Britannien: Die Riots

Aufruhr mit Ansage

10. August 2011 | In den letzten Tagen übte eine verlorene Generation einen Krieg, den sie nicht gewinnen kann. Und den auch die Politik verliert – wenn sie nur zuschlägt.

Viel mehr als draufhauen, als eine Verschärfung ihrer Law-and-Order-Politik fällt der britischen Regierungskoalition offenbar nicht ein – und auch nicht der oppositionellen Labour Partei. Jedenfalls waren sich fast alle Abgeordneten einig, als sich das britische Parlament nach den Unruhen Anfang vergangener Woche zu einer Sondersitzung versammelte. Es gebe «absolut keine Entschuldigung» für den Aufruhr und die Plünderungen, sagte Premierminister David Cameron und versprach eine Politik der harten Hand: den Einsatz von Hartplastikgeschossen, von Wasserwerfern und vielleicht auch der Armee – wie in Nordirland, wo dieses Konzept der Aufstandsbekämpfung vor über vierzig Jahren einen langen Krieg ausgelöst hatte. Auch dort gab es Sondergerichte, die die in Schnellverfahren Verdächtige aburteilten – wie in den von einem Massenaufgebot an Polizeikräften besetzten Londoner Armenvierteln, wo in den letzten Tagen Richter die Nacht durcharbeiteten und noch immer Polizisten die Straßenzüge durchkämmen, um mutmaßliche Plünderer aufzuspüren.

Natürlich sind die Londoner Verhältnisse nicht mit denen im Belfast der siebziger Jahre zu vergleichen. Die Krawalle der letzten Woche waren nach wenigen Tagen vorbei, und es sieht auch nicht so aus, als würden sie sich wiederholen – jedenfalls nicht in den nächsten Wochen. Und doch gibt es Ähnlichkeiten: Die offenkundige Diskriminierung eines Teil der Bevölkerung zum Beispiel, eine eklatante Ungleichheit und die weit verbreitete soziale Benachteiligung.

Der Aufruhr in London kam ja nicht aus heiterem Himmel. Nur eine Woche zuvor hatte die linksliberale Tageszeitung «Guardian» einen kurzen Videofilm ins Netz gestellt, in dem sich Jugendlichen in der Nordlondoner Gemeinde Haringey heftig über die Sparmassnahmen beklagten, die die konservativ-liberale Regierung derzeit den Gemeinden aufzwingt. Rund drei Viertel der Gelder, die bisher für Jugendarbeit ausgegeben wurden, werden in den nächsten zwei, drei Jahren gestrichen – und so hatte die von Labour dominierte Stadtverwaltung von Haringey praktisch über Nacht acht der dreizehn Jugendzentren geschlossen. «Ich bin jeden Tag in den Youth Club gegangen», sagte einer interviewten Jugendlichen, «wo soll ich jetzt hin? An den Ecken rumlungern?» Doch das ist riskant, wie ein anderer ausführte. Denn auf den Straßen gebe es einen unerbittlichen Überlebenskampf, den ein Einzelner kaum bestehen könne: «Je mehr Leute aber den Gangs beitreten, desto gefährlicher wird es für die, die nicht dazugehören.» Und dann sagte einer der jungen Schwarzen ganz offen in die Kamera: «Es wird Riots geben», Aufstände.

Kurz danach war es so weit. Am Donnerstag vor zwei Wochen erschossen Polizisten im Haringeyer Stadtteil Tottenham einen jungen schwarzen Familienvater. Die genauen Umstände sind noch immer nicht geklärt; sicher aber ist, dass Mark Duggan nicht – wie von der Polizeianfänglich behauptet – zuerst auf die Beamten geschossen hat. Es war jedoch nicht diese Tat allein, die die Unruhen auslöste. Die Wahrscheinlichkeit, von der Polizei getötet zu werden, ist für einen Schwarzen acht Mal höher als für einen Weißen, aber nicht jeder Tod löst einen Aufstand aus. Es war die Arroganz, mit der die Polizei Duggans Angehörige behandelte und ihr Recht auf Auskunft ignorierte. Das hätte sie bei einem Weissen nicht getan, darin sind sich die schwarzen GhettobewohnerInnen einig. Die Familie erfuhr erst aus den Medien von der Erschiessung, und als sie sich mit Freunden und Nachbarn zwei Tage später vor dem Polizeirevier von Tottenham versammelte und Aufklärung verlangte, blitzte sie ab: Kein Verantwortlicher wollte mit den Hinterbliebenen reden. Vier Stunden standen sie da. Dann ging die Familie nach Hause – und der Aufruhr brach los.

