Britannien: Die Regionalwahlen und ihre Verlierer

Schottische Quittung

3. Mai 2007 | An diesem Donnerstag entscheidet die britische Bevölkerung in England, Schottland und Wales über die Zusammensetzung ihrer Gemeinderäte und Regionalparlamente.

Kurz vor Schluss spendete der ehemalige Hoffnungsträger, der beliebteste britische Premierminister aller Zeiten (laut Umfragen im Jahr 1998) und der einzige Labour-Politiker, der drei Unterhauswahlen hintereinander gewann, noch etwas Trost. Nach ihm könne es mit der Partei nur aufwärts gehen, sagte der scheidende Labour-Vorsitzende Tony Blair Mitte April.

Doch vorher wird die Regierungspartei noch durch ein Tal der Tränen gehen müssen. Denn an diesem Donnerstag wird Labour mit grosser Wahrscheinlichkeit bei gleich drei Wahlen herbe Niederlagen einstecken müssen: Bei den englischen Gemeinderatswahlen drohen nach dem letzten Wahlgang erneut grosse Einbussen, für die Regionalwahl in Wales werden erhebliche Stimmenverluste prognostiziert, und in Schottland – wo wie in Wales das Regionalparlament neu besetzt wird – kommt auf Blair und seinen designierten Nachfolger Gordon Brown ein Desaster zu.

Irak und Faslane

Ausgerechnet im sozialdemokratischen Schottland, in dem Labour seit fünfzig Jahren dominiert und das selbst in den düsteren Zeiten der Herrschaft von Margaret Thatcher links wählte, laufen der Partei die Wähler­Innen in Scharen davon. Aber sie marschieren nicht nach rechts, hin zu den Konservativen (die in Schottland seit je ein Schattendasein fristen), sondern eher in Richtung der Liberaldemokrat­Innen, die in vielen sozialpolitischen Fragen links von der Labour-Partei stehen, mit der sie die Regionalregierung gebildet hatten. Vor allem aber – und das zeigen alle Umfragen – werden sie für die Scottish National Party (SNP) stimmen.

Der schottische Nationalismus linker Prägung hat in den letzten Jahrzehnten immer mehr Zulauf erfahren. Lange Zeit als etwas unzeitgemäss und spinnert belächelt, ist die SNP mit ihrer Forderung nach Unabhängigkeit inzwischen zu einer beachtlichen politischen Kraft geworden. Bei der letzten Wahl des 1999 von der Labour-Regierung installierten Regionalparlaments im Mai 2003 wurde die SNP mit 25 Sitzen zweitstärkste Partei nach Labour (50 Sitze). Nun werden die NationalistInnen Labour überflügeln und als grösste Fraktion im Parlament von Edinburgh die Regierung übernehmen (wahrscheinlich in Koalition mit den schottischen LiberaldemokratInnen). Daran zweifelt niemand, auch nicht die Labour-KandidatInnen, die derzeit allen erzählen, wie stolz sie auf die schottische Nation seien.

Woher kommt diese Entwicklung?

Der erste Grund hat zwei geografische Namen: Irak und Faslane. Nirgendwo im Vereinten Königreich ist Blairs Irakpolitik auf so viel Ablehnung und Widerstand gestossen wie in Schottland – und das liegt nicht nur dar­an, dass die Angehörigen dieser kleinen Nation stets Sympathien für andere Länder und Völker hegten, die von mächtigen fremden Staaten schikaniert werden. Hatte nicht England vor rund 300 Jahren Schottland in einen Staatenbund gezwungen? Das weiss in Schottland jedes Kind – und die Regierenden in London haben in den letzten Jahrzehnten mit ihrer oftmals arroganten Politik alles gegen mögliches Vergessen getan.

Einmal in das Vereinte Königreich hineingepresst, interessieren sich viele SchottInnen für die Aussenpolitik. Im diplomatischen Dienst des Aussenministeriums kommt fast jeder Zweite aus dem nördlichsten Teil Britanniens. Was die DiplomatInnen über die angloamerikanische Invasion im Irak 2003 denken, ist hinlänglich bekannt: Sie lehnten sie von vornherein ab. Und auch das Fussvolk rebelliert. Schottland galt bis vor kurzem als ein wichtiges Rekrutierungsfeld der britischen Armee. Heute jedoch finden sich dort fast keine Freiwilligen mehr.

