Indien: Jetzt rebelliert sogar die katholische Kirche

Die Diener der «ausländischen Kräfte»

15. März 2012 | Die indische Regierung setzt immer stärker auf Atomkraft und Biotechnologie – und drangsaliert kritische NGOs. Doch die wehren sich.

Text: Joseph Keve, Bombay, Übersetzung: pw

Diese Aussage wird Manmohan Singh noch lange verfolgen. «Das Atomenergieprogramm ist in Schwierigkeiten geraten, weil diese NGOs einfach nicht einsehen wollen, dass unser Land den wachsenden Energiebedarf decken muss», sagte der sonst so sanfte indische Ministerpräsident Ende Februar in einem Interview mit der US-amerikanischen Zeitschrift «Science». Die meisten dieser NGOs, so fügte Singh hinzu, seien in den USA und Skandinavien beheimatet.

Seit langem schon setzt die Kongresspartei, die führende Kraft der Regierungskoalition UPA, auf den Ausbau der Atomkraft und der Biotechnologie. Sie will endlich ihre Vereinbarungen mit Russland, den USA und Frankreich umsetzen und dem Atomenergieabkommen Geltung verschaffen, das die indische Regierung im Oktober 2008 – trotz des erheblichen Widerstands der Bevölkerung – unterzeichnet hatte. Besonders stört sie dabei, dass seit zwanzig Jahren der Bau von zwei 1000-Megawatt-Atomreaktoren bei Kudankulam im südostindischen Bundesstaat Tamil Nadu nicht vorankommt: Dort halten noch immer die Proteste gegen das mit Russland vereinbarte Projekt an.

Und so liess die Regierung kurz nach Singhs Anschuldigungen die Bankkonten von vier nichtstaatlichen Organisationen (NGO) einfrieren und weitere NGOs unter Beobachtung stellen – mit der Begründung, dass diese Spendengelder für illegitime Zwecke verwenden würden, etwa den Widerstand gegen das Kudankulam-AKW-Projekt. Allerdings bestehen zwei dieser Organisationen, deren Konten Singh sperren liess, schon seit rund siebzig Jahren. Und sie gehören der katholischen Kirche an, die in Indien zum Teil bis hinauf in die oberen Ebenen des Klerus befreiungstheologisch orientiert ist. Und so mangelte es nicht an Kritik von Seiten der Kirchenhierarchie. «Wir sind nicht per se gegen Atomkraftwerke», sagte beispielsweise Erzbischof A. M. Chinnapa, Vorsitzender des südindischen Bischofsrats. «Aber wenn unsere Leute uns um Hilfe bitten, dann sind wir für sie da.»

Seit Indiens Unabhängigkeit 1947 steht die katholische Kirche der säkularen Kongresspartei nahe. Doch die grassierende Korruption in der Partei und die vielen Skandale, in die KongresspolitikerInnen während der letzten Jahren verwickelt waren (und sind), haben nicht nur innerhalb der Kirche Zweifel an der traditionellen Allianz aufkommen lassen. Auch die Bevölkerung steht der Kongresspartei zunehmend skeptisch gegenüber – wie die Wahlen in fünf Bundesstaaten zeigten. Fast überall verlor die Regierungspartei. Im katholisch geprägten Bundesstaat Goa verlor Singhs Partei sogar Stimmen an die erz-hinduistische Volkspartei BJP.

Unterstützung erhalten die atomkritischen NGOs mittlerweile von Juristen, Journalistinnen und MenschenrechtlerInnen, darunter auch der frühere Richter des Obersten Gerichtshofs, V. R. Krishna Iyer. Sie trafen sich vergangene Woche in Delhi und schrieben Manmohan Singh einen Brief: «Nicht wir sind es, die mit ausländischen Kräften zusammenarbeiten», heisst es in dem Schreiben, «es sind Sie und Ihre Regierung, die – unterstützt von indischen und ausländischen Unternehmen – die indische Landwirtschaft, die Anbaumethoden und den Energiesektor kommerzialisieren.» Auch andere Bürgerbewegungen wandten sich in einem gemeinsamen Appell an die Regierung. Sie kritisierten «die bösartige Propagandakampagne gegen den Kampf der Bevölkerung von Tamil Nadu» – und plädierten für einen Wechsel hin zu erneuerbaren Energien.

Über Jahre hinweg hatte die Regierung gehofft, dass Grossprojekte wie AKWs in ländlichen Regionen auf wenig Gegenwehr stossen würden. Die Menschen dort, so dachte sie, verstehen ohnehin nicht viel von der grossen Politik – und sind ohnehin vollauf mit dem Kampf ums Überleben beschäftigt. Seit der Katastrophe von Fukushima ist das jedoch anders. Also «versucht die Regierung, uns entlang von Kasten und religiösen Unterschieden auseinanderzudividieren und die Bevölkerung mit falschen Beschuldigungen über ausländische Finanzierung zu verwirren», sagt S. P. Udaykumar, Sprecher der Bewegung gegen Atomkraft. Auf einem grossen Treffen von verschiedenen Anti-Atomkraft-Organisationen Ende Februar in Delhi wurden die nächsten Schritte beschlossen. An kommenden Wochenende werden AtomkraftgegnerInnen aus ganz Indien das Gebiet um Kudankulam besuchen, um den dort kämpfenden Menschen ihre Solidarität zu zeigen.