Britannien: Salmonellen, Schweinepest, Scrapie, BSE, MKS

Und jetzt noch Dioxin

3. Mai 2001 | Der Höhepunkt der Maul- und Klauenseuche sei überschritten, verkündete die britische Regierung letzte Woche. Die schlechten Nachrichten kommen vielleicht erst noch.

Martin Conway kann es immer noch nicht begreifen. Dort drüben, hinter seinem Hof, geht in Rauch auf, was ihm bisher am Herzen lag. Als die Beamten des Ministeriums in ihrer weissen Schutzkleidung am frühen Morgen auftauchten, wusste er sofort, was kommen würde.

Sie streuten Desinfektionsmittel und baten ihn, seine neunzehn Rinder ein letztes Mal zusammenzutreiben. Dann erlegten sie die Tiere mit einem sauberen Schuss durch die Stirn. Ein paar Stunden lagen sie hinter der Scheune am Ende eines kleinen Feldweges in Ardboe, Grafschaft Tyrone, Nordirland. «Die Rinder waren alle gesund», sagt Conway; noch letzte Woche hätte er kein einziges verkauft, «nicht einmal für tausend Pfund».

Sie einfach zu töten, sei doch nicht recht. Solange er zurückdenken könne, habe es Tiere auf dem Hof gegeben, und wie es weitergehen soll, weiss er nicht: «Selbst wenn ich mir übermorgen zwanzig neue Kühe kaufe, wird es lange dauern, bis ich davon leben kann.» Demnächst, vermutet er, werde es in dieser Gegend nur noch vier oder fünf Grossbauern geben.

Aber Paddy gebe er keine Schuld. Patrick Donnelly, sein Nachbar, «ist einer der besten Bauern, die ich kenne. Wie ihm das passieren konnte, ist mir schleierhaft.» Auch Bauer Donnelly weiss nicht, wie ihm geschah. Tatsache ist jedoch, dass eins seiner Rinder vor einigen Tagen an der Maul- und Klauenseuche (MKS) erkrankte – ausgerechnet ihm, der seinen Hof beispielhaft gut führte, musste das passieren! Aber wieso? Wurde das Virus, das Britannien seit Mitte Februar in Atem hält, auf dem Luftweg übertragen? Wohl kaum. Der Wind kann die Viren zwar bis zu sechzig Kilometer weit tragen. Aber der weht meist von Westen. Und westlich von Donnellys Farm wurde bisher kein einziger MKS-Fall registriert.

Wer oder was übertrug also das Virus? Wie konnte es Donnellys Herde befallen? Für die Beamten des Ministery of Agriculture, Fisheries and Food (Maff) waren solche Fragen jedoch einerlei; sie handelten einfach nach Befehl. Und der lautet, dass alle Tiere eines infizierten Hofes binnen 24 Stunden und die der Nachbarhöfe innerhalb von zwei Tagen geschlachtet werden müssen. Und so stiegen in dem kleinen Ort Ardhoe kurz nacheinander gleich mehrere Rauchsäulen in den Himmel – eine grosse von Donnellys Gehöft, eine kleine hinter Conways Scheune und noch zwei, drei weitere. Gleichzeitig versuchte die Republik Irland, die Grenzen abzuriegeln, um eine Ausbreitung der Krankheit auf ihr Gebiet zu verhindern – in Irland leben noch mehr Menschen von der Landwirtschaft und dem Viehhandel als in Nordirland, und hier beträgt der Anteil der Agrarökonomie am Bruttoinlandprodukt immerhin sechs Prozent. Viel mehr jedenfalls als in England, wo die Landwirtschaft gerade mal 1,3 Prozent der Gesamtwirtschaft ausmacht, die Seuche zuerst zuschlug und mittlerweile drei Millionen Tiere gekeult wurden.

400 Kilometer zum Metzger

Dennoch scheint die irische Insel noch einmal davongekommen zu sein. Ausser einer weiteren Grossschlachtung am Nordostrand der Grafschaft Antrim blieb Nordirland in den letzten zwei Wochen von der Maul- und Klauenseuche (MKS) einigermassen verschont. Jenseits der Irischen See, im nordenglischen Landstrich Cumbria, gehen die Massenerschiessungen von Kühen, Kälbern, Schafen, Lämmern und Schweinen hingegen weiter.

