Indien: Das Weltsozialforum in Bombay

Der Karneval der anderen Welt

22. Januar 2004 | Das Treffen der sozialen Bewegungen war in diesem Jahr von einer besonderen Form der politischen Artikulation geprägt: dem permanenten Strassenprotest.

Text: Pit Wuhrer

Wenn Farbenpracht, Demonstrationsbereitschaft, Tanzlust und schiere Energie hinreichende Bedingungen für die andere Welt wären, die hier alle für möglich halten, dann hätten wir sie schon - zumindest seit dem letzten Wochenende und zumindest in Bombay. Eine herrlich chaotische und bunte Welt wäre das, mit fröhlichen, kontaktfreudigen und geduldigen Menschen, mit vielen Flugblättern, Transparenten und Umzügen, mit zahlreichen Debatten und Informationen, mit handgewobenen Tüchern, selbst gefärbten Stoffen und einfachem Essen.

Das Weltsozialforum 2004, das am Mittwoch zu Ende ging, lieferte immerhin einen Vorgeschmack darauf. Bis zu 100.000 Menschen waren nach Bombay gekommen, um an mehr als tausend Podiumsdiskussionen, Work-shops und Seminaren teilzunehmen, Filmvorführungen und Theatervorstellungen zu besuchen, Gemälde-, Foto-, Plakatausstellungen und Videoinstallationen zu betrachten, Visitenkarten und Meinungen auszutauschen. Manche nahmen dafür lange Wege in Kauf – wie etwa die kleine Gruppe von Bauern aus dem indischen Bundesstaat Orissa, die einen Tag lang bis zur Bushaltestelle marschiert war, von dort einen halben Tag bis zum Bahnhof brauchte und dann dreissig Stunden im Zug sass. Da waren die besser gestellten Flugreisenden aus dem Westen schneller vor Ort.

Die Vernichtung der natürlichen Ressourcen, die Privatisierung der Wasserversorgung, die anhaltende Diskriminierung von Frauen und Minderheiten, Landraub und Hunger, Obdachlosigkeit und Kinderarbeit, Kastensystem und religiöses Sektierertum waren die wichtigsten Themen der einen (indischen) Seite – während die anderen, die aus dem Norden, vor allem den US-Militarismus, die Politik von Weltbank und Währungsfonds, die Rolle der Welthandelsorganisation WTO und der Gentech-Agrarkonzerne in den Mittelpunkt der vielen selbst organisierten Veranstaltungen rückten.

Natürlich traf man sich dabei. An der ersten grossen Diskussion über Lebensgrundlagen regte ein Inder die Gründung einer weltweiten Wasserbewegung an, informierte ein Brite über die verheerenden Umweltschäden des Bergbaus (in London sind die grössten Minenkonzerne der Welt ansässig), empfahl ein thailändischer Bauer den radikalen Verzicht auf chemische Düngemittel und das Saatgut der multinationalen Unternehmen, während José Bové, der französische Bauernführer, die europäische und US-amerikanische Agrarpolitik kritisierte und Medha Patkar, die mittlerweile legendäre Kämpferin gegen die gigantischen Staudämme am indischen Narmada-Fluss, eine flammende Rede gegen die Mega-Stromprojekte hielt: «Man kann Elektrizität nicht trinken!» Schön gesprochen, aber wusste man das nicht schon? Angela Rodrigues, die im indischen Bundesstaat Gujarat mit den Armen lebt und kämpft, kümmerte diese Frage jedoch wenig. Sie war einfach begeistert: «Hast du Medha gehört? Toll! Auch Bové war grossartig.» Die Reden haben ihr Mut gemacht.

Die grossen Unterschiede

Für ein paar Tage war die ganze Welt in Indien zu Gast, und die Menschen genossen das in grossen Zügen. Von der ersten bis zur letzten Minute zogen unzählige Gruppen kreuz und quer über das Forumsgelände, das früher einmal der New Standard Engineering Company gehört hatte, bevor das Grossunternehmen den Betrieb einstellte. Die vielen verschiedenen Organisationen der Dalits (die früher einmal Unberührbare hiessen) waren besonders aktiv; auch Gruppen der indigenen Adivasi-Bevölkerung zogen mit viel Vergnügen, vielen Transparenten, Trommeln und Sprechchören zwischen den Fabrikgebäuden hin und her.

Die Menschen zelebrierten ihren Widerstand, untermalten ihre Forderungen nach Gleichberechtigung und Menschenrecht mit grossem Getöse, und irgendwie feierten sie sich auch selber dabei. Diese in Indien nicht unübliche Form der politischen Manifestation war ihr Beitrag zum grossen Ereignis. Die bunte Menge ermunterte auch Gruppen zur Selbstdarstellung, die sich in Indien bis dahin kaum an die Öffentlichkeit gewagt hatten: HIV-infizierte Menschen, Schwule, Sexarbeiterinnen, Transvestiten. Die Leute feierten, demonstrierten und musizierten so ausgiebig, dass die Grossveranstaltungen in den ehemaligen Fabrikhallen (mit bis zu 4000 Sitzplätzen) oft gähnend leer wirkten und manche Seminare sogar ausfielen.

