>

Britannien: Wie antisemitisch ist Corbyn?

Eine durchsichtige Kampagne

16. August 2018 | Der Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn steht unter gehörigem Beschuss – und zwar von vielen Seiten. Was ist dran an den Vorwürfen?

Es hört einfach nicht auf. Seit Wochen schon kennen die vorwiegend konservativen britischen Medien nur zwei Themen. Den Brexit, den offenkundig finstere Mächte dem Volk stehlen wollen (derzeit mobilisieren Brexit-GegnerInnen verstärkt für ein zweites Referendum über den Austritt aus der EU). Und den Antisemitismus der oppositionellen Labour-Partei und insbesondere den des Vorsitzender Jeremy Corbyn.

Anfang dieser Woche tauchte wieder eine dieser Geschichten auf, die alle sofort in Aufregung versetzen, die Kommentarspalten füllen – und Labour bei einem Teil des Publikums schaden. Diese Geschichte handelt von einer Friedenskonferenz 2014, zu der der damalige tunesische Präsident Moncef Marzouki, ein anerkannter Menschenrechtler, auch den seinerzeitigen Hinterbänkler Corbyn eingeladen hatte. Ziel der Tagung in Tunis war, eine Einigung der verschiedenen palästinensischen Fraktionen und Bewegungen herbeizuführen – und da dachte Corbyn, der unermüdliche Verfechter von Frieden und Abrüstung, von Solidarität und Gerechtigkeit, seinen Beitrag leisten zu können.

Ob ihm das gelang, interessierte freilich niemand. Denn am Rande dieser Konferenz kam es auch zu einer Kranzniederlegung am Mahnmal zum Gedenken an die mehreren Dutzend Opfer eines israelischen Luftangriffs 1985 auf das damalige Hauptquartier der PLO in Tunis. Dabei legten TagungsteilnehmerInnen auch einen Kranz vor die Gräber von Salah Khalaf und Atef Bseiso, beides Stellvertreter des PLO-Chefs Yassir Arafat. Klalaf, der 1991 getötet wurde, soll Mitbegründer der militanten Organisation Schwarzer September gewesen sein; Bseiso, so heißt es, habe beim Attentat während der Olympischen Spielen in München 1972 mitgewirkt. Und Corbyn? Der hatte zwar als Konferenzdelegierter an der Zeremonie teilgenommen (Fotos zeigen ihn am Rand des Geschehens). Aber er selber seit an dem Akt selber aber «nicht beteiligt» gewesen, wie er jetzt schrieb.

Eine plausible Aussage. Wenn die Kranzniederlegung tatsächlich eine so hochrangige Solidaritätsbekundung für den «internationalen Terrorismus» war, wie jetzt behauptet wird: Hätte da ein Nobody – und das war Corbyn damals – die Fäden ziehen können und in erster Reihe stehen dürfen?

Den Platz in der ersten Reihe hat Corbyn ohnehin nie gesucht. Er verstand sich eher als Basispolitiker, als einer, der auf Friedensdemos und Gewerkschaftskundgebungen zu finden war, der in seinem Londoner Wahlkreis Islington die Belange der Armen und Lohnabhängigen vertrat, der in den achtziger und neunziger Jahren regelmässig (und manchmal auch allein) vor der südafrikanischen Botschaft gegen das Apartheid-Regime protestierte, der früher als andere für eine politische Lösung des Nordirlandkonflikts eintrat. Und dem zwar oft politische Naivität und das Festhalten an altbackenen Grundsätzen vorgehalten wurde, aber bis vor kurzem nie Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit. Das änderte sich erst, als ihn eine Bewegung, die niemand vorhergesehen hatte, an die Spitze der Labour-Partei katapultierten.

Scheinheilige Vorwürfe

In seiner neuen Funktion ist das anders. Kaum machte die Tunis-Geschichte die Runde, verlangte der konservative Innenminister Sajid Javid seinen Rücktritt. Auch Benjamin Netanjahu attackierte Corbyn: Er habe den Münchner Attentätern gehuldigt, twitterte der israelische Ministerpräsident, der Gaza bombardieren lässt, den illegalen Siedlungsbau auf palästinensischem Gebiet weiter vorantreibt und zum ungarischen Ministerpräsidenten gute Beziehungen unterhält – zu Viktor Orbán also, der mit seinen Attacken auf George Soros zuletzt einen ziemlich antisemitischen Wahlkampf führte.

Als basisorientierter linker Politiker war Corbyn früher (und auch heute noch) auf zahllosen Veranstaltungen und Podiumsgesprächen zu finden, darunter auch zum Thema Solidarität mit Palästina. Dass er nicht wählerisch genug gewesen sei, mit wem zusammen er da auftrat, war früher manchmal bemängelt worden. Mittlerweile aber werden diese Vorwürfe heftiger – und bizarrer. So machte Anfang August erneut eine alte Geschichte die Runde. Im Januar 2010 hatte Corbyn eine Podiumsdiskussion mit dem Titel «Der Missbrauch des Holocausts für politische Zwecke» moderiert; Hauptreferent war Hajo Meyer, der über «Niemals wieder für niemanden – Auschwitz und Gaza» sprach.

Corbyn habe den Redner nicht gestoppt, heißt es jetzt. Aber hätte er den 2014 gestorbenen Meyer tatsächlich unterbrechen sollen? Immerhin war der ein Auschwitz-Überlebender gewesen, der in seinem Referat vor allem darüber sprach, dass es ihm – der den Holocaust durchlitten hat – unmöglich sei, zum Vorgehen des israelischen Staats in Palästina zu schweigen.