Manche Regionen ähneln Schlachtfeldern nach dem Gemetzel: Überall schwelen noch Feuer, ganze Landstriche wurden mit Asche überzogen, Menschen sind keine zu sehen, Tiere schon gar nicht. Hier hatte im Februar die Seuche ihren Ausgang genommen. Wie das Virus auf die Schweinefarm von Bobby und Ronnie Waugh gelangt war, ist weiterhin unklar. Hatte ein ausländischer Tourist sein Butterbrot weggeworfen, wie anfangs vermutet wurde? Waren skrupellose chinesische Restaurantchefs verantwortlich, wie ein Beamter des Landwirtschaftsministeriums zuerst erklärte (das Maff musste sich später für die Behauptung entschuldigen)? Oder hatte vielleicht die Armee Kantinenabfälle an den Schweinemastbetrieb in Heddon-on-the-Wall geliefert (was bestätigt ist), die aus MKS-verseuchten Gebieten Südamerikas stammen (was die Armee heftig bestreitet)?

Einigermassen sicher hingegen ist, auf welchen Wegen sich das höchst ansteckende Virus des Typs O ausbreitete. So übertrug der Wind die Plage auf die Herden benachbarter Höfe, die später über einen zentralen Viehmarkt nach Devon in der 500 Kilometer entfernten Südwestecke des Landes verkauft wurden, dort weitere Tiere ansteckten und schliesslich in einen 150 Kilometer weiter westlich gelegenen Schlachthof gelangten. Ausserdem hatten die Waughs einige Schweine auf dem 400 Kilometer langen Weg in ein Schlachthaus nordöstlich von London geschickt, wo das Virus schliesslich festgestellt wurde – aber erst, nachdem Tiertransporter die Seuche auf andere Höfe weitergeschleppt hatten. Der Schlachthof in der südenglischen Grafschaft Essex verfügt über ein riesiges Einzugsgebiet: Hier werden Tiere von über 600 Höfen in Schottland, der Isle of Wight und selbst Nordirland verwurstet. Und da das MKS-Virus auch von Menschen und Fahrzeugen übertragen werden kann, verbreitete sich die Epidemie in Windeseile im ganzen Land.

Im Unterschied zu BSE ist die Maul- und Klauenseuche kein Ergebnis der industriellen Fleischproduktion; die Krankheit kennen Bauern seit 150 Jahren. Aber die massenhaften Tiertransporte – ausgelöst durch eine Viehwirtschaft, die zunehmend nach dem Modell der Börse funktioniert (wo nichts bewegt wird, fehlt der Profit), und durch die Industrialisierung der Schlachthöfe (ihre Zahl ging innerhalb der letzten zehn Jahre von 1000 auf 350 zurück) – führten zu einer raschen Verbreitung der Seuche.

Politischer Flügel der Grossbauern

Und so stand Britannien während der letzten zweieinhalb Monate ganz im Bann einer Agrarkatastrophe. Es ist nicht die erste. Zuvor hatten Salmonellen im Geflügel, E-Coli-Bakterien im Rindfleisch, Antibiotika in lebensgefährlichen Mengen, Schweinepest, die Schafkrankheit Scrapie und nicht zuletzt der Rinderwahnsinn BSE für Aufregung gesorgt. Die hoch spezialisierte und produktivistisch orientierte Landwirtschaft Britanniens hat diese Epidemien zumindest begünstigt. Über Jahrhunderte hinweg befanden sich Grund und Boden weitgehend im Besitz einer Aristokratie, die mit Gutsverwaltern und Landarbeitern wirtschaftete; heute prägen Grossbauern, die oft gleich mehrere Höfe betreiben, das Geschäft. Nirgendwo in Westeuropa – von der spanischen Plantagenwirtschaft vielleicht abgesehen – gibt es so viele LandarbeiterInnen wie in Britannien.