Vertreibung dank Kioto-Protokoll

Dabei hatten besonders die Work-shops viel zu bieten. So berichteten beispielsweise VertreterInnen der Waldbevölkerung aus den Bundesstaaten Madhya Pradesh, Chhattisgarh und Bihar über die Folgen der globalen Umweltpolitik. Sie seien schon früher vertrieben worden. Zuerst hatten die britischen Kolonialherren die Wälder abgeholzt, dann schlugen grosse Holzunternehmen riesige Schneisen in ihren Lebensraum, und ab Ende der achtziger Jahre verboten ihnen immer mehr Forstverwaltungen den Zutritt mit dem vorgeschobenen Argument, seltene Tier- und Pflanzenarten seien nur ohne die kultivierende Hand der dort lebenden Bevölkerung zu schützen. Seit der Weltklimakonferenz in Kioto ist nun eine neue Bedrohung hinzugekommen: der Handel mit Emissionsgutscheinen.

Um weiterhin fossile Energieträger verkaufen und verbrennen zu können, fördern multinationale Konzerne wie Exxon oder Shell und westliche Staaten den Aufbau von monokulturellen Baumplantagen in den Ländern des Südens oder lassen sich gegen Geld deren Emissionsabsorbtion gutschreiben. Folge: Die Bevölkerung wird wieder vertrieben. «Das ist kein Umweltschutz, sondern nur der profitable Schutz einer verschwenderischen Lebensweise», sagt das indische Forum der Waldbevölkerung und Forstarbeiter.

Viele Workshops dienten der Aufklärung und Information. Andere nutzten das globale Forum für die Vernetzung und Vertiefung ihrer Arbeit. So berieten Mitglieder der Coca-Cola-Kampagne aus aller Welt (von Kolumbien bis hin zu den Philippinen) über neue Massnahmen, so diskutierten städtische Abgeordnete aus Südafrika und Brasilien über eine Public-Public-Partnership zur Verteidigung der kommunalen Wasserversorgung, so sprachen Gewerkschaftsvorsitzende und -aktivistInnen aus Korea, Burma, Südafrika, Argentinien, Indien und Schweden über die Möglichkeiten einer intensiveren internationalen Kooperation. Und Mitglieder der Schweizer Delegation trafen sich mit Vertretern von Attac Deutschland und Interessierten aus anderen Ländern, um die überall gängige Steuerflucht von Grossunternehmen zu analysieren und Gegenstrategien zu debattieren.

Alle ForumsrednerInnen sprachen sich gegen die Dominanz der Märkte aus – aber so ganz aussperren konnte man den Markt dann doch nicht. In Indien sind viele nichtstaatliche Organisationen (NGOs) längst auch ein Business. Die NGOs prägten das Forum – ohne sie hätten sich viele indische TeilnehmerInnen die Reise und die Darstellung ihrer Arbeit nicht leisten können. Über 25.000 NGOs sind bei den Behörden registriert, damit sie von ausländischen Sponsoren unterstützt werden können. Manche nutzten das Forum, um einen groben Projektbeschrieb («Zweck der NGO: Hilfe für die Armen») samt Kontonummer an westliche Besucher zu verteilen. Einzelne Firmen offerierten sogar die Vermittlung von «integeren» Fachleuten auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit und boten Profis «von grosser Moral» ihre Hilfe bei der Suche nach geeigneten Hilfswerken und der Kontaktaufnahme mit dem «Establishment» an. Der Forumsidee hat dies freilich nicht geschadet. «Allein schon die Chance, dass sich so viele Initiativen und Bewegungen über alle Grenzen hinweg vernetzen können, hat Bedeutung – wo sonst ist das möglich?», sagte Pepo Hofstetter von Swisscoalition, der Arbeitsgemeinschaft der Schweizer Hilfswerke.

Wie weiter?

Aber wie kommen wir hin zur «anderen Welt»? Über konkrete Schritte wurde nur an wenigen Veranstaltungen gesprochen. Aber vielleicht ist eine Massenveranstaltung wie diese auch nicht der richtige Ort, um neue Konzepte zu entwerfen. Walden Bello (Philippinen) plädierte für eine Strategie des permanenten sozialen Kampfs auf lokaler und nationaler Ebene, der den Einfluss der internationalen Finanzinstitutionen bricht und zugleich regionale Gegenstrukturen sowie marginalisierte Uno-Einrichtungen wie die Internationale Arbeitsorganisation ILO stärkt. Nur so, sagt er, könne der Raum für eigene ökonomische und soziale Modelle geschaffen werden. Martin Albert (USA) erläuterte seinen Ansatz einer radikal partizipatorischen Ökonomie – das Ziel einer Abschaffung der Institutionen der Globalisierung allein reiche nicht aus, um die Menschen dauerhaft zu bewegen. Und George Monbiot (Britannien) schlug vor, ein Weltparlament zu schaffen, das kraft seiner moralischen Autorität zu einer Instanz heranwachsen könne, die auch die Mächtigen nicht ignorieren werden.

