Nordirland: Häuserkampf im heissen Sommer

Aufruhr als Freizeitspass

6. Juli 2000 | Wenn die OranierInnen von Portadown marschieren, bebt Nordirland. Während der jährlichen Kraftprobe bei Drumcree werden überall alte Rechnungen beglichen.

Die Zukunft liegt nur einen Steinwurf entfernt. Dort drüben, auf der anderen Strassenseite und hinter der hohen Mauer, stehen alle Wohnungen einer Häuserzeile leer. Sie bieten Raum für drei Dutzend Familien, und Raum brauchen sie hier, auf dieser Seite der Strasse, ganz dringend. Denn im irisch-nationalistischen Viertel New Lodge drängen sich die Leute, können Jugendliche nicht wegziehen vom Elternhaus, teilen sich mitunter zwei Familien eine Wohnung. New Lodge platzt aus allen Nähten. Drüben wäre Platz genug, aber drüben ist Tiger's Bay, ein protestantisches Quartier. Und in dieses Quartier würde Michael Byrnes freiwillig keinen Fuss setzen, geschweige denn da einziehen. Denn dort wohnen die «loyalistischen Hardliner».

Der 19-Jährige kann viel erzählen, während er durch sein Viertel führt. An den Sommer von 1996 erinnert sich Michael Byrnes noch genau: Damals wurden bei Unruhen in Nordbelfast innerhalb einer Woche über hundert Familien aus ihren Wohnungen vertrieben.

Zuerst waren es katholische Familien, bei denen Steine und Brandsätze in die Wohnungen flogen, danach traf es auch ProtestantInnen. Bei der kleinen Kirche von Drumcree standen sich – wie in diesen Tagen – wieder einmal Oranier und die Polizei gegenüber. Der protestantische Oranier-Orden wollte partout durch die katholische Garvaghy Road marschieren und fand überall, wo ProtestantInnen wohnen, Unterstützung. In Nordbelfast blockierten probritische LoyalistInnen Strassen, steckten Autos in Brand und zündeten zwei Schulen an (alles im Bemühen, möglichst viele Polizisten von Drumcree abzuziehen).

Die Auseinandersetzungen griffen schnell auf die heterogenen Grenzgebiete über, in denen Angehörige beider Bevölkerungsteile nebeneinander wohnen, und zogen sich bis Ende September hin. «Es war ein schlimmes Jahr», sagt Byrnes, der noch vor Augen hat, wie an einem Samstagmorgen der Zeitungsladen nebenan in Flammen aufging. Drei Mann waren aus Tiger's Bay aufgetaucht, das direkt gegenüberliegt, kurz über die Strasse gerannt; sie schütteten Benzin in den Laden, warfen ein Streichholz hinterher und verschwanden Sekunden später wieder in Tiger's Bay. Der Besitzer überlebte schwer verwundet. So einfach ist das hier. Byrnes, der ab und zu das Sinn-Féin-Büro von New Lodge hütet, hat viele solcher Geschichten auf Lager, und nicht alle stammen aus der fernen Vergangenheit. Das Eckhaus dort drüben sei beispielsweise erst vorletzte Woche angezündet worden, sagt er, eine alte Frau habe den Anschlag nur mit viel Glück überstanden.

Der Flickenteppich

Im Sommer 1996 wurden viele alte Rechnungen beglichen und neue aufgemacht. Das geht in Nordbelfast besonders einfach, denn nirgendwo in Nordirland leben die Armen und Ausgegrenzten beider Gemeinschaften so dicht nebeneinander. Die nördlichen Stadtteile der nordirischen Hauptstadt gleichen einem Flickenteppich, dessen Flecken sich durch demografischen Wandel ständig verschieben. In einigen Bezirken liegen protestantische Enklaven in katholischen Wohngebieten, die ihrerseits von protestantischen Siedlungen umschlossen sind.

Zwölf der insgesamt siebzehn nordirischen Grenzzäune und Schutzmauern – «Friedenslinien» genannt – ziehen sich durch Nordbelfast. Und anders als in Westbelfast, wo eine vergleichsweise gerade «Friedenslinie» die Viertel entlang der Falls Road von jenen an der Shankill Road trennt, verlaufen die Mauern hier im Zickzack – wie die Ränder einer Wunde. Drei der Mauern wurden nach den Waffenstillstandserklärungen im Jahre 1994 gebaut, eine entstand nach dem Karfreitagsabkommen von 1998. Fast ein Fünftel aller während der «Troubles» getöteten Menschen kamen in einem Umkreis von drei Kilometern um.

