Irlands Geschichte: Ken Loach über die erste Spaltung der IRA

«Imperien fallen am Ende immer»

28. September 2006 | In seinem neuen Film «The Wind That Shakes the Barley» schildert der britische Filmemacher den irischen Unabhängigkeitskampf. Ein Interview mit dem Regisseur.

In Ihrem neuen Film [ siehe Besprechung rechts] diskutieren IRA-Mitglieder erbittert darüber, ob sie den Guerillakampf bis zur politischen und sozialen Befreiung von ganz Irland fortführen sollen. Oder ob sie sich mit einem Waffenstillstand und der Teilung Irlands begnügen. Bereits in «Land and Freedom», Ihrem Film über den Spanischen Bürgerkrieg, streiten Antifaschisten über die Frage, ob die soziale Revolution auf später vertagt werden kann. Was fasziniert Sie an diesen Konflikten?

Ken Loach: In jenen Momenten der Geschichte, wenn alles möglich ist und alles anders werden könnte, tauchen stets dieselben Fragen auf. Zum Beispiel: Welche Gesellschaft können und wollen wir errichten? In Widerstandskämpfen wird es immer verschiedene Strömungen geben, die eine unterschiedliche Vorstellung von der neuen Gesellschaft und deren Wirtschaftsmodell haben. Und dann stellt sich die Frage nach der Führung. Im Spanischen Bürgerkrieg beanspruchte die Kommunistische Partei die führende Rolle für sich, in Irland waren es die Nationalisten. Diejenigen, die den Widerstand bekämpfen, werden immer versuchen, diese Differenzen zu nutzen. In Irland waren es die Briten, die jene Elemente in der irisch-republikanischen Bewegung unterstützten, von denen sie sich einen Schutz ihrer ökonomischen Interessen und ihrer Investitionen versprachen ...

... und sie boten den Waffenstillstand an.

Ja, mit ihm spalteten sie den irischen Widerstand und lieferten den einen die Waffen, mit denen sie dann die anderen abschlachteten. Das Ironische dabei ist, dass viele von denen, die dann die Drecksarbeit erledigten, höchst anständige Männer waren und ihre Entscheidung aus ehrenwerten Motiven heraus trafen. Und trotzdem haben sie den Briten die Arbeit abgenommen.

Beide Filme enden in einer Tragödie. Warum?

Wir können die Geschichte nicht umschreiben – so gern wir dies manchmal auch täten.

Aber Sie hätten sich für glorreichere Episoden entscheiden können.

Das ist richtig.

Warum also nicht?

Weil der Unabhängigkeitskrieg das Schlüsselereignis in der anglo-irischen Geschichte war. Er war der Höhepunkt eines jahrhundertelangen Kampfes; die Briten zogen ab, die Spaltung Irlands wurde besiegelt. In dieser Episode kamen die unterschiedlichen Positionen deutlicher zum Ausdruck als in anderen Phasen. Wir hätten die Unterschiede zwischen Sozialisten wie James Connolly und Nationalisten wie Pádraic Pearse auch am Beispiel des Osteraufstandes 1916 zeigen können, aber sie wären nicht so klar zutage getreten. Ausserdem haben tragisch endende Geschichten den Vorteil, dass sie dem Publikum die Verantwortung mitgeben, es nächstes Mal besser zu machen.

Aber warum haben Sie dann nicht gleich einen Film über die gegenwärtige Situation in Nordirland gedreht?

Man kann die aktuelle Lage in Nordirland nicht verstehen, wenn man nicht weiss, was in den zwanziger Jahren geschah. Denn damals begann das alles. Heute kämpfen sie immer noch um die Teilung. Es sind ja dieselben Fragen: Sollen Sinn Féin und die IRA ein Abkommen mit der britischen Regierung und eine Rolle in der Nordirland-Regierung akzeptieren – oder sollen die, die den nordirischen Staat jahrzehntelang für nicht reformierbar hielten, den Kampf fortsetzen. Nicht militärisch, aber politisch. Ein solcher Film wäre möglich gewesen. Aber es ist einfacher, die Vergangenheit darzustellen; die Konturen sind dann schärfer. Über die heutige Situation könnte man einen Dokumentarfilm drehen ...

