Indien: Die Lage der Frauen

Hundert Söhne, keine Töchter

6. März 2008 | In nur wenigen Staaten wird landauf, landab der Internationale Frauentag von so vielen Frauen gefeiert wie in Indien. Das ist allerdings auch nötig.

Text: Jancy Augustine und Joseph Keve, Übersetzung: Pit Wuhrer

Bahnhof Borivli, Western Railway, Nordbombay, 8.30 Uhr: Auf allen acht Bahnsteigen stehen dicht gedrängt Menschen, die auf Vorortzüge warten. Das ist auch auf Gleis 3 so – mit einem Unterschied. Hier warten nur Frauen auf die S-Bahn, die um 8.36 Uhr Richtung Churchgate im Zentrum von Bombay fahren wird. Der «Ladies' Special» ist einer der beiden Züge, die seit ihrer Einführung im Jahre 1992 im morgendlichen Stossverkehr nur Frauen transportieren. «Früher hat mich die Fahrt ziemlich genervt», sagt Mary Thomas, Rezeptionistin in einem multinationalen Unternehmen. «Ich musste nicht nur von Waggon zu Waggon hetzen und mich dann hineinquetschen. Ich musste mich auch mit Männern herumstreiten, die sich Freiheiten herausnahmen und ihre Finger überall hatten.» Heute, sagt sie, könne sie einfach ein Abteil betreten.

Oft fahren dieselben Frauen in einem Abteil. «So teilen wir ein Stück unseres Lebens», erzählt Renuka Das, die in einer Werbeagentur arbeitet. «Wir freuen uns auf die gemeinsame Fahrt, scherzen miteinander, erzählen uns Geschichten, feiern Geburtstage.» Eine Stunde lang seien sie wieder wie junge Mädchen, «wir albern herum und vergessen die Sorgen, die wir als Mütter, Ehefrauen und Beschäftigte haben.» Die «Ladies' Specials» fahren nur zur Hauptverkehrszeit. Aber auch in den ruhigeren Stunden führt jede der 2031 S-Bahnen des Bombayer Nahverkehrs, die täglich sechs Millionen PendlerInnen befördern, mindestens einen nur Frauen vorbehaltenen Wagen. Über ein ähnliches Reservierungssystem verfügen auch Bombays 3400 öffentliche Busse. Auf den Sitzen der ersten zwei, manchmal drei Reihen dürfen sich nur Frauen niederlassen. Dem Bombayer Beispiel folgten mittlerweile viele öffentliche und private Busgesellschaften im Land.

Hier die PepsiCo-Chefin …

Weshalb Bombay in dieser Hinsicht Vorbildcharakter hat, erläutert Shubha Raul so: «Der Gemeinderat von Grossbombay hat 227 gewählte Mitglieder, 80 davon sind Frauen.» Eine kleine Gruppe, sollte man meinen. Doch: «Wir Frauen haben was zu sagen.» Denn dem Stadtparlament sitzen zwei Frauen vor: die stellvertretende Bürgermeisterin und sie selbst. Shubha Raul ist die Bürgermeisterin von Bombay.

In der indischen Politik sind Frauen gut vertreten. Sie stellen rund 1,4 Millionen der Dorf-, Stadt- und GrossstadträtInnen. Vor allem ganz oben ist ihr Einfluss gewachsen. Im Juli 2007 wurde mit Pratibha Patil die erste Frau an die Spitze der indischen Republik gewählt. Mit Sonia Gandhi führt eine Frau die vielleicht wichtigste Partei im Staat. In den Bundesstaaten Uttar Pradesh, Rajastan und Delhi hat jeweils eine Frau als Chefministerin das Sagen. Und das US-Magazin «Forbes» führt auf seiner Liste der zehn mächtigsten Frauen der Welt gleich zwei InderInnen: Sonia Gandhi und Indra Nooyi, Vorstandsvorsitzende (CEO) von PepsiCo.

