Deutschland: Zehn Jahre Arbeitsmarktreform

Die Peitsche für den Pöbel

20. August 2012 | Im August 2002 beschloss die frühere rot-grüne Bundesregierung die Einführung eines Billiglohnsektors. Darunter leiden nicht nur deutsche Lohnabhängige, darunter ächzt auch halb Europa.

An grossen Worten hatte es nicht gefehlt. «Heute ist ein schöner Tag für die Arbeitslosen in Deutschland», sagte der VW-Personaldirektor und Kanzlerberater Peter Hartz am 16. August 2002, als er dem damaligen Regierungschef Gerhard Schröder (SPD) die Empfehlungen seiner Kommission zur grössten Sozialreform in der deutschen Nachkriegsgeschichte überreichte: Innerhalb von drei Jahren werde sich die Arbeitslosigkeit halbieren. Keine drei Jahre später brüstete sich dann Schröder am Weltwirtschaftsforum 2005 in Davos: «Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.» Da ahnte er noch nicht, dass seine Partei die Bundestagswahl 2005 verlieren würde. Und dass die SPD noch sieben Jahre später mit dem Erbe kämpfen muss, das er ihr hinterliess.

Denn die nach Peter Hartz benannten vier «Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt» (Hartz I–IV traten von 2003 bis 2005 in Kraft) spalten noch immer die Republik. Während die Unternehmerverbände, die gegenwärtige Regierungskoalition und die alte SPD-Riege das «deutsche Jobwunder» unter anderem den Arbeitsmarktreformen zuschreiben («ich bin weiterhin stolz darauf», sagte vergangene Woche der frühere SPD-Chef Franz Müntefering, «die Reformen haben sich für unser Land gelohnt», doppelte Schröder in seiner Lieblingszeitung «Bild» nach), hagelt es noch immer Kritik. «Das Hartz-Paket ist gescheitert», kommentierte beispielsweise der Paritätische Gesamtverband, die Dachorganisation der Wohlfahrtspflege. Zwar sei die Arbeitslosigkeit von 4,6 Millionen im Frühjahr 2003 auf inzwischen 3,3 Millionen gesunken, aber den Langzeitarbeitslosen habe die Reform wenig geholfen.

Auf niedrigem Niveau

«Fordern und fördern» lautete das Motto bei der Verabschiedung der vier Gesetze. Sie erhöhten den Druck zur Aufnahme jedweder Arbeit, liberalisierten die Leiharbeit, schafften die Beschränkungen für befristete Arbeitsverhältnisse weitgehend ab, förderten die Scheinselbständigkeit und sogenannte Mini-Jobs (bis 400 Euro im Monat), bauten die Bundesanstalt für Arbeit zu einer Agentur mit «Jobcentern» um und legten Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammen (vgl. Kasten unten). Nicht alle Reformen waren von Bestand. Die Privatisierung der Arbeitsvermittlung zugunsten von Personal-Service-Agenturen (Hartz I) wurde 2008 wieder abgeschafft, auch die Förderung von «Ich-AGs» (Hartz II) gab man 2006 auf.

Dennoch war die Operation ein Erfolg – zumindest für die Unternehmen. Die Gefahr, im Falle etwa einer Firmenpleite nach einem Jahr bei Hartz IV zu landen, hat die Belegschaften diszipliniert. Der Wert der Ware Arbeitskraft ist im vergangenen Jahrzehnt weiter gesunken, die Lohnstückkosten sind im Vergleich und zum Nachteil anderer europäischer Nationalökonomien gering geblieben, die Wettbewerbsfähigkeit stieg weiter an, die deutsche Exportwirtschaft konnte die internationale Konkurrenz locker unterbieten. Gewiss: Es entstanden auch viele neue Stellen – zumeist aber auf erbärmlichen Niveau: schlecht bezahlt und befristet. Die Zahl der weitgehend rechtlosen LeiharbeiterInnen vervielfachte sich auf 900.000, die Hälfte davon verdient weniger als 1419 Euro brutto im Monat. Stundenlöhne von fünf Euro sind keine Seltenheit, und rund 1,3 Millionen Erwerbstätige erhalten sogar so wenig, dass ihr Lohn durch Hartz IV – also auf Staatskosten – aufgestockt werden muss. Eine Folge davon ist, dass die öffentlichen Haushalte nicht, wie geplant, entlastet wurden, sondern noch höhere Kosten tragen müssen. Rund 22 Prozent aller Beschäftigten – knapp sieben Millionen Menschen – arbeiten mittlerweile im Niedriglohnbereich.

