Indien: Wer wählt, wer bestimmt?

Blau sind die Hütten der Dalits

6. Mai 2004 | In den Armenvierteln der Grossstädte unterhalten alle Parteien ein Büro. Denn im Unterschied zum Mittelstand nutzen die Slum-BewohnerInnen ihre Stimme. Ein Bericht aus Malad-West, Bombay.

Text: Pit Wuhrer

Tag für Tag verkauft er seine Früchte auf dem Markt von Orlem im Nordbombayer Quartier Malad: Trauben und Papayas, Guaven und frische Kokosnüsse, Mangos und Äpfel aus Kaschmir. Und da sein Stand gut platziert ist, alle an ihm vorbeikommen, kann Kailash Singh auch viel erzählen. Wer gerade wieder was getan oder gesagt hat. Oder wie es kam, dass alle Marktleute in der kommunistischen Gewerkschaft organisiert sind. StrassenhändlerInnen in einer Gewerkschaft? Aber sicher.

Der Markt ist nicht gross, doch er bietet vielen ein Auskommen: Den Metzgern (allesamt Muslims), den Gemüsehändlern (allesamt Männer aus dem nördlichen Bundesstaat Uttar Pradesh), den Fischverkäuferinnen (allesamt Ehefrauen der örtlichen Fischer), dem Süsswarenverkäufer, dem Kolonialwarenhändler, dem Uhrenmacher. Lange Zeit konnten sie hier ungestört arbeiten. Sie zahlten Standmiete und wurden nicht behelligt – bis vor drei Jahren plötzlich Vertreter der hinduistischen Shiv Sena auftauchten, den Markt in Beschlag nahmen und alle HändlerInnen vertrieben, weil diese «nicht hierher gehören». Shiv Sena ist die mit Abstand grösste Partei in der Handelsstadt Bombay.

Während in anderen Grossstädten KommunistInnen (Kalkutta) oder die Kongresspartei (Delhi) die Lokalpolitik bestimmen, wird Bombay (oder Mumbai, wie die Hinduisten die Hauptstadt des Bundesstaates Maharaschtra nennen) von der chauvinistisch-regionalistischen Shiv Sena beherrscht. Die Partei des Hitler-Verehrers Bal Thackerey ist eine Art indische Variante der Lega Nord: Mumbai-Jobs nur für Mumbaier, Maharaschtra nur für Maharatis, verlumpte Süd- und Nordinderinnen haben kein Recht, hier zu sein, Muslime und Christinnen sowieso nicht.

«Da standen wir also vor dem Nichts», erinnert sich Kailash Singh, «wer kümmert sich schon um ein paar Händler?» Niemand – ausser der kommunistischen Gewerkschaft der StrassenverkäuferInnen. «Die rief zu Kundgebungen auf, mobilisierte zu Demonstrationen und organisierte viele Versammlungen, denen sich auch andere Parteien nicht entziehen konnten.» Die Marktleute könnten sich doch vor den umliegenden Geschäftshäusern platzieren, empfahl damals das Shiv-Sena-Gemeinderatsmitglied Anthony Britto – doch diese Idee kam bei den Geschäftsleuten schlecht an. Kurze Zeit später waren die «Fremden» wieder auf ihrem Markt.

Aber immerhin hatte sich Britto am Marktrand ein Büro erobern können. Dort hält er seither Hof und redet ohne Unterbrechung. Siebzehn Jahre sei er Mitglied des Mumbaier Gemeinderats gewesen, habe für Busverbindungen, Abwasserkanäle und Kinderspielplätze gesorgt, sagt der 64-Jährige heute, und stets sei er der Beste gewesen. Der schnellste Läufer in der Schule, der schlagkräftigste Boxer weit und breit, der produktivste Dichter («2000 Gedichte»). Und was steht so in Ihren Gedichten, Mr. Britto? Antwort: «Wo ich stehe, solltest auch du stehen, dann wirst du verstehen.» Immerhin haben ihm die Fischfrauen jetzt einen Riegel vorgeschoben: Früher spazierte er einfach über den Markt und bediente sich an den Ständen, heute lassen ihm das die Frauen nicht mehr durchgehen.