Frauenorganisationen, Menschenrechtsgruppen und selbst Gerichte haben lange gegen die Benachteiligung gekämpft. «Der grosse Durchbruch kam mit einem Verfassungszusatz im Jahre 1993», sagt Sangeeta Kaur, Sozialaktivistin im Bombayer Stadtteil Malad. «Diese Änderung besagte, dass auf Dorf- und Stadtteilebene ein Drittel aller Mandate mit Frauen besetzt werden muss.» Innerhalb von fünf Jahren machten die Frauen dort schon weit mehr als ein Drittel aus.

Angespornt von diesem Erfolg legten Abgeordnete im indischen Unterhaus 1996 einen Gesetzesentwurf vor, der auf eine Ausweitung dieser Regel auf das nationale Parlament, die Parlamente der Bundesstaaten und die Räte der Grossstädte abzielte. Bisher kamen sie damit nicht durch. Aber 1994 verabschiedete das Unterhaus in Neu-Delhi ein Gesetz gegen die in Indien immer noch häufige pränatale Geschlechtsbestimmung; 1995 folgte ein Gesetz zum Schutz der Frauen vor häuslicher Gewalt.

Selbst konservativ-religiöse Kreise bekommen den Wandel zu spüren. Anfang Februar verlangte die Linksregierung des Bundesstaats Kerala vom Obersten Gericht Indiens, die Zugangsbeschränkung zu verbieten, die Frauen den Besuch des alten Lord-Ayyappan-Schreins in Shabarimala (Kerala) untersagt. Als vor zwei Jahren die südindische Schauspielerin Jayamala das Bildnis des Gottes berührte, folgte ein Aufruhr. Der Antrag der Regionalregierung von Kerala, die das Frauenverbot per Gesetz verhindern will, dürfte weitreichende Folgen haben - schliesslich gilt der Oberste Gerichtshof als eine der liberalsten Instanzen im Land.

… da die Mitgiftmorde

Ganz oben sind die Frauen mittlerweile angekommen. Aber gilt das auch für die Frauen unten? Im vom Uno-Entwicklungsprogramm UNDP geführten Index zur Entwicklung der Geschlechter rangiert Indien lediglich auf Platz 96 (von 177 überprüften Staaten). Die Fakten: Alle 34 Minuten wird eine Frau vergewaltigt, alle 93 Minuten wird irgendwo in Indien eine Frau getötet. Über ein Drittel aller indischen Frauen geht jede Nacht hungrig ins Bett. Laut offizieller Statistik fielen 2006 mehr als 7600 Frauen einem Mitgiftmord zum Opfer.

Ausserdem werden Frauen immer häufiger Opfer von sozialen Auseinandersetzungen und Konflikten zwischen Gemeinschaften. Bei dem von der hinduistischen Regionalregierung unterstützten Pogrom von Gujarat 2002 wurden 250 muslimische Frauen und Mädchen erst vergewaltigt und dann bei lebendigem Leib verbrannt. Auch anderswo – etwa in den ländlichen Bezirken von Bihar oder Uttar Pradesh, wo Schergen der Grossgrundbesitzer Frauen vergewaltigen, oder in Assam, wo junge Frauen als Beute abgeschleppt werden – überall sind Frauen das erste Ziel männlicher Aggression.

Viele ExpertInnen sehen die Ursache dieser Gewalt gegen Frauen im traditionellen Patriarchat, das immer noch tief ins Selbstverständnis vieler Inder und indischer Institutionen reicht. Für die indischen Mädchen beginnt die Ungleichheit bereits bei der Geburt – wenn nicht schon vorher. «Ein Mädchen oder ein Junge?» Das ist die erste Frage, die die meisten Eltern der Hebamme stellen. Ein Mädchen schafft nur Probleme – es kostet Mitgift, verursacht eine teure Hochzeit, zieht in eine fremde Familie und ist für die Versorgung im Alter verloren. Laut Schätzungen werden jährlich rund fünf Millionen Abteibungen vorgenommen, weil die Eltern keine Tochter wollen.

