Indien: Bevorzugung durch Privilegien?

Der Kampf um Quoten

19. Juni 2008 | In Rajastan hat sich ein Konflikt um die Förderung von unterprivilegierten Volksstämmen und Kasten neu entzündet. Jetzt will man eine Lösung gefunden haben.

Text: Joseph Keve; Übersetzung: Pit Wuhrer

Kirori Singh Bainsla spricht von einem «historischen Sieg». Der Repräsentant des indischen Volksstammes der Gudschar hat diese Woche mit der Regierung des Bundesstaates Rajastan ein Abkommen für den besseren Zugang der Gudschars zu staatlichen Hochschulen und Arbeitsstellen ausgehandelt. Vorausgegangen waren schwere Krawalle, die das 56 Millionen EinwohnerInnen zählende Rajastan während Wochen gelähmt hatten. Am Mittwochnachmittag sind die Details der Übereinkunft veröffentlicht und das Abkommen unterzeichnet worden.

Der Aufruhr begann am 23. Mai. Zentrale Verkehrsachsen wie die Autobahn zwischen Bombay und Delhi wurden blockiert und der Warentransport empfindlich gestört. Millionen von Reisenden mussten lange Wartezeiten in Kauf nehmen. TouristInnen stornierten ihre Hotelbuchungen. Am heftigsten war es zwischen dem 2. und 8. Juni an verschiedenen Punkten auf der Strasse zwischen der Hauptstadt Jaipur und Agra. Tausende von Meenas, Mitglieder eines rivalisierenden Volksstammes, griffen die protestierenden Gudschars mit Eisenstangen und Messern an. Die Bundesregierung schickte zur Unterstützung der Polizeiverbände Militäreinheiten in die Region. 43 Menschen kamen während der Unruhen ums Leben, viele von ihnen wurden von Schüssen der Sicherheitskräfte getötet. Ausserdem entstand ein wirtschaftlicher Schaden in Milliardenhöhe.

In der Restgruppe

Insgesamt leben rund fünfzig Millionen Gudschars in elf indischen Bundesstaaten. Sie waren ursrpünglich nomadisierende HirtInnen. Heute sind viele von ihnen als BäuerInnen sesshaft. Anders als in einigen anderen Bundesstaaten sind in Rajastan die Gudschars nicht vom Staat als unterpriviligierte UreinwohnerInnen anerkannt.

Die Gründerväter des indischen Staates hielten in der Verfassung eine Bevorzugung von unterprivilegierten Kasten und Stämmen, sogenannten Scheduled Castes (SC) und Scheduled Tribes (ST) fest. Man wollte ihnen damit die Chancengleichheit in Ausbildung und Berufswahl gewähren und die Jahrhunderte andauernde soziale und ökonomische Unterdrückung rasch überwinden. Diese Bevorzugung war auf zehn Jahre befristet, wurde jedoch von den grossen Parteien im Einverständnis immer wieder verlängert. Gleichzeitig haben die PolitikerInnen aber das System manipuliert, da sich mit den Stimmen der Begünstigten Wahlen gewinnen liessen.

Ursprünglich waren die Privilegien nur für die rückständigsten und unterprivilegiertesten Bevölkerungsgruppen gedacht – die Stämme der UreinwohnerInnen und die Kaste der sogenannten Unberührbaren, der Dalit. Doch schon bald forderten auch andere Kasten und Volksgruppen eine Bevorzugung, bis der Staat für diese Gemeinschaften die Bezeichnung Other Backward Classes (OBC) festlegte. Diesen wurden allerdings weniger Privilegien zugesprochen. Ausserdem wurden im Verlauf der Zeit immer mehr Gruppierungen als OBC anerkannt und dadurch das System weiter ausgehöhlt.

Sämtliche Analysen zeigen, dass im Endeffekt nur eine kleine Schicht der unterprivilegierten Gruppen wirklich von der staatlichen Sonderförderung profitiert. Angehörige von höheren Kasten haben zudem oft lokale Bevölkerungsregister so manipuliert, dass auch sie und ihre Clans Vergünstigungen erhalten. Ausserdem hat sich in den letzten Jahren die Konkurrenz um die begrenzte Zahl von Studienplätzen und Arbeitsstellen beim Staat verschärft. Auch deshalb wurde die Rivalität unter den verschiedenen Volksgruppen und Kasten weiter angeheizt.

Indische PolitikerInnen betreiben hemmunglos Politik mit den verschiedenen Kasten und gesellschaftlichen Gruppen. Die regierende Kongresspartei hat es seit je verstanden, beispielsweise die UreinwohnerInnen oder die Fischer, aber auch verschiedene religiöse Gruppen, für sich zu gewinnen. Als 1990 ihr Premierminister Vishwanath Pratap Singh das Förderungssystem stark erweiterte, führte das zu landesweiten Protesten.

Leiter hoch und runter

Der Führer der oppositionellen Hindu-Partei BJP, Lal Krishna Advani, stachelte daraufhin verschiedene Hindu-Gruppen an. Seine Mobilisierung gipfelte in der Zerstörung der historischen Moschee von Babri, bescherte der BJP einen fulminanten Aufschwung und führte schliesslich zur Übernahme der Bundesregierung.

Die Politik, einzelne Kasten oder Gruppen zu bevorteilen, führte immer wieder zu Gewaltausbrüchen, weil sich andere Gruppen benachteiligt sahen. Dabei hat sich die Intensität der Auseinandersetzungen verstärkt. Da es immer mehr Begünstigte gibt, wird der Anteil des Kuchens, den es zu verteilen gilt, immer kleiner. Die Proteste der Gudschars sind ein typisches Beispiel für diesen Verteilungskampf. Die Einteilung in die Kategorie der OBC hat ihnen wenig geholfen, da in Rajastan auch das zahlenmässig einflussreiche Volk der Dschats von den Privilegien profitiert. Mit ihrer Forderung, als ST anerkannt zu werden, machten die Gudschars sich jedoch die Meenas zu ihren GegnerInnen, die zusätzliche Konkurrenz fürchteten. Laut einem Bericht der «Times of India» sollen mit der am Dienstag getroffenen Vereinbarung die Gudschars zwar im Status als OBC verbleiben, trotzdem jedoch fünf Prozent höhere Quoten für Schul- und Arbeitsplätze zugesprochen bekommen.

Die Protestaktionen der Gudschars hatte die in Rajastan regierende BJP-Partei in ein Dilemma gestürzt. Sie hatte vor den Wahlen im Jahr 2003 den Gudschars versprochen, dass sie in die ST-Kategorie aufgenommen würden. Nach ihrem Wahlsieg hielt sie sich allerdings nicht an ihr Versprechen, weil sie sich nicht mit den Meenas anlegen wollte. Die Gudschars organisierten daraufhin bereits 2006 und 2007 grosse Protestaktionen. Die Repräsentanten der Meena kündigten ihrerseits an, dass ihre ParlamentarierInnen aus der BJP austreten werden, sollten die Gudschars den ST-Status tatsächlich zugesprochen erhalten.

Mit der jetzigen Einigung dürften die Auseinandersetzungen über das indische Bevorzugungssystem längst nicht zu Ende sein. Im Gegenteil: Auch in anderen Bundesstaaten drohen Konflikte. Und weitere Gruppierungen werden sich bestärkt fühlen, ebenfalls höhere Quotenanteile zu verlangen. Die PolitikerInnen verstricken sich mit ihren Versprechungen und Zugeständnissen an wichtige WählerInnengruppen in unlösbare Widersprüche.