Indien: Das Ende der Massenmobilisierung

Eingebunden und gezähmt

15. Januar 2004 | Kaum irgendwo sonst sind so viele Massenbewegungen aktiv wie in Indien. Doch die grosse Zeit der Mobilisierung scheint vorbei – auch dank den NGOs.

Text: Joseph Keve, Bombay, Übersetzung: Pit Wuhrer

In den nächsten Tagen wird in Bombay (oder Mumbai, wie die hinduistisch-chauvinistische Partei Shiv Sena die Stadt gern genannt haben möchte) das Weltsozialforum (WSF) stattfinden. Die OrganisatorInnen erwarten, dass sich rund 75 000 Menschen an Debatten über Themen wie Globalisierung, Militarismus, Rassismus oder Kastengesellschaft beteiligen. Die lange Geschichte der sozialen Bewegungen in Indien hat wohl den Ausschlag dafür gegeben, dass sich die OrganisatorInnen dieses Jahr für die indische Finanzmetropole Bombay entschieden haben (die letzten Jahre wurde das Forum im brasilianischen Porto Alegre abgehalten). Aber wie sieht diese Geschichte aus?

Die von Mahatma Gandhi geführte Unabhängigkeitsbewegung war beispielgebend für alle nachfolgenden sozialen Bewegungen. In den fünfziger und sechziger Jahren bemühten sich verschiedene soziale und religiöse Reformer, die Verhältnisse zu verändern; ihr Einfluss blieb aber auf die jeweiligen Gemeinschaften beschränkt. Dennoch konnten einige Organisationen einen Trend setzen. Die Büchereibewegung und die Schulungskampagnen von Kerala Shastra Sahitya Parishad (KSSP) zum Beispiel initiierten eine stille Revolution auf dem Bildungssektor, obwohl die KSSP nur im Bundesstaat Kerala aktiv war. Ab den sechziger Jahren wuchs auch die Gewerkschaftsbewegung, obwohl sie sich auf die fest angestellten Beschäftigten beschränkte. Auch die Genossenschaftsbewegung erlebte eine Zeit der Blüte, konnte aber keine eigenen ideologischen und politischen Ansätze entwickeln und wurde allmählich von politischen Parteien und den Gewerkschaften geschluckt. Die Gewerkschaften wiederum verbanden sich zumeist mit etablierten politischen Organisationen wie der Kongresspartei und verloren bald an Einfluss.

In den achtziger Jahren entstanden neue Bewegungen unter den Unorganisierten, die anfangs vor allem von jenen Menschen getragen wurden, die von riesigen Bauprojekten betroffen waren. Zwei von ihnen wurden im Laufe der Zeit immer stärker: Narmada Bachao Andolan (NBA), die Bewegung «Rettet den Narmada», und das Nationale FischarbeiterInnen-Forum (NFF). Die NBA wuchs aus dem lokalen Widerstand gegen das gigantische Staudammprojekt am Narmada-Fluss hervor und entwickelte sich zu einer breiten nationalen Koalition zum Schutz der Umwelt und zum Kampf gegen alle Megaprojekte, die die ortsansässige Bevölkerung vertreiben und die Umwelt gefährden. Das NFF gewann ebenfalls rasch nationale Bedeutung. In allen Küstenstaaten des Landes entstanden Gruppierungen, die die Interessen all jener vertreten, die vom Fischfang oder vom Fischhandel leben. Auch andere marginalisierte Bevölkerungsgruppen versuchten sich immer wieder zu organisieren – die Scheduled Tribes (die «registrierten Stämme» der UreinwohnerInnen), die Scheduled Castes (die «registrierten Kasten» derer, die am unteren Ende der Kastengesellschaft die Drecksarbeit erledigen), die ZwangsarbeiterInnen, die GrubenarbeiterInnen und andere benachteiligte Berufsgruppen. So wuchs über Jahrzehnte hinweg mit dem sozialen, ökonomischen und politischen Druck auch der Widerstand.