Solche Debatten gingen an den indischen AktivistInnen jedoch genauso vorbei wie so mancher Appell gegen die Besetzung des Irak. «Natürlich sind auch wir gegen Krieg und die globale Umweltzerstörung», sagte Lallubhai Desai, ein Schäfer aus Gujarat. «Aber die Kluft zwischen den gewaltigen Problemen der grossen Welt und unseren alltäglichen Sorgen ist zu tief. Da gibt es keine Vermittlungsinstanz. Die indische Mittelklasse und die Medien, die eine Verbindung herstellen könnten, interessiert das einfach nicht.» Ihm hat das Forum gut gefallen. Aber: «Ich glaube nicht, dass eine andere Welt möglich ist.» Das heisst natürlich nicht, dass er jetzt seinen Kampf um Weideland und Wasser bleiben lässt. In seiner kleinen Welt, davon ist er überzeugt, kann er viel verändern.

Wo also steht das Weltsozialforum? Bietet es der Kritik an der kapitalistischen Globalisierung und den vielen Initiativen vor allem eine Plattform und den Raum zur Selbstorganisation? Oder ist es mittlerweile selbst zur Bewegung geworden? Sollten nicht noch viel mehr Foren geschaffen werden – nicht nur nationale und kontinentale, sondern auch thematische (wie beispielsweise ein Forum zum Thema Baumwolle in Mali, wo zigtausende BaumwollproduzentInnen ihren Lebensunterhalt verlieren, weil die US-Regierung ihre Baumwollplantagen mit Milliarden subventioniert)? Braucht es nicht mehr und neue Aktionspläne? Soll man die Beteiligung an den künftigen Foren formalisieren, damit auch abgestimmt werden kann, wie Boaventura Santos (Portugal) vorschlug, oder wäre es nicht besser, den informellen Charakter beizubehalten und stattdessen häufiger in Krisensituationen zu intervenieren?

Vielleicht bräuchte es neben der Freude über die Vielfalt der Bewegungen und den breiten Konsens auf einer arg allgemein gehaltenen Basis auch mehr konstruktiven Dissens. Der Slogan von der «anderen Welt» erlaubt es schliesslich, dass sich darunter alle alles vorstellen können. «Auch George Bush hält eine andere Welt für möglich», sagte die indische Schriftstellerin Arundhati Roy an der Auftaktveranstaltung, «nämlich eine Welt, in der die Widerspenstigen – und das sind wir – sofort diszipliniert werden.» Roy schlug gleich eine Gegenmassnahme vor: «Wir sollten zwei US-Unternehmen auswählen, die vom Irakkrieg profitiert haben, ihre Niederlassungen und Produkte in aller Welt auf eine Liste setzen, und die Konzerne einfach dichtmachen.» In den folgenden Tagen war von dieser Idee nicht mehr viel zu hören. (pw)


Die anderen Foren

Das Weltsozialforum (WSF) war nicht das einzige Treffen in Bombay. Nur vierhundert Meter vom WSF-Tagungsort entfernt versammelten sich zur gleichen Zeit eine Reihe von indischen, philippinischen, nepalesischen, griechischen und türkischen Parteien und Gewerkschaften zu einem Gegenforum unter dem Titel Mumbai Resistance 2004.

Das Weltsozialforum sei zu sozialdemokratisch orientiert und würde vor allem von NGOs getragen, die ihrerseits von «imperialistischen Organisationen» Geld erhalten, argumentieren die Mumbai-Resistance-OrganisatorInnen. Die NGOs würden die unterdrückten Völker in kleine Interessengruppen und Gemeinschaften mit Sonderproblemen spalten, statt den kollektiven Kampf aller voranzutreiben: Sie dienten den Mächtigen als Sicherheitsventil, verliehen der Globalisierung lediglich ein menschliches Antlitz und trügen durch ihre politische Enthaltsamkeit zur Entpolitisierung der Massen bei. Die Alternative könne nur im antiimperialistischen, internationalen Klassenkampf bestehen. Mehrere WSF-RednerInnen (darunter Arundhati Roy) traten auch auf dem Gegenforum auf.

Ein paar Kilometer weiter weg hatte sich die indische Landbewegung Ekta Parishad («Forum für Einheit») eingerichtet. Ekta Parishad kämpft seit langem für die Rechte der Landlosen und ist in acht indischen Bundesstaaten aktiv. Finanziert wurde das Forum von den Hilfswerken Swissaid, Novib (Niederlande) und Oxfam (Britannien). Warum ein eigenes Fest? Ekta-Parishad-Koordinator P.V. Rajagopal: «Wir wollten uns etwas abseits des Trubels treffen, um unsere Belange in Ruhe diskutieren zu können. Auf dem WSF-Gelände wäre auch gar kein Platz für so viele Menschen gewesen. Aber die Nähe zu Mitgliedern anderer Landlosenbewegungen wie beispielsweise denen in Brasilien und Kolumbien war uns wichtig, da wir eine internationale Landbewegung gründen wollen.» (pw)