Indien: Der Erfolg der kleinen Leute

Der Lack ist ab

13. August 2012 | Mit steuer- und gewerkschaftsfreien Zonen wollten Indiens PolitikerInnen den Sprung zur Wirtschaftsgrossmacht schaffen. Sie haben aber nicht mit dem Widerstand der Landbevölkerung gerechnet.

Text: Joseph Keve, Bombay, Übersetzung: Pit Wuhrer

Die Meldung war knapp formuliert, aber sie hatte es in sich. Man werde «aufgrund der starken Opposition der lokalen Bevölkerung» die Planung von vier Sonderwirtschaftszonen (SEZs) einstellen, verkündete Ende Juli die Regierung des indischen Bundesstaats Maharashtra. Damit sind die zum Teil seit Jahren projektierten Vorhaben – eine Zone im Süden von Bombay, zwei nahe der Industriestadt Pune und eine im Osten des Bundesstaats – erledigt. Vor allem im Distrikt Pune hatten die BewohnerInnen von acht Dörfern revoltiert, weil ihr mit grossem Aufwand bewässertes und fruchtbares Land der 3000 Hektar grossen Mahindra-and-Mahindra-SEZ geopfert werden sollte. Die Dorfgemeinschaften verabschiedeten einstimmig Protestresolutionen, organisierten Kundgebungen und blockierten Strassen; etliche BäuerInnen traten in den Hungerstreik.

Auch in Aurangabad, im Osten von Maharashtra, kam es zu spontanen Protesten. Dort hatte die Regierung schon im Oktober 2006 die Einrichtung einer SEZ bewilligt, war aber in letzter Zeit auf erbitterten Widerstand gestossen. Die BäuerInnen, die eine Enteignung ihrer Felder nicht hinnehmen wollen, trafen sich zu Demonstrationen und erteilten den Behörden Zutrittsverbot. Bereits zuvor war im Süden von Bombay der Versuch gescheitert, die BewohnerInnen von 45 Dörfern zu vertreiben; im Distrikt Raigad wollte Reliance Industries Ltd., Indiens grösster Privatkonzern, über 14000 Hektar Land in ein gigantisches Industriegebiet verwandeln.

Alles für die Konzerne

Das SEZ-Konzept ist seit seiner Einführung im Jahre 2006 umstritten. Um InvestorInnen ins Land zu holen und die indische Industrie zu fördern, hatten die Regierungen fast aller Bundesstaaten ganze Landstriche zu Special Economic Zones deklariert, in denen Unternehmen nach Belieben schalten und walten können: Sie zahlen keine Steuern, unterliegen keinen Auflagen, müssen weder Arbeitsschutzgesetze noch den gesetzlichen Mindestlohn beachten, bekommen Land, Wasser, Strom und Strassen fast umsonst und haben sich auch nicht an die sonst strikten Devisenregeln zu halten – ein vor allem für ausländische Konzerne wichtiger Faktor.

Praktisch alle grossen Parteien unterstützten diese Politik – die Kongresspartei des indischen Premierministers Manmohan Singh genauso wie die nationalistisch-patriotische Indische Volkspartei BJP. Auch die sozialdemokratische Kommunistische Partei Indiens/Marxisten (CPIM) versprach sich von den Sonderzonen einen industriellen Fortschritt – und wurde abgestraft. Über Jahrzehnte hinweg dominierte die Partei, die sich einst für die Rechte der Kleinbauern, Pächterinnen und LandarbeiterInnen stark gemacht hatte, den Bundesstaat Westbengalen. 2011 jedoch verlor die CPIM ihre Hochburg – weil sie in den Jahren zuvor den Wünschen von potenziellen InvestorInnen nachgekommen war: Der indische Tata-Konzern wollte in Singur ein Autowerk bauen, die indonesische Salim Group in Nandigram ein Chemiewerk errichten. Die Bevölkerung verteidigte ihre Dörfer und Felder, die CPIM schickte Polizeitruppen, es gab Tote und Verletzte. Schlussendlich verzichtete die linke Regierung von Westbengalen auf die Umsetzung ihrer Pläne. Aber da war ihr Ruf schon dahin.

Auch die von der Kongresspartei kontrollierte Regionalregierung von Maharashtra hat die Botschaft begriffen. In den letzten Jahren bewilligte sie zwar insgesamt 109 SEZ-Projekte, tatsächlich verwirklicht wurden hingegen nur 18 – auch deswegen, weil viele anfänglich interessierte Unternehmen im Laufe der Auseinandersetzungen aufgaben.

Indiens Wirtschaftskrise

Es hat nicht an grossen Sprüchen gefehlt: Die SEZs seien Wachstumsmotoren, sie würden ausländische Konzerne anlocken, den Export ankurbeln, Arbeitsplätze schaffen und für eine erstklassige Infrastruktur sorgen. Die Mittelschichten waren begeistert: Glitzernde Einkaufszentren, maximales Entertainment, super Restaurants, hochspezialisierte Kliniken – all das gehörte zu ihrem Traum von «Shining India», dem glänzenden Indien. Doch der ist vorbei. Trotz SEZs sanken die Wachstumsraten der Industrie von neun auf zuletzt drei Prozent, das Handelsbilanzdefizit ist mit 185 Milliarden US-Dollar so hoch wie selten zuvor, die Devisenreserven sind zusammengeschmolzen, die ausländischen InvestorInnen ziehen sich zurück und die Inflation hat die Zehn-Prozent-Marke überschritten.

Die Krise hat viele Ursachen: den weltweiten Konjunktureinbruch, die Korruption, die marktradikale Politik der Eliten, die Privilegien der Reichen und die horrende Armut von Millionen, die sich nicht einmal das Nötigste leisten können. Aber immerhin dämmert allmählich selbst den politisch Verantwortlichen, dass die SEZs kein Allheilmittel zur Lösung der Probleme sind. Und sich schon gar nicht dazu eignen, die unmittelbar betroffene Landbevölkerung dazu zu bringen, ihre Lebensgrundlagen zugunsten eines «Shining India» zu opfern, das gerade über Bord geht.

Mittlerweile geben auch andere Regionalregierungen ihre SEZ-Pläne auf. Weil sie den Protest der Armen fürchten, die sich mit allen Mitteln gegen Landraub wehren. Und weil sie sich vor der Parlamentswahl 2014 nicht noch mehr Menschen zum Feind machen wollen.