Neue Bedingungen

All das änderte sich jedoch mit der Lawine, die die Globalisierung auslöste. Es entstand eine völlig neue Situation, die alle Bevölkerungsgruppen erfasste und das bis dahin gültige Denken über den Haufen warf. Geld und Märkte, Handel und Profit, Geschwindigkeit und Effizienz wurden zu Schlüsselwörtern nicht nur für den Erfolg, sondern für das Überleben. Selbst unter den Ärmsten wären heute viele bereit, die Forderung nach Gerechtigkeit, Frieden und nachhaltiger Entwicklung fahren zu lassen. Auch sie begeistert die Vorstellung, schnell reich zu werden – egal zu welchen Kosten und mit welchen Konsequenzen. So erwarten mittlerweile die Mitglieder der meisten Angestelltengewerkschaften und sogar einiger ArbeiterInnengewerkschaften von ihrer Führung einen sozialpartnerschaftlichen Kurs, der sich an den Interessen der Unternehmer orientiert. Gleichzeitig haben viele SozialaktivistInnen und Radikale ihren Idealismus verloren.

Während früher die Armen nach Veränderung gierten, scheint heute die grosse Herausforderung darin zu bestehen, die Armen überhaupt von der Notwendigkeit eines Wandels zu überzeugen und sie zu mobilisieren. Worin also könnte die Rolle sozialer Bewegungen in der globalisierten politischen Ökonomie bestehen? Werfen wir einen Blick zurück. Während der Unabhängigkeitsbewegung hatte Gandhi beschlossen, mit den Armen zu leben und mit ihnen zu kämpfen. «Solange der letzte meiner Landsleute kein Kleid hat, um seine Nacktheit zu bedecken, werde ich mir keinen zweiten Rock zulegen», antwortete er einmal auf die Frage, warum er immer den gleichen Lendenschurz trage. Seine Anhänger machten einen Heiligen aus ihm, sein Lebensstil hatte jedoch bald nur noch Erinnerungswert.

Natürlich gab es weiterhin einige Pioniere der freiwilligen Arbeit, die unter den Armen lebten, mit ihnen litten, sie über ihre Rechte informierten und mit ihnen kämpften. Dieser Freiwilligenarbeit wurde jedoch bald ein Regelsystem übergestülpt, das die AktivistInnen hinnahmen: Sie liessen sich registrieren, weil sie legal nur dann Versammlungen abhalten, Märsche organisieren und Informationen verbreiten durften, wenn sie Inspektionen der Behörden akzeptierten. Mit der Registrierung wuchs freilich auch der Wunsch nach Büroräumen und deren adäquater Ausstattung – und so wurden aus vielen informellen Initiativen und Bewegungen allmählich nichtstaatliche Organisationen (NGOs). Dies schuf ein neues Dilemma: Die NGOs glaubten, ohne Geld, Büros, Angestellte, Fahrzeuge und Einfluss nichts mehr bewegen zu können. Heute nennen sie sich «professionelle Sozialarbeiter». Aber sie haben im Laufe ihres Aufstiegs die Armen hinter sich gelassen. Sie predigen den sozialen Wandel und können nicht ganz verstehen, weshalb die Armen sich nicht an ihren Foren, Workshops, Kundgebungen und Kampagnen beteiligen. Das Schlagwort lautet «Partizipation der Bevölkerung». Alle schwören darauf. Die Geldgeber bestehen darauf. In allen Berichten ist ständig die Rede davon. Da die NGOs jedoch nicht mehr auf Freiwilligenarbeit setzen und nicht mehr mit den Armen leben, verpuffen ihre Programme. Manche soziale Bewegungen haben für ihre Verbindungen zu den NGOs oder ihre Umwandlung in eine NGO teuer bezahlt: Einige sind nur noch ein Schatten ihrer selbst, was ihre Mobilisierungskraft betrifft. Die meisten NGOs beteuern zwar, dass sie die sozialen Bewegungen geschaffen, zumindest gestärkt haben. Tatsächlich aber kann eine Volksbewegung nicht von aussen angestossen und aufgebaut werden – sie kann nur aus dem Wunsch der Gemeinschaft nach sozialer und struktureller Veränderung entstehen.