... wie Ihren früheren Irlandfilm «Hidden Agenda» ...

Ja. Ich weiss, viele Republikaner sagen, dass ihnen der Waffenstillstand [von 1994] nichts gebracht hat.

Hat Sie die britische Reaktion auf Ihren neuen Film überrascht? Der «Independent on Sunday» nannte ihn Ihren «provokativsten Film seit langem».

Nun, das war ja noch freundlich formuliert. Andere haben mich mit Leni Riefenstahl verglichen. Und einer hat den Film auf eine Stufe mit Hitlers «Mein Kampf» gestellt. Die Reaktion war hysterisch. Mir wurde vorgeworfen, ich würde mein Land hassen. Dass mir die vielen roten Teppiche zu Kopf gestiegen seien.

Sie waren also nicht überrascht?

Die Reaktion war unausweichlich. Es gibt zwei Dinge, die für das britische Establishment einen hohen Stellenwert haben. Das eine ist die Vorstellung, dass das Britische Empire eine Wohlfahrtseinrichtung war, die auf der ganzen Welt nur Gutes getan hat. Wenn man zeigt, dass es auf Ausbeutung und Unterdrückung beruhte, gibt es wütende Reaktionen. Und das andere ist die Darstellung der irischen Verhältnisse: Danach bekämpfen sich in Irland zwei Bevölkerungsgruppen, und die Briten haben in ihrer Herzensgüte nichts anderes getan, als diese auseinanderzuhalten. Und wenn man sagt: Nein, verantwortlich dafür war von Anfang an Britannien, wird das nicht gerne gehört. Mir wurde vorgeworfen, ich sei antibritisch. Aber darum geht es nicht. Der gleiche Staat, der Truppen nach Irland schickte, hat auch Soldaten gegen die britischen Bergarbeiter eingesetzt und ist bereit, sie auf alle Arbeiter zu hetzen, die für ihre Rechte kämpfen. Es geht also um die Klassenfrage.

In Ihrer Dankesrede in Cannes haben Sie den Bogen geschlagen vom britischen Vorgehen in Nordirland zur britischen Präsenz im Irak ...

Ich habe den Irak nicht erwähnt. Ich habe nur gesagt: Wenn wir die Wahrheit über die Vergangenheit sagen, können wir vielleicht auch die Wahrheit über die Gegenwart sagen.

Aber alle haben verstanden, was Sie meinten.

Nun, es gibt immer noch den Imperialismus, und dieses Thema ist wichtig geblieben. Immerhin versuchen die USA ihre ökonomischen Interessen auf der ganzen Welt durchzusetzen. Aber Imperien werden bekämpft und fallen am Ende immer. Wenn wir wissen, wer welche Interessen verfolgt, sind wir eher in der Lage, den Gegner zu bekämpfen.

Gehen Sie davon aus, dass derzeit unter den vielen verschiedenen Fraktionen des irakischen Widerstandes ähnliche Debatten stattfinden wie die, die Sie in Ihren historischen Filmen zeigten?

Da bin ich mir sicher. Ich war zwar noch nie im Irak, aber alles, was ich darüber gelesen habe, deutet darauf hin, dass es dort auch Gewerkschafter gibt, die sich wehren, und eine säkulare Opposition. Uns aber wird das so dargestellt, als würden sich dort nur religiöse Fanatiker bekriegen – wie in Irland.

Kurz zu Ihren früheren Filmen: Ihr erster Film «Big Flame» von Anfang der siebziger Jahre schildert, wie Liverpooler Docker den Hafen übernehmen. Von damals bis zu Filmen wie «My Name is Joe» oder «Carla's Song» hat sich vieles verändert. Sind Sie im Lauf der Zeit pessimistischer geworden?

Nein. Aber das Bewusstsein hat sich verändert. Die Politik des Thatcher-Regimes hat die Idee der Solidarität und das Gefühl von Stärke, das die Arbeitenden früher hatten, untergraben. In den sechziger Jahren gab es noch die Vorstellung von einem kollektiven Miteinander. Dies ist schwächer geworden, und das muss ich berücksichtigen. Meine Filme haben aber immer noch einen politischen Rahmen.

