Britannien: Das Elend des Establishments

Lernunwillig bis zum Exitus

29. Juni 2016 | Das Brexit-Votum der britischen Bevölkerung war auch eine Klatsche für die Eliten. Doch die tun, als wäre nichts passiert.

Als hätte es noch eines Beweises bedurft, dass die EU seit Jahrzehnten nur noch das Projekt einer markt- und machtversessenen Elite ist, hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker auf dem EU-Gipfel gestern verkündet, dass eines der wichtigsten EU-Projekte an den nationalen Parlamenten vorbei geschleust werden soll. Das geplante kanadisch-europäische Handelsabkommen CETA, so Juncker, falle allein in die Zuständigkeit der EU-Gremien. Mit anderen Worten: Es geht die gewählten Abgeordneten der 28-EU-Mitgliedsstaaten nichts an.

Ob die EU-Kommission damit durchkommt, ist höchst ungewiss. Zu oft hatten beispielsweise deutsche und österreichische PolitikerInnen die Bedeutung des Abkommens thematisiert – und dabei stets versichert, dass selbstverständlich alle parlamentarischen Gremien mitentscheiden dürften. Aber allein schon Junckers Versuch zeigt, wie wenig die EU-SpitzenpolitikerInnen begriffen haben. Sechs Tage zuvor hatte die britische Bevölkerung in einem Referendum mit 51,9 zu 48,1 Prozent den Austritt aus der EU beschlossen, alle Welt sprach daraufhin von einer tiefen Krise und davon, dass die weitgehend undemokratisch strukturierte EU ihre Glaubwürdigkeit zurückgewinnen müsse – und dann fällt der Kommission nichts Besseres ein, als die Demokratie aussen vor zu lassen.

Natürlich würde es den CETA-BefürworterInnen besser gefallen, wenn die Einzelstaaten nichts zu sagen hätten: Viele Parlamentsvertretungen haben durchblicken lassen, dass sie mit der vorliegenden Fassung des geheim verhandelten und mit einer Sonderjustiz ausgestatteten Abkommens nicht zufrieden sind. Belgien etwa, Österreich, Luxemburg, Rumänien und andere. Auch gesellschaftlich relevante Gruppen und Verbände haben bereits klar gegen CETA Stellung bezogen: Der Deutsche Richterbund zum Beispiel oder der DGB formulierten erhebliche Bedenken. Wer in dieser Situation solch ernstzunehmende Bedenken ignoriert, hat nichts kapiert.

Bedenken an der Basis

Dabei liegen die politischen Umstände, die in Britannien zum Brexit geführt haben, einigermassen klar auf der Hand. Während die Jungen mehrheitlich für einen Verbleib in der EU gestimmt haben, die englischen Grossstädte London, Manchester, Liverpool, Leeds und Newcastle ebenfalls für ein «Remain» (Drinbleiben) waren und die Randregionen des Unverereinigten Königreichs – Schottland und Nordirland – wie erwartet gegen den Brexit votierten, hatten sich eine knappe Mehrheit der Bevölkerung offenbar von den tatsächlichen oder vermeintlichen Nachteilen einer EU-Mitgliedschaft überzeugen lassen. Es waren vorwiegend Ältere, die auf dem Land oder in den völlig desolaten ehemaligen Industrieregionen leben, die der verängstigten Mittelschicht angehören oder der vielerorts verarmten, desorientierten industriellen Arbeiterklasse (siehe dazu den ausgezeichneten Film Why we voted leave: Voices from northern England).

Während die einen noch immer dem Empire nachtrauern und in der EU ein Hindernis für die Rückkehr zur alten Glorie sehen, sind bei den Hoffnungslosen am unteren Rand der Gesellschaft längst alle Illusionen verflogen, dass die politische Klasse – also jene, die für die EU warben – noch irgend ein Interesse an ihrer Lage haben könnte. Hatte nicht New Labour und Tony Blair und Gordon Brown die Deregulierungs- und Privatisierungspolitik von Margaret Thatcher fortgesetzt? War nicht unter der konservativ-liberalen Regierung von David Cameron (2010 bis 2015) der Sozialstaat zusammengestrichen worden? Und hatte nicht eben jener Cameron, der für die EU durchs Land tourte, eine weitere Verschärfung der Austeritätspolitik umgesetzt?