Politische Abstinenz

Diese Entwicklung hat dazu beigetragen, dass die Armen in Utopien, also im mühsamen Kampf um Veränderung, keinen Sinn mehr erkennen, stattdessen schnelle Resultate wollen und nur noch schwer zu motivieren sind. Andererseits operieren die globale Wirtschaft und die globale Politik in einem völlig neuen Kontext, in dem Werte wie Freiheit und menschengerechte Entwicklung die Relevanz verloren haben. Dennoch gibt es Raum für Intervention, etwa durch die direkte politische Partizipation. Leider verharren viele Organisationen und Bewegungen am Rande der Politik – trotz der numerischen Macht der WählerInnen, die sie zu vertreten vorgeben. Viele NGOs und soziale Bewegungen enthalten sich der politischen Stellungnahme auch deswegen, weil ihnen vor allem die eigene Sicherheit am Herzen liegt - sie wollen die guten Beziehungen mit der Regierung nicht aufs Spiel setzen, ihre Registrierung nicht gefährden, ihre hart erarbeiteten «guten Beziehungen» nicht riskieren. Man kann aber keinen Krieg gewinnen, wenn man sich vor jeder Schlacht drückt. Sie vergessen dabei, dass die effektivsten Anführer von Bewegungen (wie etwa Gandhi oder Nelson Mandela) sich nie registrieren liessen und auch nie um offizielle Erlaubnis für das baten, was sie taten.

Dazu kommt, dass sie keine konkrete Alternative anzubieten haben. Als Anfang der neunziger Jahre mit der Deregulierung in Indien die ersten wirtschaftsliberalen Reformen eingeleitet wurden, diskutierten NGOs, Gewerkschaften und linke Parteien in Workshops und Seminaren die möglichen Konsequenzen dieses Wandels. Auf die Idee, die Mitglieder zu informieren und mit ihnen zusammen über Alternativen und eine Gegenwehr auf lokaler und regionaler Ebene nachzudenken, kamen nur die wenigsten. Folglich blieb den Arbeiterinnen, den Bauern, den Landlosen nichts anderes übrig, als sich mit der neuen Realität zu arrangieren. Als dann Ende der neunziger Jahre die zweite Reformwelle in Form einer Öffnung der Märkte anrollte, konnten diese Gruppen nur noch dafür plädieren, dass man die soziale Sicherheit der Armen doch bitte schön nicht ganz aus den Augen verlieren möge.

Die Rolle der Hilfswerke

Die westlichen Hilfswerke konnten dem schon deshalb nichts entgegensetzen, weil sie noch weiter von der Realität entfernt sind als viele NGOs, die sie unterstützen. Manche von ihnen träumen heute noch von Verhältnissen wie jenen im Nachkriegseuropa, als sozialdemokratische Parteien und Gewerkschaften einen Wohlfahrtsstaat durchsetzen konnten. Sie vergessen dabei, dass der westeuropäische Sozialstaat damals erkämpft wurde (von GewerkschaftsaktivistInnen und sozialistischen Gruppierungen, nicht von NGOs und deren Gönnerorganisationen), dass Massenproduktion und Grossfabriken die gewerkschaftliche Organisierung erleichterten und dass demokratische Institutionen mit einer sozialdemokratischen Ausrichtung politische Bewegungen zumindest nicht behinderten. Heute sieht es in Europa ganz anders aus – und erst recht in den Ländern der Dritten Welt. Hier hat die mittlerweile ebenfalls innige Verbindung von Staat und Wirtschaft den Regierungsparteien dank Bestechungsgeldern zu einigem Reichtum verholfen, den sie zum Zweck des Machterhalts teilweise an Wahlkreisorganisationen und ihre Klientel weiterreichen.

