Britannien: Eine Million Lebensmittelpakete

Hungern in einem reichen Land

16. April 2014 | Es geht wieder aufwärts, sagt die Regierung – und verweist auf sinkende Arbeitslosenzahlen und optimistische Wachstumsprognosen. Offizielle Statistiken zeichnen ein anderes Bild.


Hat der konservative Schatzkanzler George Osborne also doch Recht gehabt? Ist nach Jahren des Niedergangs die Talsohle erreicht? Hat sich die Mühe gelohnt? Seit ihrem Wahlsieg 2010 verfolgt die konservativ-liberale Koalition von Premierminister David Cameron einen harten Sparkurs. Sie hat den grossen, von der oppositionellen Labour-Partei regierten Städten die Zuschüsse gekürzt, die Sozialhilfe zusammengestrichen, Hunderttausende Stellen im öffentlichen Dienst abgebaut – und dafür die Spitzensteuersätze der Wohlhabenden reduziert. Heraus kam bisher nur eine noch höhere Staatsschuld. Doch jetzt, so heisst es in London, werde alles wieder gut. Bis zu 2,5 Prozent Wachstum seien 2014 möglich.

Es gibt jedoch auch andere Zahlen. So veröffentlichte Mitte dieser Woche der Trussell Trust, eine Wohlfahrtsinstitution, seine jüngste Studie zur Lage der Armen und Hungrigen in der sechstgrössten Wirtschaftsnation. Laut seinen Untersuchungen stieg im vergangenen Jahr die Zahl der an Bedürftige verteilten Lebensmittelpakete auf über eine Million – eine Zunahme um 167 Prozent im Vergleich zu 2012. Rund eine Drittel Million dieser Pakete, die vor allem Grundnahrungsmittel enthalten, gingen an Kinder.

Rund 600 Personen – darunter 46 Bischöfe – und Hilfswerke schickten daher am Mittwoch einem offenen Brief an Cameron. In einem Land, das immer mehr MillionärInnen zählt, sei Hungern ein Skandal, schrieben die Unterzeichnenden. Mehrere Hilfswerke gehen zudem davon aus, dass Britannien inzwischen gegen das Menschenrecht auf Nahrung verstosse.

Doch das ist nicht alles, wie ein Blick auf die Beschäftigtenzahlen zeigt. Diese nehmen zwar zu – aber auf Kosten der Lohnabhängigen. Innerhalb der letzten fünf Jahre sank deren durchschnittliches Einkommen um über zehn Prozent, und das bei steigenden Immobilienpreisen und Mieten. Vor allem in London können sich Normalbeschäftigte kaum noch das Dach über dem Kopf leisten.

Eine neue Blase

Während im Land der Wert von Immobilien (und damit auch der Mietzins) in den vergangenen zwölf Monate um neun Prozent zunahm, stiegen die Wohnungspreise in der Hauptstadt um knapp achtzehn Prozent. Der Hauptgrund dafür ist die Spekulation auf einen weiteren Wertzuwachs: In den Londoner Quartieren Kensington und Chelsea – den von den Superreichen bevorzugten Vierteln – steigen die Preise am stärksten. Aber nicht, weil dort mehr Menschen wohnen als früher (die EinwohnerInnenzahl sinkt). Sondern weil Immobilienbesitz in London hohe Renditen verspricht – egal, ob der Wohnraum genutzt wird oder nicht.

Die grosse Mehrheit kann sich London ohnehin nicht mehr leisten. Inzwischen arbeiten in Britannien über eine Million Erwerbstätige unter den haarsträubenden Bedingungen der sogenannten Zero Hour Contracts. Das heisst: Sie haben keinen Anspruch auf eine garantierte Arbeitszeit und damit auf einen sicheren Lohn. Wie lange sie beschäftigt sind und wann sie zu erscheinen haben, entscheidet allein das Unternehmen respektive die Behörde. Vor allem die Betriebe des teilprivatisierten Nationalen Gesundheitswesens nutzen gern diese neue Form der Leibeigenschaft (die Nullstundenarbeitsverträge untersagen den Teilzeitbeschäftigten zudem, ihre Arbeitskraft anderswo zu verdingen).

Selbstständigkeit als Ausweg

Wie kommt es aber, dass die Zahl der Erwerbstätigen zunimmt? Die Erklärung ist einfach: Praktisch alle, die aus der Arbeitslosenstatistik verschwinden, versuchen sich als Selbstständige durchzuschlagen – mit minimalem Einkommen. Seit 2007 machen diese Selbstständigen (vor allem Menschen über fünfzig) rund achtzig Prozent des Zuwachses an Erwerbstätigen aus. Seit 2010, so eine aktuelle Schätzung des Gewerkschaftsbunds TUC, haben 540.000 BritInnen ihre eigene kleine Ich-AG gegründet, vor allem Frauen. Ihr durchschnittliches Jahreseinkommen liegt bei 10.000 Pfund, umgerechnet 12.500 Euro. Eine Durchschnittswohnung in London kostet knapp 17.000 Euro. (pw)