Wie vor dreissig Jahren

Drei Nächte lang brannten in Londons Armenvierteln Geschäfte und Fahrzeuge, Jugendliche plünderten Läden, Kids rasten mit geklauten Autos in Richtung Polizeiketten – und es dauerte nicht lange, bis der Funken auf andere Grossstädte übersprang. Auf Birmingham, auf Bristol, auf Manchester und auf Liverpool. Dort war es – wie im Südlondoner Stadtteil Brixton – vor dreissig Jahren zu ähnlichen Auseinandersetzungen gekommen. In Liverpools desolatem Quartier Toxteth hatten im Sommer 1981 Tausende von Jugendlichen (zumeist Schwarze und arme Weisse) tagelang randaliert und viele Gebäude in Brand gesteckt. Anlass war damals die Verfolgung eines schwarzen Jugendlichen gewesen, dem die Polizei fälschlicherweise vorwarf, auf einem gestohlenen Motorrad zu sitzen. Auch für die Unruhen in Brixton 1981 war das Vorgehen der Staatsgewalt verantwortlich gewesen. Und die hat bis heute nichts dazugelernt, obwohl in mehreren offiziellen Untersuchungsberichten der «institutionelle Rassismus der Polizei» immer wieder scharf kritisiert wurde: Laut Statistik werden schwarze Jugendliche von der Polizei 26 Mal häufiger gestoppt und durchsucht als weiße.

Es drängt sich noch eine Parallele zu den Krawallen vor dreissig Jahren auf: Seinerzeit hatte die 1979 gewählte marktradikale Regierung von Margaret Thatcher gerade ihre Politik der Deindustralisierung, der Deregulierung und der Privatisierung von Gemeingütern begonnen. Die Folgen für die Arbeiterklasse und die sozial Ausgeschlossenen waren absehbar; vor allem in Ghettos wie Toxteth und Brixton hatte sich das schnell herumgesprochen. Und nun ist seit über einem Jahr eine konservativ-liberale Koalition im Amt, die einen Sozialstaatsabbau von ungeheurem Ausmaß betreibt. Sie schaffte Ausbildungsbeihilfen für Jugendliche aus armen Familien abschafft, verdreifachte die Studiengebühren kürzte die Beihilfen für die Ärmsten. In einer Klassengesellschaft wie der englischen, die die sozialen Unterschiede zementiert wie nirgendwo in Europa, versperrt diese Politik den Ghetto-Jugendlichen alle Auswege aus der Benachteiliung: Sie können nicht einmal mehr auf einen schlecht bezahlten Job im öffentlichen Dienst hoffen. Denn dort werden den rabiaten Sparmaßnahmen in den nächsten drei Jahren rund 700000 Stellen zum Opfer fallen.

Die Warenwelt als Ziel

Und so probten die Hoffnungslosen, die Missachteten, die Herumgestossenen, die Kids ohne Zukunft den Aufstand. Ihm fehlte die politische Note, die die Riots von 1981 und in Tottenham 1985 noch hatten; es gab bisher keine expliziten Forderungen. Die Randale richtete sich nur vereinzelt gegen die Institutionen, es gingen (anders als in Toxteth 1981) auch kaum Gebäude konservativer Geschäftsleute und Politiker in Flammen auf – der Krawall war insofern selbstzerstörerisch, als er vor allem die eigene Gemeinschaft in Mitleidenschaft zog. Aber ist das ein Wunder? Auch an den Armenviertel ist das neoliberale Diktum vom Individuum, das für sich selber sorgen muss, nicht vorbeigegangen. Und so haben sich ein paar Nächte lang die Jugendlichen das geholt, was ihnen die kapitalistische Warenwelt als einzig Erstrebenswertes hinhält, das sie aber nie erreichen konnten. Wer erzählt denn immer, dass allein der individuelle Reichtum zählt, dass nur der Besitz von Markenartikeln Respekt verleiht? Und ist es nicht so, dass erst vor kurzem die Banken die britische Staatskasse leerplündern konnten? «Die Politiker sagen, wir würden plündern und rauben», sagte einer der Jugendlichen, «dabei sind sie die eigentlichen Gangster».

Die britische Regierung, in der vor allem Millionäre sitzen, wusste um die Risiken ihrer Sparpolitik. Erst vor einem Jahr, also noch vor den spektakulären Aktionen der Studierenden, den vielen Universitätsbesetzungen, den Streiks der Staatsangestellten und der Grossdemonstration der Gewerkschaften, hatten Polizeichefs vor den Folgen einer weiteren Fragmentierung der ohnehin schon zerrissenen Gesellschaft gewarnt: Der Sozialabbau könnte «soziale Spannungen» und «verbreitet Unruhen» auslösen. Die Gegengewalt kam daher nicht überraschend. Auch Paul Rogers, Friedensforscher an der Universität Bradford, hatte damit gerechnet. Er und andere Wissenschaftler seien davon ausgegangen, dass es Probleme geben werde, sagte er. Allerdings erst später, wenn die langfristig angelegten Sozialkürzungen so richtig unten durchschlagen. Jetzt seien sie halt zwei Jahre früher gekommen. (pw)