Den Kleinen hingegen steht das Wasser bis zum Hals. In den letzten fünfzig Jahren mussten zwei Drittel aller Kleinbauern und -bäuerinnen (über 330.000 Höfe) aufgeben. Sie leiden nicht nur unter dem Preisdruck der Lebensmittelindustrie und der mächtigen Einzelhandelsketten oder unter der wachsenden Konkurrenz und der Überproduktion, die vom Subventionsprinzip der Europäischen Union (EU) verursacht wird. Sie leiden auch und derzeit vor allem unter dem hohen Pfund-Kurs.

Zwischen 1995 und Ende 2000 stieg das britische Pfund im Vergleich zu den Euro-Währungen um vierzig Prozent (die EU-Agrarsubventionen werden mittlerweile in Euro ausgezahlt), gleichzeitig sank das Durchschnittseinkommen der KleinfarmerInnen um über die Hälfte. Heute verdient eine Kleinbauernfamilie rund 13.500 Euro im Jahr. Im Bauernverband aber geben Grossbauern und der Landadel den Ton an – und nicht nur dort. Das Landwirtschaftsministerium, schrieb jüngst die Sonntagszeitung «Observer», «ist der politische Flügel des Bauernverbands». Eine passende Formulierung.

Diese Krise nun wollte eine Regierung bewältigen, die von Agrarökonomie nicht allzu viel versteht (Labour war immer eine Stadtpartei gewesen), das Landvolk für unrettbar konservativ hält und deren Chef nicht wisse – so spotten nicht nur Bauern –, wo bei einer Kuh vorne und hinten ist. Sie tat zuerst das Übliche und verkündete eine frohe Botschaft: Die Epidemie sei überwunden, verkündete das Landwirtschaftsministerium eine Woche nach deren Ausbruch.

Vernagelte Wanderwege

Kurze Zeit später aber geriet London in Panik (immerhin war die Zahl der neu infizierten Tiere auf zwanzig, dann auch vierzig pro Tag angestiegen) und verordnete die Massenschlachtung, liess TierärztInnen einfliegen, da die veterinärmedizinischen Einrichtungen im Laufe der letzten Jahre abgebaut worden waren, und setzte die Armee in Marsch, deren Einsatz zuerst für unnötig befunden wurde, die aber bald unter dem «grössten logistischen Manöver der letzten Jahrzehnte» zu ächzen begann. Denn was sollte mit den Kadavern geschehen?

Zugleich warnte die Regierung alle Welt vor Ausflügen und Ferien auf dem Land, schloss Parks, vernagelte Wanderwege und untersagte alle grösseren Sportereignisse wie Reitturniere und Motorsportrennen. Doch dann dämmerte den Verantwortlichen, dass der Fremdenverkehr mit runden sieben Prozent aller Beschäftigten ein viel grösserer Wirtschaftszweig darstellt als die Landwirtschaft (rund zwei Prozent), und so empfahlen sie kurz vor Ostern in einer gross angelegten Kampagne «Solidaritätsbesuche» bei den LandwirtInnen.

Ähnlich konfus agierte die Labour-Führung in der Frage, wie die Ausbreitung der Seuche verhindert werden könne. Die Führung des Bauernverbandes hatte sich frühzeitig für Massenschlachtungen entschieden; die Landwirtschaft lebe vom Viehexport, wurde gesagt, und der könne erst wieder beginnen, wenn die EU Britannien zum seuchenfreien Gebiet erkläre. Das aber ist erst nach einer völligen Ausrottung der Seuche möglich. Viele Kleinbauern hingegen plädierten für eine Impfung der Tiere in den betroffenen Gebieten.

Die Gruben der alten Politik

Beide Seiten hatten WissenschaftlerInnen auf ihrer Seite. Infizierte und geimpfte Tiere würden die gleichen Symptome aufweisen, sagten Regierungsveterinäre – das würde den EU-Bann nur verlängern. Man könne krankes und durch eine Impfung geschütztes Fleisch durchaus unterscheiden, behaupteten dagegen unabhängige SpezialistInnen. Auch die Supermarktkonzerne teilten diese Ansicht. Impfungen hätten viele Kleinbauern retten können: Sie verfügen über zu wenig Kapital und – anders als die Grossen – über zu wenig Kreditwürdigkeit bei den Banken. Als der Tourismus zusammenbrach (nach einer Schätzung der Fremdenverkehrsbehörde zu Beginn dieser Woche sind rund 300.000 Arbeitsplätze gefährdet), wankten Tony Blair und Maff-Minister Nick Brown für einen Moment; ein Impfprogramm hätte dem britischen Fleisch zwar nicht die Weltmärkte geöffnet, das Land aber wieder zugänglich gemacht. Doch sie gaben dem Bauernverband nach.