Wirtschaftswachstum und das Bildungswesen haben in den letzten zwei Jahrzehnten Gewohnheiten und Lebensstile verändert – aber nicht die Vorliebe fürs männliche Kind. Gewiss, in der schnell wachsenden Mittelschicht von Städten wie Bombay spielt beispielsweise die Mitgift keine so grosse Rolle mehr. Warum auch sollten sich die meist ärmeren Eltern wegen ihrer bei Siemens oder Microsoft angestellten, gut verdienenden Tochter über Jahrzehnte hinweg verschulden, wenn die einen Verkaufsleiter oder IT-Manager heiratet?

Mutter von hundert Söhnen

Aber vielerorts hat der wachsende Wohlstand die Einstellungen noch nicht verändert – etwa in Gujarat, dem reichsten Bundesstaat Indiens mit einer grossen urbanen Bevölkerung. Im hinduistisch regierten Gujarat konnte jahrelang der selbst ernannte Guru Babu Bajrangi in Ahmedabab Mädchen kidnappen und muslimisch-hinduistische Partnerschaften zerstören. Die Behörden griffen erst ein, als sie der Oberste Gerichtshof dazu zwang. Ebenfalls in Gujarat haben zwei Mitglieder einer hinduistischen Sekte lange Zeit verheiratete, kinderlose Frauen vergewaltigt, um ihnen «Kinder zu schenken», wie sie bei ihrer Festnahme sagten. Noch heute lautet bei Hinduhochzeiten eine der Braut gewidmete Beschwörungsformel: «Mögest du Mutter von hundert Söhnen werden.»

Kein Wunder, werden noch immer viele weibliche Föten abgetrieben oder weibliche Säuglinge getötet. Nach einer Schätzung der Ärztin Sharda Jain in Delhi werden in Indien jährlich fünf Millionen Abtreibungen vorgenommen, um die Geburt einer Tochter zu verhindern. Die Folge kann man in Statistiken nachlesen: Laut dem Zensus von 2001 kommen in Indien auf 1000 Männer 927 Frauen. In Städten wie Ahmedabad liegt das Zahlenverhältnis sogar bei 1000 zu 840.

Das Gefängnis der Kinderehe

«Ich bin eine dieser unglücklichen Hindufrauen, die ein unsagbares Elend durchleiden, das durch die Sitte der frühen Heirat entsteht. Diese verruchte Praxis hat das Glück meines Lebens zerstört.» Das schrieb Mrs Rukmabai in einem Brief an die «Times of India» im Jahre 1885. Seither sind mehr als 120 Jahre vergangen, und noch immer ist diese «verruchte Praxis» nicht ausgerottet – obwohl es seit langem ein Gesetz gibt, das die Kinderheirat verbietet. Im Gegenteil: Laut einer Regierungsstudie aus dem Jahr 2000 werden bei über vierzig Prozent aller Hochzeiten Mädchen unter sechzehn Jahren in die Ehe geschickt. In manchen Regionen von Rajastan, Madhya Pradesh, Bihar und Uttar Pradesh erreicht der Anteil von Kinderehen sogar siebzig Prozent.

Wer sich dem widersetzt, bekommt es zu spüren. Vor drei Jahren wurde im Bundesstaat Madhya Pradesh die Leiterin einer staatlichen Sozialeinrichtung von den Angehörigen dreier Mädchen im Alter von sechs bis zehn attackiert, deren Zwangsverheiratung sie zu verhindern suchte. Madhya Pradeshs Chefminister Babulal Gaur verkündete daraufhin lapidar: «Soziale Gebräuche sind halt stärker als das Gesetz.» Aber es sind nicht die Gebräuche an sich, es ist die Ökonomie, die der Sitte der Kinderheirat ein langes Leben beschert: Die meist armen Eltern werden dadurch eine «Last» los; ausserdem kommt es sie billiger, ein Kind zu verheiraten als eine junge Frau.

Das Mitgiftwesen, es ist seit 1961 offiziell verboten, hatte einst eine soziale Funktion: Es sollte dem jungen Ehepaar einen Start in die Selbstständigkeit ermöglichen und war zunächst nur unter wohlhabenderen Familien verbreitet. Dieser ursprüngliche Zweck hat sich jedoch verselbstständigt, in die Kultur eingegraben und eine Bedeutung erlangt, die den Frauen weit über die Eheschliessung hinaus zu schaffen macht.