Was ist Ihnen wichtiger: Die Welt zu zeigen, wie sie ist, oder sie so zu zeigen, dass das Publikum sie versteht?

Darin sehe ich keinen Widerspruch – wenn man beides richtig macht. Wenn man andeutet, dass es unter der Oberfläche der Erfahrungen, Erlebnisse und Ereignisse auch noch eine gesellschaftliche Struktur gibt. Ohne diesen Hinweis erscheinen Schicksale als unausweichlich. Ich versuche, diese Struktur zu zeigen, denn nur wer sie erkennt, kann die Verhältnisse verändern.

Verstehen Sie sich also als Didakt, als Lehrer?

Der Begriff Lehrer ist mir zu hochtrabend. Viel wichtiger ist, dass man Figuren hat, denen man selbst vertraut, die glaubhaft agieren und ihre Komödie oder ihre Tragödie auf eine Weise ausdrücken, die echt ist und berührt. Und die gleichzeitig das Publikum mit einem Rätsel, einer Frage oder einer Herausforderung zurücklassen.

Sie unterstützen die britische Antikriegsbewegung und sind Mitglied der sozialistischen Respect-Partei. Gibt es da nicht manchmal einen Konflikt zwischen dem politischen Aktivisten und dem Künstler Ken Loach?

Es könnte ihn geben. Aber Paul Laverty, dem Drehbuchautor, mit dem ich seit langem zusammenarbeite, und mir selbst ist dies sehr wohl bewusst. Es gibt Filme, die weitaus offenkundiger eine politische Botschaft vermitteln, als wir das je tun würden. Die von Michael Moore zum Beispiel oder, auf der anderen Seite, die US-amerikanischen Filme, in denen die «bad guys» Kommunisten sind oder Schwarze, die anonym bleiben und irgendwann sterben, ohne dass je eine Familie um sie trauern würde. Wenn man einen Film macht, der nur einen politischen Standpunkt zeigen soll, hat man verloren. Ein Film sollte politisch sein, aber die politische Haltung darf nie die Erzählung oder die Figuren diktieren. Sie müssen direkt aus dem Leben springen, mit allen Widersprüchlichkeiten.

Haben sich Ihre politischen Freunde nie darüber beschwert, dass Ihre Filme zeigen, wie brutal Sozialisten oder Unabhängigkeitskämpfer miteinander umspringen können?

Nein. Denn ich zeige ja, dass es jeweils auch Leute gab, zum Beispiel in Spanien oder Irland, die die Situation verstanden und richtig gehandelt haben. Das sind Momente der Hoffnung. Das sind Momente, in denen die progressive sozialistische Stimme klar vernehmbar war. Die meiste Zeit hört man sie ja nicht. Aber James Connolly und seine Anhänger und die revolutionären Sozialisten in Spanien haben eine stimmige, positive Bewegung hervorgebracht, mit der sich Menschen identifizieren können. (pw)





Ken Loach

Ken Loach, geboren 1936, ist der wohl bekannteste politische Filmregisseur Britanniens. Seine ersten Filme wie «Cathy Comes Home» (1966) und «Kes» (1969) erregten in Britannien grosses Aufsehen. Denn da hatte sich ein Filmemacher an so unspektakuläre Themen wie Arbeitslosigkeit, Armut und Obdachlosigkeit gewagt.

Seine präzise Schilderung sozialer Verhältnisse verschaffte ihm Aufträge bei der BBC, die dann aber die Filme oft wegsperrte, bis es politisch opportun war, sie zu zeigen. In seinen über vierzig TV-Produktionen und Filmen hat er an seinen Methoden – Improvisation, natürliche Dekors, chronologischer Dreh – festgehalten. Und in all den Filmen traten LaiendarstellerInnen auf, die ihre eigenen Erfahrungen mitbrachten. So sind im letzten Film fast nur IrInnen zu sehen, weil «das die Dialoge authentischer macht», so Loach. «Wenn jemand beispielsweise nicht politisch denkt, ist es sehr schwer, politische Dinge zu sagen. Dann klingen die Worte nicht echt.»