Vom Fischerdorf zum Elendsviertel

Barses d'Souza ist ein zuvorkommender Mensch und ein guter Fremdenführer. Er hat schon immer in Orlem gelebt. Sein Grossvater hatte einst der Kirche das Land geschenkt, auf dem nun die katholische St. Anne's High School steht und Kinder Kricket spielen. Als Bub, daran erinnert sich der 65-Jährige noch gut, habe er dort drüben im Fluss gebadet. Aber damals war Orlem ein kleines Fischerdorf weit ausserhalb der Stadt gewesen. Inzwischen hat der Fünfzehnmillionenmoloch Bombay die Beschaulichkeit geschluckt, sein sauberer Fluss ist eine Kloake. «Es fehlt an Platz für die weit über hunderttausend Menschen, die jährlich nach Bombay ziehen», sagt Barses d'Souza. Dieses Problem ziehe viele weitere Probleme nach sich: Die MigrantInnen lassen sich nieder, wo sie ein paar Quadratmeter finden; die Stadtverwaltung kommt mit dem Bau von Strassen, Stromleitungen und Kanalisation nicht nach; korrupte Politiker und Beamte halten für die Tolerierung der illegalen Plastikbuden und Hütten die Hand auf und versprechen vor Wahlen Abhilfe. «Es gibt nur wenige, die sich aus ehrenwerten Gründen für eine Wahl aufstellen lassen, die meisten haben nur Geld im Kopf.» D'Souza muss es wissen: Er ist immerhin der Präsident der Kongresspartei von Malad, dem mit über 700.000 EinwohnerInnen grössten Vorort von Bombay.

Jai Janata Nagar heisst der grösste Slum von Orlem. Hier leben 50.000 Menschen: Hindus aus den Bundesstaaten Bihar (im Osten), Uttar Pradesh (im Norden), Gudscharat (im Westen), Tamil Nadu (im Südosten); Muslims aus Uttar Pradesh und Maharaschtra, Christen aus Tamil Nadu und von überallher. Sie sprechen Hindi, Gudscharati, Marathi, Tamil, Oriya, Telugu. Sie arbeiten bei der Stadtverwaltung, auf dem Bau, in Haushalten und im Verkauf; sie sammeln Lumpen, kochen Snacks, fahren Tee aus oder werkeln in kleinen Manufakturen wie der von Y. T. Rajan. Die sechs Leute an seinen Plastikpressen haben dem Sprecher der Kongresspartei in Jai Janata Nagar einen bescheidenen Wohlstand ermöglicht. 1978 war Rajan aus Tamil Nadu gekommen, 1995 gründete er seinen Betrieb, 2002 konnte er in den fünfzehnten Stock eines Hochhauses umziehen. Seine Werkstatt und das Parteibüro blieben im Slum.

Mit Ellenbogen und politischen Beziehungen kann man es also auch in den Armenvierteln zu etwas bringen. Vor allem die Politik ist hier wichtig. In Jai Janata Nagar sind alle Parteien präsent, die jeweils ihre Klientel zu bedienen versuchen. Wie alle Slums in Bombay besteht dieses Quartier aus einer Vielfalt von Gemeinschaften, deren ethnische oder politische Zugehörigkeit mitunter an den Farben zu erkennen ist, mit denen sie ihre Behausung streichen: grün die muslimischen Bauten, blau die Hütten der Dalits (die früher Unberührbare hiessen), rosa die Häuser der Shiv-Sena-AnhängerInnen.

Der Müll ist hier ein grosses Problem, die Wasserversorgung ebenfalls, sagt der Kongressmann Rajan. Und der Hunger? «Hier verhungert niemand. Wer gesund ist, verdient genug Geld.» Selbst die alte Frau dort drüben, die Plastikbeutel aufliest, könne in Bombay hundert Rupien (etwa drei Franken) am Tag verdienen, das reicht knapp für die Miete, die den Slumlords gezahlt werden muss, und für etwas Essen. «Deswegen kommen ja so viele hierher – Bombay bietet allen eine Chance. Auch weil sich ständig alles ändert.»

Auch in der Politik. Noch vor kurzem waren die politischen Allianzen eindeutig: ChristInnen stimmten für die säkulare Kongresspartei, MuslimInnen votierten wie die minderen Hindukasten teils für den Kongress, teils für die muslimisch-sozialdemokratische Samajwadi Party (SP), die Dalits wählten ihre Bahujan Samaj Party, und die oberen Kasten favorisierten die hinduistische Volkspartei BJP und deren regionalen Partner Shiv Sena.