Die Empörung über Londons Aussen- und Kriegspolitik wuchs noch, als Premierminister Blair und Schatzkanzler Brown im Herbst letzten Jahres eine teure Modernisierung des britischen Atomarsenals verkündeten. Man werde in den nächsten Jahrzehnten die vier Unterseeboote mit den Trident-Atomraketen durch neue Boote mit neuen Raketen ersetzen. Kostenpunkt: umgerechnet rund sechzig Milliarden Franken. Die kleine Flotte ist im Marinehafen Faslane an der schottischen Westküste stationiert. Aus Protest gegen diesen Beschluss begann die schottische Friedensbewegung im Oktober letzten Jahres mit der Unterstützung internationaler KriegsgegnerInnen eine auf 365 Tage angelegte Dauerblockade des Hafens. Fast jeden Tag versuchen die mittlerweile 83 Blockadegruppen die Zufahrten zum Hafen zu versperren (siehe die Faslane-Website). Mitte März beschloss das britische Parlament die Aufrüstung, aber fast alle schottischen Unterhausabgeordneten (darunter fünfzehn von Labour) stimmten dagegen.

Populäre Korrekturen

Der zweite Grund für die Popularität der schottischen NationalistInnen ist ihre Sozialpolitik. Auch wenn SNP-Chef Alex Salmond derzeit mit dem Vorhaben, die Steuern senken zu wollen, wirtschaftsliberale Töne anschlägt, besticht die Partei mit dem Versprechen, die schlimmsten Auswüchse der Labour-Politik zu korrigieren. So will die SNP beispielsweise

●   die Schulden der Studierenden streichen, die durch Studiengebühren entstanden sind,

●   die mageren Renten der Pensionär­Innen um 25 Prozent erhöhen,

●  die Labour-Privatisierungspolitik im staatlichen Gesundheitswesen korrigieren und in Schottlands Spitälern beispielsweise die geplante Schliessung vieler Notfallstationen und psychiatrischer Abteilungen verhindern,

●   die unsozialen Gemeindeabgaben durch einkommensabhängige Lokalsteuern ersetzen.

Die Labour-Partei argumentiert zwar, der populäre SNP-Chef Salmond werde Schottland auf diese Weise schnurstracks in den Ruin führen. Aber das Argument findet in den Arbeiterquartieren von Glasgow, Edinburgh, Aberdeen und Dundee wenig Anklang – zumal die SNP durchaus eine Vorstellung davon hat, wie man all dies finanzieren könnte.

Und überhaupt: Wer glaubt jenen PolitikerInnen noch, die von Massenvernichtungswaffen sprachen, um den Irak überfallen zu können? Und die, wie Blair, tief in einen Bestechungs­skandal verwickelt sind? Hatte er nicht Millionäre, die der Labour-Partei viel Geld spendeten, mit einem Sitz im Unterhaus belohnt? Dass derzeit ein parlamentarischer Ausschuss diese Praxis untersucht, ist vor allem das Verdienst der SNP – deren Londoner Abgeordnete hatten die Einsetzung der Kommission verlangt.

Erst erfahren, dann entscheiden

Der dritte Grund für den Aufschwung der sozialdemokratischen SeparatistInnen von der SNP ist der vielleicht interessanteste: Immer mehr SchottInnen halten eine Unabhängigkeit Schottlands nicht nur für wünschenswert, sondern auch für möglich. Natürlich, so betonen die SNP-WahlkämpferInnen, werde die Unabhängigkeit nicht sofort auf die Tagesordnung gesetzt. Und natürlich werde eine SNP-geführte Regionalregierung frühestens gegen Ende der kommenden Legislaturperiode, also vielleicht im Jahre 2010, ein entsprechendes Referendum ansetzen. Die WählerInnen, so die Zusage, sollten erst einmal die Politik der NationalistInnen erfahren können, bevor sie entscheiden. «Zunächst ausprobieren, dann abstimmen», lautet der Lockruf, der aber auch pragmatische Gründe hat: Die SNP wird nicht allein regieren können, und alle anderen Parteien im Edinburgher Parlament stehen der Vision von einem unabhängigen Schottland skeptisch bis ablehnend gegenüber.

Es werde auch nicht zum völligen Bruch mit Britannien kommen, sagt die SNP. Die Währung – das Pfund Sterling – werde beibehalten, auch am Sozialsystem würde nichts geändert, sogar ein gemeinsames Staatsoberhaupt (die Queen) sei denkbar, argumentieren die eher republikanisch gesinnten NationalistInnen. Aber eine andere Aussen-, Wirtschafts- und Steuerpolitik sei schon vonnöten.

Die drohende Abspaltung von Schottland hat die politische Klasse in London und die englischen Medien in helle Aufregung versetzt. Die schottische Bevölkerung werde dies teuer zu stehen kommen, argumentierten Blair und Brown bei einem ihrer selten gewordenen gemeinsamen Auftritte in Edinburgh. Die Londoner Zeitungen, vor allem die Boulevardpresse, malt Schreckgespenste an die Wand - bestärkt damit aber nur die Skepsis gegenüber der englischen Dominanz.