Was oft übersehen wird: In der EU hatten alle Londoner Regierungen immer nur darauf geachtet, dass die Position und die Interessen des Kapitals berücksichtigt wurden. Die wenigen Verbesserungen, die die EU (vor allem in den achtziger Jahren) den Lohnabhängigen brachten, blieben hingegen aussen vor: Selbst gegen die Begrenzung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 48 Stunden legte London in schöner Regelmässigkeit ein Veto ein – beziehungsweise sorgte dafür, dass diese Massnahme in Britannien nicht galt. Mit anderen Worten: Von dem, was an Positivem aus Brüssel kam, hatten die britischen Beschäftigten nicht viel. Gut, es gab EU-Subventionen für die ehemaligen Bergbauregionen, die ins Nichts stürzten, nachdem Thatcher die Bergarbeitergewerkschaft NUM – zum Teil mit militärischen Mitteln – niedergerungen hatte. Aber die kamen nicht den Menschen zugute. Nicht für deren Weiterbildung. Nicht für die Ansiedlung von Unternehmen, die halbwegs akzeptable Arbeitsbedingungen boten. Sondern oft halbseidenen InvestorInnen, die nur hinter dem schnellen Geld her waren und zu Zero-Hour-Verträgen beschäftigten, also prekäre Verhältnisse schufen. Inzwischen wird dort, wo es einst eine starke Kultur und Solidarität selbstbewusster ArbeiterInnen gab, die Arbeitslosigkeit weiter vererbt.

Es war diese merkwürdige Mixtur aus kleinbürgerlichen Grossmachtträumen und der tief sitzenden Frustration der Deklassierten in den abgestorbenen Industrieregionen plus deren Mühe mit der osteuropäischen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, die in England eine Mehrheit für den Brexit zustande brachte. Und natürlich die abenteuerlichen Behauptungen, die die rabiate Tory-Rechte um Boris Johnson und Michael Gove sowie die United Kingdom Independence Party (UKIP) um Nigel Farage mit Hilfe einer mehrheitlich reaktionären Presse in die Welt setzten: Britannien überweise wöchentlich 350 Millionen Pfund an Brüssel, die MigrantInnen würden das staatliche Gesundheitswesen zuschande nutzen, ohne die «Fesseln der EU» könnte die Wirtschaft wieder erblühen, der «baldige EU-Beitritt der Türkei» öffne Millionen Muslimen Tür und Tor. Alles Unfug, natürlich.

Das werden die Marginalisierten bald spüren. Noch-Schatzkanzler George Osborne hat bereits angekündigt, dass infolge des Brexits Steuererhöhungen für die Schlechterverdienenden und vor allem weitere Sozialkürzungen unausweichlich seien. Internationale Unternehmen werden sich überlegen, wie lange sie noch in ein Britannien investieren, das keinen Zugang zum europäischen Binnenmarkt mehr hat. Die Autoindustrie zum Beispiel wird zu hundert Prozent von ausländischen Firmen kontrolliert. Und die Staatsfinanzen dürften ebenfalls leiden: Soliden Studien zufolge sind die ArbeitsmigrantInnen auch in Britannien NettozahlerInnen. Sie zahlen mehr in den Staatshaushalt und die Sozialkassen ein, als sie beanspruchen. Dazu kommt – allseits erwartet – eine Wirtschaftskrise.

Sturzversuch bei Labour

Ziehen die britische Bourgeosie und ihre PolitikerInnen Lehren daraus? Von den Tories ist das nicht zu erwarten. Sie sind zu sehr mit sich und internen Machtkämpfen beschäftigt. Eine Chance für Labour also. Aber was macht die Oppositionspartei? Sie zerlegt sich gerade, möglicherweise auf Dauer. Kaum war das Brexit-Ergebnis bekannt geworden, riefen grosse Teile der Parliament Labour Party, der Labour-Abgeordneten also, zum Sturz des Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn auf. Corbyn sei zwar ein «anständiger Kerl», sagt beispielsweise Schattenaussenminister Hilary Benn, aber er sei «kein Führer». Auch andere warfen Corbyn vor, sich «nicht genügend gegen den Brexit eingesetzt» zu haben.

