Britannien: Docker gründen eigene Firma

Und jetzt die Selbstverwaltung

30. April 1998 | Vor drei Monaten gaben die Liverpooler Hafenarbeiter auf. Sie haben ihre Jobs nicht zurückbekommen, dafür aber viel Erfahrung gesammelt. Die nutzen sie jetzt.

Anfang des Monats verlor auch Sylvia Tye ihren Job. Zwanzig Jahre lang hat sie im Krankenhaus Fazakerley in Liverpool gearbeitet, und jetzt steht sie draussen vor der Tür – mitsamt ihren 39 Kolleginnen, die ebenfalls entlassen wurden. Auch andere protestieren an diesem Morgen: VertreterInnen der örtlichen Arbeitsloseninitiative, Mitglieder der Gewerkschaft der öffentlichen Dienste Unison und eine Abordnung der Liverpooler Hafenarbeiter.

Seit fast dreissig Tagen sind die Frauen hier, weil die neue Firma RCO mit ihnen nichts zu tun haben will. Da das staatliche Gesundheitswesen NHS zunehmend Fremdfirmen in den Spitälern beschäftigt, kommt es immer wieder vor, dass die Arbeitgeber wechseln; aufgrund einer EU-weiten Regelung haben diese Firmen bisher jedoch die alten Belegschaften zu den alten Bedingungen übernommen. Nicht so RCO – und deswegen stehen sie nun hier.

Sylvia Tye arbeitete zwanzig Stunden in der Woche und bekam für die Stunde 3,75 Pfund Lohn, das sind rund 11,10 D-Mark (dazu fünf Wochen Ferien, Krankengeld, Beriebsrente). RCO zahlt 9 Mark, zwei Wochen Ferien, kein Krankengeld, keine Betriebsrente. Frau Tye trug also Woche für Woche die Summe von 223 Mark nach Hause. Vor ein paar Jahren war ihr Lohn Zustupf für die Familienkasse gewesen, ab September 1995 musste sie damit jedoch die Familie durchbringen: Mickey Tye, ihr Ehemann, ist einer der knapp fünfhundert Liverpooler Docker, die damals entlassen wurden, weil sie die Einführung des Tagelohns im Hafen blockieren wollten.

28 Monate Kampf

«Was mit uns passiert ist, macht nun Schule», sagt Mickey Tye, «schlechte Arbeitsbedingungen werden durch noch schlechtere ersetzt.» Tye arbeitet im grossen Sitzungszimmer des Gewerkschaftshauses der TGWU in Liverpool; die Docker hatten den Raum kurz nach ihrem Rauswurf okkupiert, und halten ihn immer noch besetzt, obwohl sie ihren langen Kampf vor drei Monaten aufgeben mussten.

An den Wänden hängen Grussadressen aus aller Welt, Plakate, Fotos und ein grosses rotes Banner der japanischen Hafenarbeiter. Die Docker haben viel zu tun derzeit. Da ist zum Beispiel der grosse Kampf der australischen Hafenarbeiter, die von der Regierung in eine epochale Schlacht gezwungen wurden. Die Australier waren die ersten gewesen, die den Liverpooler Kollegen halfen, Geld schickten und Schiffe boykottierten. Klar, dass sie jetzt unterstützt werden müssen. Mickey Tyes Aufgabe ist nun, genügend Geld aufzutreiben, um eine Delegation von «Down Under» nach Britannien zu holen. Die australischen Docker hätten gute Chancen, sagt er, jedenfalls bessere als sie selber: «Die werden von ihrer Gewerkschaft unterstützt.»

Ende Januar war den Liverpooler Dockern der Atem ausgegangen. 28 Monate lang ignorierten sie die Abfindung (durchschnittlich 84.000 Mark), die ihnen immer wieder angeboten wurde. 28 Monate lang standen sie vor den Docks, besetzten Kräne, schickten Streikposten in andere Häfen. Zweimal streikten Hafenarbeiter in über zwanzig Ländern zugunsten der Liverpooler (eine so breite internationale Solidarität hat es seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben).