Das katholische Quartier New Lodge – es liegt nur einen Kilometer vom Stadtzentrum entfernt – war nicht immer ein rein nationalistisches Wohngebiet gewesen. Hier lebten einmal die (vorwiegend protestantischen) Arbeiter der grossen Tabakfabriken, der Werften und der Docks, bis die Betriebe ihre Leute massenhaft auf die Strasse setzten. So manche protestantische Familie zog weg, KatholikInnen rückten nach. Die Verschiebung ist besonders gut an den ehemaligen Kirchen abzulesen, die Michael Byrnes beim Rundgang durch sein Viertel zeigt – eine protestantische Kirche dient mittlerweile einer gälischen Sprachschule, eine andere beherbergt ein Möbellager.

Besonderes Kennzeichen von New Lodge aber sind die Mauern, die an manchen Stellen auch Wohnstrassen durchschneiden. Zum Teil wurden sie auf Drängen der katholischen Bevölkerung errichtet, die sich so mehr Schutz vor loyalistischen Überfällen erhofft; zum Teil entstanden sie auf Wunsch der protestantischen Nachbarn, die sich ebenfalls nicht sicher fühlen.

Während Michael Byrnes zur Stelle führt, an der an einem einzigen Abend im Jahre 1973 sechs Menschen kurz nacheinander erschossen wurden (zwei von loyalistischen Paramilitärs, vier von der britischen Armee), warten Jugendliche in einer Nebenstrasse auf unterhaltsamere Zeiten. Von hier aus sind es nur ein paar Schritte bis Duncairn Gardens, einer langen Strasse, die als Puffer zwischen New Lodge und Tiger's Bay dient. Wer weiss, vielleicht lassen sich ja am Eingang von Tiger's Bay ein paar Leute blicken, die man mit Steinen bewerfen kann. Es ist Sommer, und an Sommerabenden kommt es zwischen den Kids von New Lodge und Tiger's Bay, Ardoyne (katholisch) und Torrens (protestantisch), Whitewell (katholisch) und White City (protestantisch) mit schöner Regelmässigkeit zu Scharmützeln, die sich oft zu grösseren Auseinandersetzungen auswachsen.

Diese täglichen Reibereien, eine Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln, sind Ausdruck eines tiefen Unbehagens. «Wir werden weiter diskriminiert», sagt Michael Byrnes. «Bei uns müssen kinderreiche Familien jahrelang auf eine Wohnung warten, dort drüben aber bekommen sogar Alleinstehende sofort eine geräumige Wohnung.» Das kommt einem bekannt vor: Die Diskriminierung bei der Wohnungsvergabe hatte in den sechziger Jahren die nordirische Bürgerrechtsbewegung in Gang gesetzt, deren Niederschlagung den bewaffneten Konflikt auslöste. Doch heute sind die Verhältnisse etwas komplizierter.

Die andere Sicht

«Schau doch mal, was die mit uns machen.» Auch Michael Atcheson zeigt eine Welt, die von Mauern umgeben ist. Früher sei Tiger's Bay ein lebendiges Viertel gewesen, sechshundert Familien lebten hier. Dann kam die Slumsanierung. Anstelle der alten Reihenhäuser ohne Innentoilette und Bad wurden 250 neue Häuser und etliche Fabrikhallen errichtet. Eine «ökonomische Friedenslinie», wie sie das hier nennen, mit einem kleinen Schönheitsfehler allerdings: Die Fabriken stehen seit ihrem Bau vor vier Jahren leer.

Die protestantische Enklave Torrens bietet ein ähnliches Bild. Auch hier sind über die Hälfte aller Erwerbsfähigen ohne Job, auch hier haben die Bagger der Slumsanierer die Bevölkerungszahl reduziert, auch hier ist jedes dritte Haus verbarrikadiert. Ein brandneues Slum im wörtlichen Sinn, denn Häuser brennen öfters: Manchmal zünden EinwohnerInnen auch die eigene Wohnung an in der Hoffnung, dass ihnen die Behörden eine neue Unterkunft anderswo zuweisen.

