Deutschland: Vor einem kühlen Herbst

Gewerkschaftliches Schattenboxen

13. September 1996 | Es war ein massiver Auftritt: Sechs Gewerkschaftsdemos gegen den Sozialabbau. Folgt da noch was?

Eine Viertelmillion GewerkschafterInnen hat am letzten Samstag in sechs deutschen Städten gegen den Sozialabbau demonstriert. Das ist nicht viel, wenn man die Gesamtzahl der Gewerkschaftsmitglieder (zehn Millionen) und die Zahl der potenziellen Opfer des Kahlschlags in Betracht zieht. Angesichts der Reden, die bei solchen Veranstaltungen normalerweise von den GewerkschaftsfunktionärInnen gehalten werden (und dann tatsächlich auch gehalten wurden), ist eine Viertelmillion Menschen aber schon eine respektable Grösse.

Denn wer ist schon freiwillig einen Tag lang unterwegs, um sich hilflose Drohungen und Appelle anzuhören? Oder gar das Flehen in Richtung Kapital und Kabinett, doch bitteschön die Gewerkschaftsidee vom Bündnis für Arbeit, das heisst Lohnverzicht für vage Beschäftigungszusagen, aufzugreifen. Richtig mächtig erscheinen aber die sechs Demonstrationen hinsichtlich der Hoffnungslosigkeit des Unterfangens: An diesem Freitag wird der Bundestag das Umverteilungspaket der schwarzgelben Bundesregierung in dritter Lesung verabschieden. Wie wenig die Herrschaften in Bonn die Manifestationen interessierten, zeigte ihre Reaktion danach: Sie hielten es nicht einmal für notwendig, ihre Position nochmals darzustellen, sie konstatierten keck: «Demonstrationen schaffen keine Arbeitsplätze.» Punkt.

Die grosse Sause, welche die Regierenden dem Kapital ausrichten, schafft jedoch genausowenig einen Arbeitsplatz. Frauen müssen künftig wieder bis zum 65. Lebensjahr arbeiten, Arbeitsbeschaffungsmassnahmen im Osten werden radikal beschnitten (200.000 Stellen fallen weg), Beschäftigte in Kleinbetrieben verlieren den Kündigungsschutz – entstehen so neue Jobs? Auch die anderen Massnahmen (Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Verschiebung einer längst fälligen Erhöhung des Kindergeldes, langfristig Abschaffung der Zuschüsse bei Zahnersatz usw.) sind nicht beschäftigungswirksam – mit einer Ausnahme vielleicht: Wenn Sozialhilfe-EmpfängerInnen künftig eine «zumutbare» Arbeit ablehnen, wird die Hilfe gekürzt. «Zumutbar» ist heutzutage aber fast alles; so wird der moralisch akzeptable Minimallohn weiter nach unten gedrückt.

Parallel zu dieser Verschärfung will die Regierung die Reichen weiter entlasten. Der Entwurf des Jahressteuergesetzes 1997 sieht eine Streichung der Vermögenssteuer und eine weitgehende Abschaffung der Gewerbesteuer vor. Die Sozialdemokratie, ideologische Stallgefährtin der Gewerkschaften (soweit deren Funktionäre nicht schon bei der CDU angekommen sind), wird gegen beide Gesetzesvorlagen wenig oder gar nichts unternehmen. Es gibt genügend SPD-Länderregierungen, die das «Sparpaket» und die Unternehmerargumente in der Diskussion um den «Standort Deutschland» mittragen.

In dieser Situation will nun die Führung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) allen Ernstes ein neues Grundsatzprogramm über die Bühne bringen, und zwar so schnell wie möglich. Ein ausserordentlicher Kongress soll im November beschliessen, dass die soziale Marktwirtschaft die aus gewerkschaftlicher Sicht denkbar beste Wirtschaftsordnung sei. So steht es in dem vom DGB-Bundesvorstand vorgelegten Programmentwurf. Die Begründung (sie wurde mündlich nachgeliefert): Für Utopien jenseits des Kapitalismus gebe es ja keine tragfähigen Vorstellungen.

Ob denn die Gewerkschaften auf dem Weg von Karl Marx über John M. Keynes inzwischen bei Alois Alzheimer angekommen seien, fragte jemand auf einem Treffen kritischer GewerkschafterInnen. Wie sonst sei zu begreifen, dass in dem Entwurf kein Wort über die Geschichte der Klassenkämpfe vorkomme und dass der Interessengegensatz von Kapital und Arbeit schlichtweg ignoriert werde? Statt dessen erwartet das Programm von den Unternehmen «alle Anstrengungen», «die Vollbeschäftigung wieder herzustellen». So blauäugig und sozialpartnerschaftlich dürfe heutzutage nicht mal ein DGB-Programm ausfallen, beschlossen mehrere, eher konfliktorientierte DGB-Organisationen wie die IG Medien und die Gewerkschaften Handel-Banken-Versicherungen und Holz-Kunst- stoff. Sie fordern eine Vertagung der Programmentscheidung und eine breite Diskussion über das Selbstverständnis der Gewerkschaften.

Der Konsens sei doch gerade aufgekündigt worden, argumentiert der Hauptvorstand der IG Medien, ausserdem lehre «ein Blick auf die Sozialgeschichte, zu welcher Inhumanität und Zerstörung der entfesselte marktwirtschaftliche Selbstlauf fähig ist». Und: «Ein erheblicher Teil der gewerkschaftlichen Erfolge beruhte vor allem auf dem ungebrochenen Wirtschaftswachstum.» Die Zeiten, in denen es den sozialen Fortschritt gratis gab, sind vorbei. Genau das ist der Punkt. Die deutschen Gewerkschaften – sie entwickelten sich durch ihre sozialpartnerschaftliche Politik und mit ihren Modernisierungsvorstellungen zu einer Art ideellem Gesamtkapitalist – haben (von der unmittelbaren Nachkriegszeit abgesehen) in den letzten Jahrzehnten nur Schattenboxen geübt.

Wie sie den Generalangriff der Gegenseite überstehen wollen, wissen sie selber nicht. In der Druckindustrie haben jetzt die Unternehmen angekündigt, dass sie das Tarifvertragssystem beseitigen wollen – Verhandlungen nur noch mit den Belegschaften, nicht mehr mit der Gewerkschaft. Die IG Medien steht damit vor einer «existentiellen Auseinandersetzung» (so IG-Medienchef Detlev Hensche), die auch die kämpferischste der deutschen Gewerkschaften kaum gewinnen wird. Von dem im Frühjahr kurz diskutierten Mittel des politischen Streiks gegen den Sozialabbau spricht schon lange niemand mehr. Dafür kündigte die DGB-Vizevorsitzende Ursula Engelen-Kefer einen «heissen Herbst» an. Heiss wird der aber wohl nur für ein paar Bonner Postboten – bei der nächsten machtvollen Aktion sollen alle dem Kanzler eine Protestpostkarte schicken. (pw)