Derzeit arbeitet er an einem Film über osteuropäische ImmigrantInnen in Britannien. (pw)


Zum Film

Die meisten Filme von Ken Loach gehen unter die Haut, aber dieser geht buchstäblich unter die Fingernägel. «The Wind That Shakes the Barley» (Der Wind, der die Gerste schüttelt), für den Loach in Cannes die Goldene Palme gewann, schildert den Unabhängigkeitskampf, den die 1919 gegründete IRA (Irish Republican Army) bis zur Gründung des irischen Freistaats und der Teilung der Insel 1921 führte und der danach in einen Bürgerkrieg mündete, der Familien zerriss und Bruder gegen Bruder kämpfen liess.

Sein früherer Irlandfilm «Hidden Agenda» – der Politthriller zeigt das gnadenlose Vorgehen der britischen Armee und der Geheimdienste in Nordirland – wurde im Jahr 1990 ebenfalls in Cannes mit dem Preis der Jury ausgezeichnet. Ken Loach kennt sich also aus in diesem Thema.

County Cork, 1920. Damien (Cillian Murphy) ist auf dem Weg nach London, um dort in einem Krankenhaus eine Stelle als Arzt anzutreten, als er eine Gräueltat britischer Freischärler erlebt. Die Black and Tans, eine Söldnertruppe im Dienst der britischen Krone, überfallen die Farm von Peggy, der Grossmutter von nebenan, und schlagen den Enkel tot, weil der sich geweigert hatte, seinen Namen auf Englisch anzugeben.

Damien lässt seine Karriere fahren und schliesst sich einer IRA-Einheit an, zu der auch sein Bruder Teddy (Pádraic Delaney) gehört. Zusammen mit ihm und Dan (Liam Cunningham), einem Arbeiter aus den Slums von Dublin, zieht Damien in die Hügellandschaft Südirlands. Mit ihm ziehen Bauern, Landarbeiter und Arbeitslose, die, wie bei Ken Loach üblich, von Laienschauspielern verkörpert werden, die den Drehort und die Materie kennen.

Sie attackieren – miserabel ausgerüstet, aber überzeugt von ihrem Tun – britische Einheiten, werden geschnappt und gefoltert, enttarnen einen Verräter und kidnappen einen Grossgrundbesitzer, um inhaftierte Genossen freizupressen. Sie kämpfen mit der Unterstützung der Bevölkerung; sie töten, sie leiden und manchmal lachen sie auch, obwohl das, was sie tun oder glauben tun zu müssen, meist gar nicht lustig ist. Aber sie agieren als Kollektiv und gewinnen immer mehr an Boden.Doch kurz vor dem Sieg bricht ihre Einheit auseinander: Der Feind, das Britische Empire, bietet den irischen RebellInnen einen Waffenstillstand an.

Wenn sie ablehnen, will London die gesamte Macht des Imperiums mobilisieren. Die Führung der IRA und Teddy akzeptieren das Angebot («sonst war alles umsonst») und die damit verknüpfte Teilung des Landes in einen britisch dominierten Norden und einen Freistaat im Süden mit begrenzter Souveränität. Damien und Dan hingegen glauben weiterhin an die Vision des Sozialisten James Connolly: Es sei egal, ob die irische oder die britische Flagge wehe, hatte der Gewerkschafter geschrieben, bevor er von britischen Soldaten nach dem Osteraufstand 1916 exekutiert wurde: «Ohne sozialistische Revolution wird uns Britannien immer beherrschen.»

Teddy wird Offizier in der Armee des neuen Staates, und Damien kämpft weiter für eine neue Gesellschaft – und das geht nicht gut aus.

«The Wind That Shakes the Barley» schildert diesen Konflikt mit all der Unerbittlichkeit, Leidenschaft und Schärfe, wie man es von Ken Loach und seinem Drehbuchautor Paul Laverty gewohnt ist. Er entspricht den Fakten, wie ein früheres IRA-Mitglied – der inzwischen 104 Jahre alte Dan Keating – nach der Premiere des Films in Irland dem «Independent» bestätigte («die Freistaatler waren noch schlimmer als die Black and Tans»). Und er öffnet den Blick auf das, was später folgte: den langen Krieg der IRA im Norden. Kann politisches Kino besser sein? (pw)