Realistische Vision

Der Unabhängigkeitsgedanke wird zunehmend auch von jenen akzeptiert, die bisher die ökonomische Überlebens­fähigkeit eines so kleinen Gebildes bezweifelten. Vor allem drei Argumente der schottischen NationalistInnen werden derzeit debattiert:

●  Schottland bleibt auch nach einer Unabhängigkeit Mitglied der Europäischen Union (EU). Mittlerweile sind fast die Hälfte der 27 EU-Mitgliedstaaten kleiner als Schottland mit seinen fünf Millionen EinwohnerInnen – und denen gehe es, so die SNP, ökonomisch gut.

●   Hochrangige Manager, die 1999 noch in Zeitungsanzeigen vor den NationalistInnen und ihren «gefährlichen Absichten» warnten, halten ein unabhängiges Schottland mittlerweile für durchaus überlebensfähig. So spendete Brian Souter, Chef des grossen britischen Busunternehmens Stagecoach und eingefleischter Evangelist, vor kurzem eine halbe Million Pfund für die SNP. Seine Spende führte zu einem Protest vieler schottischer Menschenrechtsorganisationen, die fürchten, er könnte mit seiner abtreibungs- und schwulenfeindlichen Haltung Einfluss auf die Politik der Partei nehmen. Gegen die Parteinahme von George Mathewson hingegen hatten wenige etwas einzuwenden. Mathewson, bis vor kurzem Chef der Royal Bank of Scotland, ist eine der einflussreichsten Businessfiguren im Land. Seine Bank gehört mittlerweile zu den wichtigsten Finanzinstituten der Welt.

●   Und da gibt es noch das Öl vor Schottlands Küste. Die SNP will mit der Verstaatlichung der Ölindustrie einer alten Forderung nachkommen: «Das ist schottisches Öl!», hiess es schon in den siebziger Jahren. Auch wenn die Fördermengen der schottischen Nordseefelder ihren Zenit überschritten haben, bleibe immer noch genug zur Finanzierung des Sozialstaates, zumal die Ölpreise anziehen werden. Bisher, so argumentieren nicht nur die NationalistInnen, sei der Energiereichtum in Form von Steuersenkungen vor allem den Wohlhabenden in England zugute gekommen. Dieses Vermögen könne man, wie das Beispiel Norwegen zeige, der gesamten schottischen Bevölkerung zugute kommen lassen.

Die Kombination von Sozialstaatsversprechen und der Aussicht auf nationale Autonomie kommt gut an. Und selbst die in Schottland starke radikale Linke hat wenig gegen SNP-Chef Salmond einzuwenden. Sie ist derzeit vor allem in Flügelkämpfe verstrickt. Seit der allseits geachtete Tommy Sheridan – er hatte in den achtziger Jahren in Schottland die Proteste gegen Thatchers kommunale Kopfsteuer angeführt und sass deswegen im Gefängnis – die von ihm gegründete Scottish Socialist Party (SSP) aufgrund persönlicher Differenzen und eines vom Londoner Boulevard aufgebauschten angeblichen Sexskandals verlassen hat, sind die SozialistInnen vor allem mit sich selber beschäftigt. Dabei hatten sie 2003 sieben Prozent der Stimmen erhalten und waren mit sechs Abgeordneten im Parlament vertreten. Nun ist Sheridan mit seiner neuen Partei Solidarity gegen die SSP angetreten.

Wahlkampf vor MuslimInnen

Der Ausgang der Wahl in Schottland wird in den nächsten Wochen die Diskussion innerhalb der Labour-Partei dominieren. Die GegnerInnen von George Brown werden argumentieren, dass einer, der selbst in seinem Hinterhof keinen Erfolg hatte (Brown ist Schotte), schon gar nicht die englische Mittelklasse überzeugen könne. Browns AnhängerInnen wäre es hingegen am liebsten, Blair würde seine ohnehin für die nächs­ten Tage erwartete Rücktrittsankündigung unmittelbar nach der Wahl bekannt geben und auf diese Weise die Verantwortung für das Wahldesaster übernehmen – eine Idee, mit der sich Blair jedoch nicht so recht anfreunden kann.

Der Premierminister hat sich trotz seines mittlerweile miserablen Rufs mit voller Kraft in den schottischen Wahlkampf gestürzt. In den letzten vier Wochen war er drei Mal in Schottland unterwegs. Es besuchte beispielsweise das ehemalige Werftquartier im Glasgower Stadtteil Govan, wo sein Vater ­aufgewachsen war, und ging in das Pub, in dem angeblich schon sein Grossvater getrunken hatte. Am selben Tag hielt auch der SNP-Spitzenkandidat Salmond in Govan eine Rede. Vor muslimischen EinwandererInnen, die inzwischen die Mehrheit in diesem Arbeiterviertel ­stellen, wetterte er gegen die Irakpolitik jenes Politikers, der keine drei Meilen weiter auftrat. Während Salmond seine Vorstellung von einem friedfertigen Schottland darlegte, tat Blair das, was ihm seine PR-Strateg­Innen empfohlen hatten: Er lobte seine Politik und erinnerte an seine schottische Herkunft. (pw)