Die Stadtplaner haben ihrerseits einen erheblichen Anteil am Niedergang: Bei der Sanierung wurden soziale Einrichtungen schlichtweg vergessen oder aus Kostengründen nicht in Betracht gezogen. Es gibt kein Gemeinschaftszentrum hier, kein Postamt, keinen Jugendclub, keinen Laden, kein Pub; nicht mal ein Chippie, ein Fish-and-Chip-Imbiss, ist vorhanden. Nur viele zugemauerte Bauten und jede Menge Schutt, auf dem ein paar Kinder spielen. Wahrscheinlich warten auch sie auf den Abend, um mit älteren Jugendlichen zum «interface», zur Schnittstelle zwischen protestantischem und katholischem Wohngebiet, zu pilgern. Was dort passiert, nennen die Leute hier «recreational riots», Aufruhr als Freizeitspass. Mehr gibt es hier auch nicht zu tun.

«Unsere Gemeinschaft stirbt», sagt Michael Atcheson. Für den langsamen Tod spielten viele Faktoren eine Rolle: Leute suchten sich anderswo Jobs oder bessere Wohnungen, ausserdem sei es verdammt hart, in einer Gegend zu leben, in der während fünf langer Sommermonate Fensterscheiben eingeschmissen und Autos angezündet werden. Entscheidend aber sei eine geheime Absicht der Regierung, in der inzwischen ja die IRA-nahe Partei Sinn Féin sitzt: Diese Regierung vernachlässige – davon sind viele ProtestantInnen überzeugt – ihre Gebiete so lange, bis sie der sich schnell vermehrenden katholischen Bevölkerung Platz machen. Es gibt keinen Beleg für diesen Verdacht (der Wohnungsbau ist fest in unionistischer Hand), aber wer braucht schon Belege, wenn die Wahrnehmung Bände spricht? Die Abwanderung vieler ProtestantInnen aus den zentrumsnahen Vierteln in die grossen protestantischen Ghettos weiter im Norden, nach Rathcoole, Monkstown und Carrick, ist Nachweis genug.

Ab ins Meer?

Die Furcht der ProtestantInnen vor der wachsenden katholischen Bevölkerung («die brüten uns hinweg», sagt man in Tiger's Bay) hat mit den Regierungskrisen der letzten Monate weiter zugenommen. «Uns wurde doch nie was erklärt», sagt Michael Atcheson, der früher einer paramilitärischen Organisation angehörte und elf Jahre im Gefängnis sass.

Niemand in Tiger's Bay oder Torrens habe das Karfreitagsabkommen verstanden. «Uns haben die Politiker nur gesagt, dass es Frieden bedeute, dass die Paramilitärs entwaffnet würden, dass sich der Süden nicht mehr einmische und dass wir künftig kooperieren würden.» Aber dazu sei es ja nicht gekommen. Die Paramilitärs hätten noch immer ihre Waffen, die irische Republik verfüge über mehr Mitspracherecht als je zuvor, und Kooperation – nun, «kann man das Kooperation nennen, wenn man uns hier weghaben will, wenn man uns ins Meer stossen will?» Er selber habe 1998 für eine Zustimmung zum Karfreitagsabkommen geworben, sagt Atcheson, aber heute würde er das kaum wieder tun: «Wir haben denen die Hand gereicht, und die haben hineingebissen.»

Zwei Jahre lang beteiligte sich Atcheson am Nordbelfaster Mobilfunk-Netz. Über dieses Netz können sich im Bedarfsfall Mitglieder der beiden Communities gegenseitig informieren. Die Verständigung via Handy war anfangs ein grosser Erfolg. «Im Sommer 1996 wurden in Nordbelfast 110 Familien vertrieben«, sagt Michael Atcheson, «1999 waren es noch vier.» Vertrieben werde ja immer nur die jeweilige Minderheit in einem Quartier, die in ständiger Anspannung lebe und deswegen oftmals auch aus übertriebener Furcht ihre Sachen packe. «Mit dem Handy konnten wir herausfinden, ob die Furcht begründet ist oder nicht.» Aber die Zahl derer, die auf seiner Seite des politischen Grabens das Kontakttelefon bedienen wollen, schwindet rapide. «Die Haltung ist: Sollen die unseren doch denen da drüben eine Abreibung verpassen.»