Alleingelassen von Labour und der Gewerkschaft

Doch ihre eigene Gewerkschaft hintertrieb alle Bemühungen, und Tony Blairs Labour-Partei wollte nichts von ihnen wissen. Dabei hätte Blair nach seinem Wahlsieg durchaus intervenieren können: Die Regierung war grösste Aktionärin der Mersey Docks and Harbour Company (MDHC). Statt dessen untersagte die Parteizentrale neugewählten Abgeordneten den Kontakt zu den Dockern – zwei Liverpooler Labour-Parlamentarierinnen, die neu ins Unterhaus gekommen waren, lehnten es ab, mit den Shop Stewards auch nur zu reden.

Anfang letzter Woche verkaufte die Regierung ihre MDHC-Anteile für 216 Millionen Mark. Die Provisionen für die vier mit der Transaktion befassten Banken dürften deutlich über dem Anteil liegen, den die Arbeiter als Abfindung erhielten.

Aber der Arbeitskampf ist nicht zu Ende. Während Mickey Tye im Nebenzimmer die Rundreise für die australischen Kollegen organisiert, diskutieren Mike Carden, Bobby Morton, Terry Teague und andere über die nächsten Schritte ihrer vor kurzem gegründeten Genossenschaft. Für sie ist das eine ganz neue Idee: Docker bieten im Rahmen einer selbstverwalteten Firma ihre Dienste an. Und warum auch nicht? Sie haben Erfahrung und sind hochqualifiziert: Die Schifffahrtsfachzeitung «Lloyd's List» hatte die Liverpooler kurz vor ihrer Entlassung noch als «die besten Hafenarbeiter Europas» gefeiert. Doch die Verhandlungen mit potenziellen Kunden ziehen sich hin, es werden auch nicht alle im Hafen Arbeit finden. Deswegen versucht die Kooperative Weiterbildungskurse zu organisieren, die vom Staat bezahlt werden.

Aktive WoW-Frauen

Auch die Women of the Waterfront (WoW) sind noch da. Ohne die Unterstützung ihrer Frauen hätten die Docker wohl früher aufgegeben. Der Entschluss «tat in der Seele weh», sagt Doreen McNally, «aber er war vernünftig. Ausserdem wissen wir ja, wem wir die Niederlage zu verdanken haben.» Sie waren bei jedem Wetter am Hafen auf Streikposten gewesen, sie hatten auf Kundgebungen gesprochen, Geld gesammelt – und mussten dann erkennen, «dass wir verloren haben: Das war sehr schmerzhaft.»

Doch sie treffen sich weiterhin jeden Montagabend, rund sechzig Frauen versammeln sich regelmässig in der Liverpooler Gewerkschaftszentrale Transport House, fast so viele wie früher. Einige schreiben gerade ihre Erfahrungen auf, um sie später auf einer CD-Rom zu publizieren; eine zweite Gruppe arbeitet an einem Drehbuch für den TV-Sender Channel 4; mehrere Frauen besuchen Computerkurse; andere wiederum organisieren Kampagnen gegen die britischen Gewerkschaftsgesetze.

Mit diesen Gesetzen verstösst London gegen eine ganze Reihe internationaler Übereinkommen, die von Britannien unterzeichnet wurden – etwa der Konvention 87 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, die Organisationsfreiheit garantiert. Doch Blairs Regierung hält weiter an ihnen fest. «Auf internationaler Ebene sind das Verbrecher», sagt Doreen McNally. Die sechzigjährige Frau kümmert sich vorwiegend um ihren alten Vater, der im Rollstuhl sitzt.

Und doch hat sie bereits im letzten Jahr, früher als viele andere, Aufrufe gegen das Multilaterale Investitionsabkommen (MAI) lanciert und eine Kampagne gegen die britischen Gewerkschaftsgesetze begonnen. Die Regierung müsse endlich akzeptieren, dass auch ArbeiterInnen Grundrechte haben, sagt sie. Die WoW-Frauen wurden von vielen GewerkschafterInnen zu 1.-Mai-Kundgebungen eingeladen. An diesem Wochenende treten sie im ganzen Land auf; dann stehen sie wieder vor dem Krankenhaus in Fazakerley. (pw)