Britannien: Schottland und Nordirland nach dem Brexit

Fluchtbewegungen

30. Juni 2016 | Für die Randregionen des Unvereinigten Königreichs bietet der Brexit ganz neue Perspektiven – nicht sofort, aber in absehbarer Zukunft.

Nicola Sturgeon, Schottlands Ministerpräsidentin, ist derzeit die einzige britische PolitikerIn, die eine Vorstellung davon hat, wohin die Reise gehen soll. Noch während Premierminister David Cameron, der das Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU aus reinen Opportunitätserwägungen angesetzt hatte, seinen Rücktritt erklärte, bekräftigte Sturgeon, was sie im Abstimmungskampf versprach: Sie werde bei einem Brexit Schottland in die Unabhängigkeit führen. «Die Frage ist wieder auf dem Tisch», sagte die Vorsitzende der linksorientierten Scottish National Party (SNP), die das Gesamtergebnis der Abstimmung offenbar nicht ganz so überrascht hat wie viele andere. Und so kündigte Sturgeon, die als einzige PolitikerIn auch die (friedens-)positiven Aspekte einer europäischen Verständigung hervorhob eine Reihe von Massnahmen an.

So werde ihre Regierung umgehend Kontakt zu allen EU-Staaten aufnehmen, um die Möglichkeiten eines Verbleibs von Schottland in der EU auszuloten. Beziehungsweise um herauszufinden, wie schnell ein Wiedereintritt Schottlands vonstatten gehen könnte. Beim Referendum über Schottlands Eigenständigkeit im Herbst 2014 war eines der grössen Handicaps der UnabhängigkeitsbefürworterInnen gewesen, dass Brüssel sehr unwirsch reagiert hatte. Ein souveränes Schottland müsse sich in der Reihe der EU-BeitrittskandidatInnen ganz hinten anstellen, hiess es damals. Und überhaupt stünden die Chancen ziemlich schlecht: Spanien werde schon wegen Katalonien und dem Baskenland ein Veto gegen den Beitritt aller staatlichen Abspaltungen einlegen.

Doch das war einmal. Inzwischen klingen die Töne aus Brüssel und den grossen EU-Hauptstädten ganz anders. Hatten sich die international stets aufgeschlossenen SchottInnen mit 62 Prozent EU-Befürwortung nicht geradezu vorbildlich verhalten? Und wäre der schnelle EU-Beitritt eines unabhängigen Schottlands nicht die richtige Quittung für die englischen Brexit-Fans mit ihren Träumen von Britanniens neuer Rolle in der Welt?

Sturgeon will auch abklären lassen, ob ein Brexit ohne Zustimmung des schottischen Parlaments überhaupt rechtens ist. Der Scotland Act von 1998, der Schottland mehr Kompetenzen einräumte, verpflichtet das damals neu geschaffene Regionalparlament, stets im Einklang mit EU-Gesetzen zu handeln. Von daher, so argumentieren manche, muss es mitentscheiden dürfen. Langwierige Rechtsstreitigkeiten sind nicht ausgeschlossen. Sicher aber ist: Seit dem Brexitvotum ist die Anteil der UnabhängigkeitsbefürworterInnen stark angestiegen. Stimmten im Herbst 2014 noch 45 Prozent der in Schottland lebenden Menschen für die staatliche Souveränität, würde heute weit über die Hälfte für einen Austritt aus dem Vereinigten Königreich votieren. Voraussetzung dafür ist allerdings ein zweites Unabhängigkeitsreferendum, und das muss die nächste britische Regierung erst genehmigen.

Trotz aller Hürden: Bleibt es beim Brexit, wird die Bewegung für eine schottische Selbstständigkeit kaum zu stoppen sein. Wobei auch Sturgeon es nicht allzu eilig hat. Das aktuelle Ölpreis liegt auf einem Niveau, das eine ökonomische Eigenständigkeit Schottlands infrage stellt. Andererseits ist nicht ausgeschlossen, dass ausländische Firmen, die bisher in England investierten, ihre Produktionsstätten künftig nach Norden, ins pro-europäische Schottland, verlegen.

Wackelt die irisch-irische Grenze?

In Nordirland, wo ebenfalls eine Mehrheit (56 Prozent) fürs Bleiben stimmte, sind die Auswirkungen weniger klar. Die Führungsspitze der irisch-katholischen Partei Sinn Féin erhob zwar sofort die Forderung nach einem Referendum über die irische Wiedervereinigung. Doch die unionistisch-protestantische Partei DUP, die mit Sinn Féin die Regionalregierung dominiert, lehnte sofort ab. Die konservative DUP hatte als einzige der grossen nordirischen Parteien für den Brexit geworben; alle anderen waren dagegen – auch der liberalere Flügel der unionistischen Gemeinschaft.

Was aber wird aus dem Friedensprozess, der selbst achtzehn Jahre nach dem Karfreitagsabkommen von 1998 nicht abgeschlossen ist? Die EU hatte das Abkommen vermittelt, in dem sich die Unterzeichnenden – darunter Britannien – verpflichten, EU-Entscheidungen umzusetzen. Ist es nun hinfällig? Noch so eine Rechtsfrage. Ausserdem hat die EU bisher rund zwei Milliarden Euro in Friedensinitiativen, Gemeinschaftsprojekte, Sozialmassnahmen und die Erneuerung der Infrastruktur gesteckt. Inzwischen sind die Fördertöpfe zwar deutlich kleiner geworden, aber noch immer prangt an vielen Sozial- und Versöhnungseinrichtungen das blaue EU-Emblem mit den gelben Sternen – und signalisiert, dass die EU weiterhin hinter dem Friedensprojekt steht. Der rechte Tory-Flügel, der momentan triumphiert, wird bei weitem nicht so viel für die Peripherie ausgeben – im Gegenteil.

Das begreifen nun auch jene, die Britannien bisher treu ergeben waren. Seit dem Friedensabkommen können die NordirInnen die irische Staatsbürgerschaft beantragen, die britische – oder beide zugleich. Nach Bekanntgabe des Brexit-Resultats fanden Antragsformulare für den irischen Pass reissenden Absatz. Die Nachfrage kam nicht etwa von irischen KatholikInnen (die haben zumeist schon die irische Staatsgehörigkeit), sondern von protestantischen UnionistInnen. Vielleicht kommt Sinn Féins Referendum also doch noch.

Schnell aber wird das nicht gehen: Laut Umfragen Ende letzten Jahres würde zwar eine knappe Mehrheit der IrInnen irgendwann eine irische Wiedervereinigung begrüssen; in Nordirland lag der Anteil jedoch nur bei rund dreissig Prozent. Und das bedeutet: Selbst ein erheblicher Teil der irisch-katholischen Bevölkerung ist nicht vom Nutzen eines vereinten Irlands überzeugt. Das jedoch könnte sich rasch ändern – dann etwa, wenn die irisch-irische Grenze als EU-Aussengrenze zu einem Hindernis werden sollte. Das ist zwar nicht abzusehen: Selbst in der heftigsten Zeit der sogenannten Troubles war die Grenze nie ganz dicht. Doch auch das kann sich rasch ändern. (pw)