Nicht zuletzt deswegen haben die Drohungen und die Vertreibungen wieder zugenommen. Im Mai beantragten 21 Familien bei den Behörden eine Umsiedlung. Um ihren Marsch von Drumcree an diesem Sonntag doch noch durchzusetzen, haben die Oranier von Portadown zu einer breiten Protestbewegung aufgerufen. Wenn es dazu kommt, werden auch in Nordbelfast wieder Häuser brennen. (pw)


Drumcree zum Sechsten

Alles ist vorbereitet für die grosse Schlacht. Rund zweitausend extra aus Britannien eingeflogene Soldaten haben Schützengräben ausgehoben, Stacheldraht ausgerollt, Stahlbarrieren errichtet, Panzer und schweres Bergungsgerät bereitgestellt. Auf der anderen Seite tauchen immer wieder loyalistische Paramilitärs auf, Mitglieder der probritischen Terrorkommandos, unterstützt von Combat 18, einer faschistischen englischen Organisation (die Zahl 18 steht für die Stelle der Anfangsbuchstaben des Namens Adolf Hitler im Alphabet).

Es gehe ums Ganze, hatten die Führer des protestantischen Oranier-Ordens von Portadown verkündet, als sie sich am letzten Sonntag in einer Art Generalprobe bei der kleinen Kirche von Drumcree am Stadtrand von Portadown versammelten. An diesem Sonntag wollen sie es nun wissen. «Wir verteidigen den protestantischen Glauben, die protestantische Kultur, das protestantische Volk», lautet der Schlachtruf der Oranier.

Vieles deutet darauf hin, dass sich in diesem Jahr die Ereignisse von 1996 und 1998 wiederholen könnten. Seit im Jahre 1995 die Behörden erstmals den traditionellen Marsch der Oranier-Loge Nr. 1 von Drumcree durch die irisch-nationalistische Garvaghy Road verhindern wollten, ist die alljährliche Auseinandersetzung um die Parade von Drumcree Höhepunkt der nordirischen Marschsaison.

1996 erzwangen die Oranier mit Hilfe bewaffneter Paramilitärs den Durchmarsch, weil sie in weiten Teilen Nordirlands Unterstützung fanden, Flugplätze, Strassen, Häfen blockiert wurden und die nordirische Polizei mit Meuterei drohte.

1998 entwickelte sich eine ähnliche Situation, nachdem die neu gewählte britische Labour-Regierung im Jahr zuvor den Oraniern den Weg hatte freiprügeln lassen. Doch die grosse Konfrontation blieb aus: Im Zuge schwerer Unruhen verbrannten drei Kinder in einem Feuer, das Loyalisten gelegt hatten; das war den meisten ProtestantInnen dann doch zu viel.

1999 schliesslich endete alles friedlich. Wie sich im Nachhinein herausstellte, hatte der britische Premierminister Tony Blair den Oraniern von Portadown zu verstehen gegeben, dass sie innerhalb von Monaten doch noch marschieren dürften. Dass sie so hinters Licht geführt wurden (und dann auch noch von einem britischen Premierminister!), empörte die braven Oranier ganz besonders. Noch einmal, sagen sie jetzt, würden sie sich nicht für dumm verkaufen lassen.

«Irrational», «unvernünftig», «unbelehrbar» – die Medien sind sich in ihrem Urteil über die Oranier weitgehend einig, verkennen dabei aber den rationalen Kern von deren Handeln. Denn bisher hat sich sture protestantische Opposition ausgezahlt: Die britische Schutzmacht gab meist nach. So könnte sein, dass die Oranier demnächst wieder durch die Garvaghy Road marschieren dürfen.

Ob sie sich schon dieses Mal durchsetzen können, ist ungewiss. Die ProtestantInnen bilden (anders als bei Drumcree 1995-1997) keine Einheit mehr. Das jedoch könnte sich schon am Freitag ändern, wenn die britische Regierung bekannt gibt, wie gründlich sie die nordirische Polizei reformieren will. Geht die Reform den ProtestantInnen zu weit, kommt es bei Drumcree zu einem Grossaufmarsch. In Belfast zum Beispiel gingen zu Beginn dieser Woche die ersten Barrikaden und Autos in Flammen auf. (pw)