Denn bei jedem noch so kleinen Streit zwischen den oft zwangsverheirateten Ehepaaren spielt die Mitgift eine Rolle – und ruft Angehörige auf den Plan, die sich sofort ins Schlachtgetümmel stürzen. Das Mitgiftwesen, sagt beispielsweise Brinda Karat, Parlamentsabgeordnete und Politbüromitglied der Kommunistischen Partei Indiens (Marxisten), CPI(M), «ist der Motor, der die Gewalt gegen Frauen antreibt».

Bollywoods Einfluss

Die häusliche Gewalt ist weit verbreitet. Offiziellen Untersuchen zufolge werden fast 65 Prozent aller indischen Frauen geschlagen oder müssen andere Formen der Erniedrigung hinnehmen. Viele Inder glauben immer noch, dass die Frau die Arbeit zu tun hat, an allem schuld ist und alles klaglos hinnehmen sollte. Es sind nicht nur die Ehemänner, die auf vermeintliches Fehlverhalten sofort reagieren und den Wunsch und das Bedürfnis nach Freiheit, Weiterentwicklung oder Bildung schnell unterdrücken. Der Frau «sitzen auch die Schwiegerväter, die Schwiegermütter, alle Onkel und Tanten im Nacken», sagt Sangeeta Kaur, die in Bombay für das Bildungshilfswerk Prayatna arbeitet.

Blockaden kommen jedoch nicht nur von der geballten Macht der angeheirateten Familie. Auch die von «Bollywood», der kulturell überaus einflussreichen Filmindustrie, gezeigten Bilder haben grossen Einfluss und bekräftigen patriarchale Verhaltensmuster – die Frau gibt sich dem Manne hin.

Ein Ausbruch aus dieser Gemengelage von traditionellen, religiösen, sozialen, ökonomischen und politischen Faktoren ist so einfach nicht. Seit Jahrzehnten suchen Zehntausende von indischen Frauenorganisationen einen Weg nach vorn. In den siebziger Jahren glaubten viele, dass mehr Bildungsprogramme und ein breiteres Angebot an Aufstiegschancen «die Frauen aus der familiären Umzingelung befreien» könnten. «Aber alle, die revoltierten», schrieb Anjali Monteiro in ihrer Studie, die vor kurzem erschien, «wurden für ihre ‹Disziplinlosigkeit› bestraft».

Seither haben sich die mittlerweile entstandenen Frauenallianzen und -netze neu orientiert; sie agieren vor allem auf der politischen Ebene. Und das mit Erfolg – wie die vielen Gesetze gegen Kinderheirat, gegen häusliche Gewalt, gegen Mitgiftforderungen, gegen Witwenverbrennung und für Lohngleichheit und Frauenquoten zeigen. Aber wer setzt sie durch?

«Wer die Gewalt gegen Frauen beenden und ihre Lage verbessern will, muss auch etwas gegen die sozialen und ökonomischen Bedingungen unternehmen», sagt Brinda Karat von der CPI(M), die auch Vizepräsidentin der Demokratischen Frauenvereinigung ist. Die indische Linke jedoch wird immer noch von Männern dominiert.




Die Diskriminierung in Zahlen

Laut offiziellen Statistiken und halbamtlichen Studien sieht die Lage der indischen Frauen derzeit so aus:

– In Indien kommen auf 1000 Männer 927 Frauen. In manchen Regionen liegt das Verhältnis sogar bei 1000 zu 840.

– Jede dritte Frau hungert.

– Jährlich werden rund fünf Millionen Abtreibungen vorgenommen, weil die Eltern keine Tochter wollen. – 54 Prozent der indischen Frauen können lesen und schreiben. Die Alphabetisierungsrate der Männer liegt bei 76 Prozent.

– Rund 65 Prozent aller indischen Frauen leiden unter häuslicher Gewalt.

– Bei 40 Prozent aller Eheschliessungen ist die Braut jünger als sechzehn Jahre.