Der Slum entscheidet

Mittlerweile sind aber die alten Bündnisse brüchig geworden. Bombay glänzt zwar, im Unterschied zum Rest des Landes (siehe nebenstehenden Text) – aber auch hier nehmen die Probleme zu. Und so stimmen immer mehr für Shiv-Sena-BJP-KandidatInnen, von denen sie sich, weil diese überall drinsitzen, eine – wenn auch nur geringfügige – Verbesserung ihrer Lage versprechen. Dass die Hinduisten ihre eigenen Ziele verfolgen und für die Bombayer Pogrome 1992/93 verantwortlich waren, bei denen Muslime tagelang durch die Strassen gejagt wurden und mindestens 1700 Menschen starben, haben viele vergessen.

Aslam Shaikh ist da nicht so pessimistisch. Shaikh kandidiert als Mitglied der SP im Wahlkreis Malad für die Versammlung des Bundesstaats Maharaschtra, deren Wahl gleichzeitig mit der des Bundesparlaments abgehalten wird. Auch er (ein smarter Jungunternehmer mit sechzig Beschäftigten) brüstet sich mit seinen Erfolgen – der neuen Kanalisation, die gerade vor seinem Parteibüro gebaut wird, den neuen Buslinien, die er angeregt hat, und sogar mit den zwei Dutzend Bittstellern, die sich während des Interviews vor seinem Büro drängen. «Die wären ja nicht hier, wenn ich für sie nichts tun könnte», sagt er. Aber wer geht hier überhaupt zur Wahl? «Das ist unterschiedlich», sagt er. In den Slums liegt die Wahlbeteiligung bei über fünfzig, in den Mittelstandsquartieren bei rund zehn Prozent.

Die besser Verdienenden haben vieles erreicht, nur die SlumbewohnerInnen erwarten noch etwas von den PolitikerInnen, sagt auch Barses d'Souza. Früher habe es in Jai Janata Nagar auch rote Häuser der Kommunisten gegeben – doch die sind genauso verschwunden wie die Textilfabriken, in denen die KP eine Basis fand. Heute stellen die KommunistInnen in Malad nicht einmal mehr KandidatInnen auf. Die in einer kommunistischen Gewerkschaft organisierten Marktleute werden sich also zwischen den Hinduisten und den säkularen Parteien entscheiden müssen. Ihr Votum dürfte eindeutig ausfallen – aber angesichts des Mehrheitswahlrechts zählen ihre Stimmen nur wenig. (pw)


Demokratisches Armenhaus

Bevölkerung: Knapp 1,1 Milliarden EinwohnerInnen, davon 130 Millionen Muslims (gemessen an der Bevölkerungszahl ist Indien damit nach Indonesien das zweitgrösste muslimische Land der Welt).

– Sprachen: Die nationalen Amtsprachen sind Hindi und Englisch. Regionale Amtssprachen: Bengali, Gudscharati, Marathi, Orija, Pandschabi, Tamil, Telugu, Urdu (plus weitere neun Amtssprachen, 200 Sprachen und 2000 Dialekte).

– Wahlsystem: Es gibt ein Mehrheitswahl nach britischem Muster – nur grosse und regional verankerte Parteien haben eine Chance.

– Beschäftigung: Zwei Drittel aller Erwerbstätigen arbeiten in der Landwirtschaft; deren Anteil am Sozialprodukt beträgt jedoch nur noch 25 Prozent (Industrie: 26, Dienstleistungen: 48 Prozent). Im organisierten Sektor gelten 45 Millionen als Arbeitsuchend.

– Armut Einem Viertel der Bevölkerung fehlt das Lebensnotwendigste. Weitere fünfzig Prozent verfügen über ein Einkommen von ein bis zwei US-Dollar pro Tag. Sozialversicherungen gibt es nicht. Verschlimmert wird die Lage durch eine aggressive Exportpolitik: So hat die indische Regierung im Jahre 2002 zehn Millionen Tonnen Getreide zu einem Preis exportiert, der noch unter dem lag, den die Ärmsten entrichten müssen.

– Infrastruktur Rund die Hälfte aller Haushalte hat keinen Strom. Die Wasserversorgung ist prekär: In den Städten fehlt es vielfach an sauberem Trinkwasser, auf dem Land sind viele Brunnen weit entfernt – durchschnittlich zwei Kilometer.