Alberne Vorwürfe. Corbyn hatte sich nie als «Führer» verstanden: Sein Ziel ist, die Basis zu repräsentieren, nicht sie – wie ein Tony Blair und Gordon Brown – an der Nase herumzuführen. Und eingesetzt hatte er sich durchaus, aber halt auf seine differenzierte Weise: Er redete die EU nicht schön, was ihm die traditionellen Labour-WählerInnen ohnehin nicht geglaubt hätten, sondern kritisierte den neoliberalen Kurs, den die EU-Kommission mit ihren Privatisierungs- und Deregulierungsdirektiven seit Jahrzehnten verfolgt. Über die Widersprüche der EU-Politik hinwegzusehen war seine Sache nie. Zu behaupten, dass es seine Schuld war, dass so viele Junge nicht zur Wahl gegangen sind und dass im Norden Englands und in Südwales viele ArbeiterInnen und Arbeitslose für den Brexit gestimmt haben, ist reine Augenwischerei.

Was Corbyns KritikerInnen in der Unterhausfraktion umtreibt, ist etwas ganz anderes. Sie hatten ihn von Anfang an abgelehnt, weil er den Bruch mit der bisherigen Labour-Politik ablehnte. Sie planten den Putsch auch von langer Hand, kamen nun aber früher aus der Deckung, als sie vorhatten: Als nach dem Referendum viele eine vorgezogene Parlamentswahl erwarteten, glaubten sie, schnell handeln zu müssen. Was ja nicht übersehen werden darf: die grosse Mehrheit der Labourfraktion votierte in vielen Belangen anders als er. So haben sich beispielsweise exakt jene jetzt gegen ihn gewandt, die sich beim Austeritätspaket der Tories 2015 der Stimme enthielten statt – wie Corbyn und die linken Labour-Abgeordneten – gegen den geplanten Sozialabbau bei Behinderten und anderen Bedürftigen zu stimmen. Zwölf Milliarden Pfund Einsparungen sollen diese Kürzungen bringen.

Wie gross die Kluft zwischen Corbyn und den 172 Unterhausabgeordneten ist, die ihm jetzt das Misstrauen ausgesprochen haben (immerhin achtzig Prozent der Fraktion), zeigt das bisherige Abstimmungsverhalten von Angela Eagle, die als mögliche Gegenkandidatin gehandelt wird, sollte es zu einer Wahl kommen. Wobei offen ist, ob die Partei eine neue Urwahl ansetzen will. Eagle hat zum Beispiel im Unterhaus für die Bombardierung Syriens votiert, für die Einführung der umstrittenen Studiengebühren (die Kindern aus ärmeren Familien einen Universitätsbesuch deutlich erschweren), war 2003 für den Irak-Krieg und ist für die Beibehaltung der britischen Atomwaffen. Sie steht damit in allen wesentlichen Belangen in diametralem Gegensatz zu Corbyns Überzeugungen.

Es geht mithin nicht um dessen angebliche Führungsschwäche, es geht auch nicht darum, dass Labour unter Corbyns Vorsitz nicht in der Lage wäre, Wahlen zu gewinnen (alle Nachwahlen gingen seit Corbyns Amtsanritt zugunsten von Labour aus, zudem hat London seit Mai mit Sadiq Khan einen linken, muslimischen Oberbürgermeister pakistanischer Herkunft). Nein, was Labour derzeit durchzieht, ist ein Machtkampf zwischen den unter Blair emporgekommenen Elite, die an den alten, neoliberalen New-Labour-Konzepten fest hält – und der Parteibasis, deren Zahl sich seit Corbyn vervielfacht hat. Allein in der letzten Woche sollen 13.000 Menschen der Partei beigetreten sein; sechzig Prozent davon, so Medienberichte, um Corbyn den Rücken zu stärken. Noch nie zuvor hatte die alte ArbeiterInnenpartei eine solche Massenbasis.

Establishment gegen Basis, ins System eingebundene BedenkenträgerInnen gegen Leute, die eine andere, eine solidarischere Politik wollen – das kennzeichnet derzeit die komplexe Gemengelage in der Partei. Und dazu noch die Gewerkschaften, die sich gegen einen Grossteil der PolitikerInnen der früheren Gewerkschaftspartei stellen. Benns Vorwurf, Corbyn hätte mit einem energischeren Einsatz für die EU den Brexit verhindern können, zeigt dabei, wie diese Leute denken: Wir da oben müssen bloss führen, dann folgen uns die anderen schon. Genau dieser Top-down-Ansatz, das zeigte das Brexit-Votum, funktioniert immer weniger. (pw)