Nordirland: Der Aufstand der loyalistischen Arbeitslosen

Furcht und Randale

10. Dezember 2012 | In den vergangenen Tagen sind in Nordirland mehrere Dutzend PolizistInnen durch Steinwürfe und Brandsätze verletzt worden. Woher kommt die Rebellion der einst staatstreuen ProtestantInnen?

Es geht auch um die Flagge, aber nicht nur darum. Seit Tagen protestieren pro-britische LoyalistInnen in ganz Nordirland gegen eine Entscheidung des Gemeinderats von Belfast – und ein Ende der Demonstrationen, Blockaden und Strassenschlachten ist nicht in Sicht. Am 3. Dezember hatte der vornehmlich irisch-katholische Rat beschlossen, die britische Fahne nicht mehr an 365 Tagen im Jahr über dem Rathaus wehen zu lassen, sondern nur noch an fünfzehn wichtigen Tagen. Damit folgte die Stadt dem Beispiel der nordirischen Versammlung, die über dem Regierungsgebäude Stormont ebenfalls nur an besonderen Tagen den Union Jack hisst. Doch kaum war der Beschluss gefällt, randalierten vor dem City Hall, dem Rathaus, 1500 LoyalistInnen.

An den Aktionen, die längst auch Derry und andere Städte Nordirlands erreicht haben, beteiligen sich fast ausschliesslich Menschen aus den protestantischen Armenvierteln. Ihre Barrikaden und Aufmärsche erinnern an die grossen Proteste in den achtziger Jahren, als die unionistische Bevölkerungsmehrheit unter Führung des Predigers Ian Paisley noch jede Annäherung an die Gegenseite – die nordirisch-katholischen NationalistInnen – vehement ablehnte. Das hat sich seit dem Karfreitagsabkommen 1998 zwar geändert: Es gibt inzwischen eine gemeinsame Regionalregierung, in der Paisleys Partei DUP und die frühere IRA-Partei Sinn Féin den Ton angeben. Aber die Angst vor einem Vereinigten Irland ist geblieben. Mit der Realität hat diese tiefsitzende Furcht allerdings nichts zu tun: Die Republik Irland ist ökonomisch dermassen angeschlagen, dass sie sich einen Anschluss des Nordens auch dann nicht leisten könnte, wenn sie ihn wollte.

Am Mittwoch vergangener Woche legte die irische Regierung ein neues Sparbudget vor, das sechste in Folge. Mit dem Programm in Höhe von 3,5 Milliarden Euro will die Regierung, die unter der Aufsicht der Troika von EU, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank steht, das Haushaltsdefizit von derzeit 8,2 Prozent auf 7,5 Prozent im Jahre 2013 drücken. Die Massnahmen treffen vor allem einkommensschwache Schichten: Es werden das Kindergeld und Leistungen des Gesundheitswesens gekürzt, gleichzeitig wird eine neue Grundsteuer eingeführt, die im Land der HausbesitzerInnen alle trifft. Schätzungen gehen davon aus, dass die kleinen Haushalte um 1000 Euro im Jahr stärker belastet werden. Man kann sich also ausrechnen, dass weder die Regierung der hochverschuldete Republik (offizielle Arbeitslosigkeit: fünfzehn Prozent) noch die Bevölkerung ein Interesse daran haben, die Kosten einer Annäherung an den Norden zu stemmen.

Auch die Tatsache, dass das Friedensabkommen den Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich zementiert hat, hat die protestantisch-loyalistische Basis bisher nicht beruhigt. Die klügeren Köpfe der protestantischen Paramilitärs sehen zwar, dass nicht sie den Krieg verloren haben (sondern die IRA), aber ihrer Gefolgschaft haben sie das bisher nicht vermitteln können. Zum Teil verfügen die Führungsleute von UDA und UVF auch nicht mehr über den Einfluss, den sie vor fünfzehn Jahren noch hatten, als ihre Todesschwadrone den irisch-katholischen Bevölkerungsteil in Angst und Schrecken versetzten.

Dass die protestantischen Armen wegen Nichtigkeiten wie das Einholen einer Fahne empört durch die Strassen ziehen, zeigt, wie gespalten die nordirische Gesellschaft immer noch ist. Der Hass hat trotz der politischen Verständigung auf parlamentarischer Ebene eher noch zugenommen; die Zahl der sogenannten Friedensmauern zwischen den Ghettos auf beiden Seiten wächst weiter; fast täglich kommt es zu kleineren oder grösseren Konflikten. Ein wesentlicher Faktor für die tiefe Verunsicherung ist die zunehmende Armut. Die protestantischen Dauerarbeitslosen sehen sich als VerliererInnen des Friedensprozesses, von dem vor allem die Mittelschichten profitierten. In ihren Quartieren liegt die Erwerbslosigkeit inzwischen so hoch wie in den katholischen Elendsvierteln: bei über fünfzig Prozent. Sie fühlen sich unerwünscht und bedrängt – und das sind sie auch. Denn die britische Regierung demontiert den Sozialstaat nicht nur in den ehemaligen Industriestädten von England und Schottland, sondern auch in Nordirland. Wenn die pro-britischen ProtestantInnen dann noch den Eindruck haben, die irisch-katholische Seite könnte die Oberhand gewinnen und der britische Staat ziehe sich zurück, dann ist die explosive Mischung angerührt. Dann kämpfen sie auch gegen eine Polizei, die über Jahrzehnte hinweg auf ihrer Seite stand. (pw)