberschreitung, denn auf der anderen Seite könnten sie attackiert, belästigt, beleidigt oder bespuckt werden. Dort fühlen sie sich nicht wohl.» Ähnlich hat sich auch Sean Dunbar von der Garvaghy Road ausgedrückt, als er sagte, ausserhalb seines Quartiers käme er sich wie ein Leuchtturm vor: Immer sei der Kopf in Bewegung, nach links schauen, nach rechts schauen, nach hinten. Seamus O'Neill hat jetzt mit den Rektoren protestantischer Mittelschulen ein neues Projekt initiiert: Video-Konferenzen. Da können sich die Kids sehen und miteinander reden, ohne einander nahezutreten.

Von der Mittelschule hat man einen schönen Blick über Felder und Wiesen. Richtung Nordwest steht die Kirche von Drumcree. Dort kam es am vorletzten Wochenende wieder zu einer grösseren Auseinandersetzung: 8000 ProtestantInnen marschierten zur Garvaghy Road, dann flogen Brandflaschen, Feuerwerkskörper und Steine; elf Polizisten wurden verletzt. Zu ähnlichen Scharmützeln dürfte es beim Langen Marsch kommen, der am Donnerstag dieser Woche in Derry begann. Die Route wurde mit Bedacht gewählt – so kommen die DemonstrantInnen auch durch Greysteel (wo 1993 Loyalisten beim Überfall auf ein Pub sieben Katholiken erschossen), durch Ballymoney (wo die drei Quinn-Buben verbrannten) und durch Lurgan (wo Rosemary Nelson verblutete). Sie gestärkt durch zahlreiche örtliche Demonstrationen - am nächsten Sonntag in Portadown sein. Dann nämlich soll die Parade des Jahres 1999 stattfinden. Manche Oranier hoffen, dass sich hunderttausend Glaubensbrüder an der Polizeisperre unterhalb der Himmelfahrtskirche einfinden werden.

Dann könnten sie es schaffen. Aber einmal marschieren reicht nicht. «In '99 we do it twice», steht an der Kirche von Drumcree – 1999 ziehen sie zweimal durch die Garvaghy Road. Die Parade von 1998 müssen sie schliesslich immer noch zu Ende bringen. (pw)


* Die vorwiegend protestantischen UnionistInnen befürworten die Union mit Britannien, die vorwiegend katholischen NationalistInnen eine Vereinigung der irischen Nation. Militanter sind die Loyalisten (sie kämpfen gegen Dublin und die katholische Bedrohung) und die Republikaner (gegen die britische Präsenz in Irland).