Es gibt immer eine Alternative. Anders als in den letzten Jahrzehnten müssen jedoch die Armen im Mittelpunkt stehen. Über 68 Prozent der indischen Bevölkerung und über 75 Prozent der Armen leben auf dem Land. In den letzten Jahrzehnten haben Gewerkschaften, linke Parteien und NGOs den Agrarsektor vernachlässigt. Die Dorfbevölkerung aber gehört zu den ersten Opfern der Globalisierung, der offensiven Marketingstrategien der multinationalen Agrarkonzerne und der neuen Patentgesetze, die die traditionelle Landwirtschaft aushebeln.

Immer mehr indische Bauern bringen sich um, weil sie keinen Ausweg mehr sehen. Sie hatten den Versprechungen der westlichen Agrarunternehmen geglaubt und in Erwartung besserer Ernten bei Geldverleihern das Kapital für Dünger, Unkrautvernichtungsmittel und neues Saatgut besorgt. Doch der Erlös war lange nicht so gross wie erhofft. Hoffnungslos verschuldet, sahen sie keinen anderen Ausweg. Millionen geht es ähnlich; sie suchen nach Wegen, um dem teuflischen Kreislauf Verschuldung – Fehlernte – noch grössere Verschuldung zu entkommen. Organisiert entlang selbstbestimmten Strukturen könnten sie Entwicklungsmodelle schaffen, die weit über den lokalen Rahmen hinaus wirken. Hilfswerke und NGOs könnten dabei eine wesentliche Rolle spielen. Nicht als Geldgeber und Programmentwickler, sondern indem sie ein politisch-soziales Umfeld bereiten, das die Selbstorganisation erleichtert.

Das Beispiel CMM

Viele soziale Freiwilligen-Organisationen haben ihren Bewegungscharakter verloren. Nicht so Chhattisgarh Mukti Morcha (CMM), ein Dachverband zahlreicher Basisinitiativen in Chhattisgarh, einem zwar rohstoffreichen, aber armen indischen Bundesstaat. CMM entstand Ende der siebziger Jahre aus dem Widerstand von Tagelöhnern gegen ihre Ausbeutung durch Grubenbesitzer und Stahlfabrikanten. Die Gewerkschaften der fest angestellten Berg- und Stahlarbeiter hatten die Interessen der Tagelöhner nie vertreten, da sie in ihnen nur eine unliebsame Konkurrenz sahen. Nach einem ersten Streik und einem Polizeieinsatz, bei dem elf Arbeiter erschossen wurden, gründeten die Unorganisierten eine eigene Gewerkschaft, die sich schnell vom bisherigen Vertretungskonzept abwandte: Sie begriff die Arbeiter nicht nur als Lohnabhängige, sondern als Mitglieder einer Gemeinschaft und sich selber nicht nur als Arbeiterorganisation, sondern als Bewegung, die alle ausbeuterischen Strukturen bekämpt und auch die Interessen der Bauern, der Landlosen, der Frauen, der Jugendlichen vertritt. Unter Führung von Shankar Guha Niyogi (er wurde 1991 von Killern erschossen, die ein Unternehmer angeheuert hatte) baute die Bewegung eine eigene, alternative Gesellschaft auf. Sie gründete selbst verwaltete Primarschulen (die vorwiegend von Mädchen besucht werden), entwickelte ein selbständiges Gesundheitswesen samt eigenem Spital, förderte Werkstätten zur Entwicklung eines humanen Technologiekonzepts (weil neue Maschinen immer nur für Massenentlassungen eingesetzt wurden) und beteiligt sich auch an Wahlen.

Die Struktur der Bewegung entspricht dem Rätesystem mit rechenschaftspflichtigen Deputierten. Derzeit beschäftigt sich die kollektive Führung von CMM vor allem mit der Herausforderung durch die auch in Chhattisgarh florierenden NGOs. Sie befürchtet durch deren unpolitische Herangehensweise eine Stärkung des Status quo: Die NGOs dienten den Machthabern nur zur Legitimation der bestehenden Verhältnisse. Eine allzu enge Zusammenarbeit, davon sind viele CMM-AktivistInnen überzeugt, könnte den eigenen radikalen Ansatz verwässern.