Und so wurden Eisenbahnschwellen, Holzpaletten, Dieselkanister, Stroh und Importkohle zu gewaltigen Scheiterhaufen zusammengekarrt, auf denen bis zu dreitausend Rinder langsam verbrannten, oder riesige Gruben ausgehoben, in denen man fünftausend und mehr Kadaver verscharrte (einen Teil der Löcher hat dabei die Regierung vom grössten privatisierten Bergbauunternehmen auf Dauer mieten müssen). Doch beide Massnahmen stossen zunehmend auf Widerstand. So sind immer mehr AnwohnerInnen höchst beunruhigt über die Folgen. Die vergrabenen Kadaver könnten das Grund- und Trinkwasser beeinträchtigen, fürchten sie nicht zu Unrecht – in einigen Fällen mussten Maff und Armee die Gruben auch wieder öffnen.

Längerfristige Auswirkungen dürften aber die Scheiterhaufen haben. Selbst die Behörden mussten letzte Woche zugeben, dass mit den Bränden auch das hochgiftige und krebserregende Dioxin freigesetzt wird. Bisher seien 89 Gramm Dioxin in die Umwelt gelangt, «knapp ein Fünftel des üblichen Ausstosses pro Jahr». Wie sie auf diese exakten Angaben kommen, weiss niemand.

Unabhängige ExpertInnen gehen davon aus, dass die betroffenen Gebiete schon jetzt so viel Dioxin abbekommen haben wie sonst das ganze Land in sechs Monaten. Weniger Aufmerksamkeit schenken die Medien dagegen der Weiterverbreitung von BSE. Diese Krise – davon ist man in Britannien überzeugt – habe ihren Höhepunkt überschritten. Den Zahlen nach stimmt das auch.

Noch aber tragen, so ernst zu nehmende Schätzungen, knapp dreissig Prozent aller Rinder den BSE-Erreger in sich; und der ist ziemlich zäh. Er kann nur durch hohe Temperaturen und unter hohem Druck abgetötet werden – nicht aber durch einen langsamen Brand. Die Scheiterhaufen lodern drei Tage, wirbeln Haut- und Fleischfetzen in die Luft und verteilen die Asche in der Umgebung. Untersuchungen zufolge sind BSE-Erreger (die nicht nur von der Mutterkuh aufs Kalb, sondern auch über die Nahrungskette, also über die Wiese, weitergegeben werden) auch nach zwei Jahren in Asche virulent. Und BSE tötet – anders als MKS – auch Menschen.

Und die Konsequenz aus dem Desaster, das die britische Wirtschaft bis zu 35 Milliarden Euro kosten könnte? Man werde künftig mehr für die Lebensmittelsicherheit tun, versprach Premierminister Blair fünf Wochen nach Ausbruch der Seuche. Und fügte später hinzu, dass er sich für noch grössere Höfe «mit besseren Standards» einsetzen wolle; Grossbetriebe könnten sich «viel eher» auf Konsumentenwünsche einstellen.

Noch mehr Grösse, noch mehr Industrie, noch mehr freier Markt, noch mehr Globalisierung. Dabei waren aufgrund der vielen Seuchen und der Tatsache, dass in den letzten zwanzig Jahren die Zahl der Lebensmittelvergiftungen um das Siebenfache stieg, kleine Bauernmärkte immer populärer geworden. 1997 gab es nur einen dieser Märkte, auf dem ProduzentInnen ihre vorwiegend biologisch erzeugte Ware den KonsumentInnen anboten, letztes Jahr waren es 100, zu Beginn dieses Jahres bereits 300. Doch alle sind seit Mitte Februar geschlossen. Ob sie und die KleinproduzentInnen überleben können, weiss niemand. (pw)