Zweierlei Maß

Dass in der öffentlichen Debatte zum Thema Israel-Palästine mit zweierlei Maß gemessen wird, ist nicht neu. Als beispielsweise Tony Blair 2014 einen Kranz bei der Beerdigung von Ariel Sharon niederlegte, der für das Massaker von Shabra und Shatila 1982 verantwortlich war, bei dem 3500 palästinensische Flüchtlingen getötet wurden, gab es keinerlei Aufschrei – jedenfalls nicht in Britannien.

Wenn hingegen Corbyn an die Opfer der israelischen Politik erinnert, toben die Blätter: Sich auf die Seite der israelischen BesatzerInnen zu schlagen (wie das alle westliche Regierungen tun), gilt als ehrenwert. Mit den palästinensischen Opfern Solidarität zu zeigen, wird verdammt. Und dass es einen Unterschied zwischen Antisemitismus (die Ablehnung der Menschen jüdischen Glaubens oder Herkunft) und Antizionismus (die Ablehnung der israelischen Politik in der Region) gibt, spielt zumeist ohnehin keine Rolle mehr.

Corbyn versicherte während der Debatte über die Veranstaltung 2010: Er habe die Meinung von Hajo Meyer nie vertreten und teile sie auch nicht. Geholfen hat ihm das wenig – auch deswegen nicht, weil es nicht um ihn als Person geht, sondern um das, was er repräsentiert: Den Wunsch vieler BritInnen nach radikalem Wandel, sozialer Gerechtigkeit, Rücknahme der Privatisierungen, gerechter Besteuerung, ökologischem Kurswechsel, Abrüstung. Also nach einer Politik, die den Einfluss der bisherigen Elite in Politik und Gesellschaft drastisch einschränkt.

Zu der gehören auch die Konservativen. Weil Labour unter seiner Führung ihnen laut Umfragen bedrohlich nahe kommt, hauen die Tories mächtig auf die Pauke: Corbyn sei untragbar für das Land, sagen jetzt PolitikerInnen, von denen keine Kritik kam, als sich der Tory-Hardliner und Ex-Außenminister Boris Johnson mit Steve Bannon traf. Also jenem umtriebigen Verschwörungstheoretiker und Ex-Berater von US-Präsident Donald Trump, der enge Beziehungen zur rechtsextremen und antisemitischen English Defense League unterhält und auf seiner Website einst vor der «polnischen Elite der amerikanischen Juden» warnte.

Es geht also nicht um Antisemitismus. Auch nicht bei Corbyns parteiinternen GegnerInnen, die ständig vor laufenden Kameras sagen, dass sich ihr Vorsitzender für dieses oder jenes zu entschuldigen habe, dass er seine politische Haltung korrigieren müsse, dass sein «Antisemitismus» der Partei belaste. Die Kritik kommt dabei nicht zufällig aus jenen Kreisen, die den neuen Parteichef immer noch ablehnen – obwohl er zweimal die Mitgliederwahl zum Vorsitzenden mit großer Mehrheit gewann und obwohl er bei der Wahl 2017 ein von niemandem für möglich gehaltenes Ergebnis erzielte. Rund zwei Drittel der Labour-Abgeordneten im Unterhaus würden Corbyn lieber heute als morgen von hinten sehen.

Was manche von ihnen wirklich umtreibt, ist etwas anderes. In einem unbedachten Moment hat dies beispielsweise Ian McKenzie formuliert, ehrenamtlicher Präsident der Lewisham East Labour Party. Der Antisemitismus-Vorwurf, twitterte er, könne mehr erreichen als andere Anschuldigungen (wie die Unterstützung der IRA). «Wir haben [jetzt] eine reale Chance, Sitze im NEC zurückzugewinnen.» In den NEC, den nationalen Labour-Vorstand, waren zuletzt vor allem Linke gewählt worden.

Es war vorhersehbar

Natürlich gibt es auch bei Labour – wie in vielen linken Parteien anderswo – antisemitische Töne. Militante VertreterInnen der Palästina-Solidarität reden von «den Juden», wenn sie den israelischen Staat meinen; andere schwadronieren sogar von einer «jüdischen Kontrolle über die Banken». International Schlagzeilen machte etwa der Fall Ken Livingstone. Der prominente Labour-Linke und frühere Londoner Oberbürgermeister hatte vor Jahren Hitler mit dem Zionismus in Zusammenhang gebracht, weil auch dieser ein «jüdisches Homeland» befürwortet habe. Seine Mitgliedschaft wurde 2016 suspendiert, einem möglichen Parteiausschluss kam er im Mai 2018 zuvor: Er trat aus.

Ist die Labour-Führung antisemitisch? Sicher nicht. Geht sie zu lax mit dem Thema um? Da gibt es für Corbyn, seinen Stellvertreter John McDonnell und den NEC noch einiges zu tun – und zwar nicht nur, weil sich zahlreiche jüdische Verbände und inzwischen auch Vorstände von moderaten Gewerkschaften distanzieren. In einem gemeinsamen Editorial hatten kürzlich drei eher konservative britisch-jüdische Zeitungen Corbyn eine «existentielle Bedrohung für Juden» genannt. Die Kampagne ist also massiv – und sie trifft auch JüdInnen. Gruppierungen wie Jewish Voice for Labour, so heißt es immer öfter, seien eigentlich keine wirklich jüdischen Organisationen. Sonst würden sie nicht zu Corbyn stehen.

Im August 1915, also vor Corbyns Wahl, schrieb der Journalist Own Jones in der Tageszeitung «Guardian»: Sollte Corbyn, den die Zustände in Palästina umtreiben wie kaum einen anderen britischen Politiker, tatsächlich Labourvorsitzender werden, werde er von vielen Seiten unter Dauerfeuer gesetzt. Und eine der Allzweckwaffen werde der Antisemitismus-Vorwurf sein. (pw)