Soziale Hängematte?

Der neofeudale Ansatz von Rot-Grün (man muss den Pöbel peitschen, sonst liegt er auf der faulen Haut) hat das gesellschaftliche Klima verändert. Nicht die Politik, auch nicht die Wirtschaft sind Schuld an der Arbeitslosigkeit, sondern die «Parasiten», wie der frühere SPD-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement einmal die Arbeitslosen nannte. «Es gibt kein Recht auf Faulheit», sekundierte ihm seinerzeit Schröder. Dabei war die «soziale Hängematte» auch früher schon straff gespannt. Was jedoch weder die Springer-Presse noch die RTL-Sender davon abhält, den Refrain vom untätigen Nichtsnutz zu singen (die RTL-Profite gehen übrigens an die Bertelsmann-Stiftung, die an den Arbeitsmarktreformen heftig mitgeschrieben hatte).

Zur Furcht vor dem Absturz, die nicht nur die Working Poor, sondern auch FacharbeiterInnen umtreibt, kommt die Demütigung. Und die Ausgrenzung. Über drei Millionen Hartz-IV-EmpfängerInnen seien «dauerhaft arbeitslos», konstatierte im Mai der Deutsche Landkreistag; das sind in etwa so viele Langzeitarbeitslose wie vor der Reform. Doch um sie kümmert sich – abgesehen von sozial engagierten Initiativen, die Sozialkaufhäuser und sogenannte Tafeln betreiben – kaum jemand. Auch die Gewerkschaften halten sich zurück.

Im Unterschied zur mitverantwortlichen grünen Mittelstandspartei hat sich die SPD bis heute nicht von diesem Kahlschlag erholt. Ihr hängt noch immer der Ruf des Sozialverrats an. Dies erklärt, weshalb der Vorsitzende Sigmar Gabriel jetzt – im Vorwahljahr – die Banken attackiert und eine Reichensteuer verlangt. Seinen Mitbewerbern um die SPD-Kanzlerkandidatur würde niemand solche Befreiungsschläge abnehmen: Walter Steinmeier und Peer Steinbrück hatten bei den Hartz-Gesetzen mitgewirkt.

Den Hauptverantwortlichen aber geht ganz gut. Schröder berät Gazprom und den Ringier-Verlag. Florian Gerster (SPD), der damalige Leiter der Bundesanstalt für Arbeit, wurde nach wenigen Jahren wegen dubioser Beraterverträge entlassen und stieg dann zum Vorsitzenden des Berufsverbands Briefdienste auf, dessen Mitglieder Sklavenlöhne zahlen. Clement, der in zahllosen Aufsichtsräten sitzt, erhielt einen Posten beim Leiharbeitskonzern Adecco und ist seit Juli Chef der von Metallkonzernen finanzierten Unternehmerlobby und PR-Agentur Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Nur Peter Hartz hatte Pech: Weil er als Personaldirektor den VW-Betriebsrat gekauft hatte, wurde er 2007 wegen Untreue in 44 Fällen zu zwei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Jetzt lebt er als Privatperson im Saarland und entwickelt neue Arbeitsmarktkonzepte. (pw)


374 Euro im Monat

Bis Anfang 2005 bekamen Arbeitslose in Deutschland bis zu drei Jahre lang Arbeitslosengeld (meist 67 Prozent des letzten Nettolohns), danach bezogen sie unbefristet Arbeitslosenhilfe (durchschnittlich 53 Prozent). Das vierte Arbeitsmarktreformgesetz verkürzte die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds auf ein Jahr (nur ältere Lohnabhängige beziehen es maximal zwei Jahre lang) – und schaffte die Arbeitslosenhilfe ganz ab. An seine Stelle trat das Arbeitslosengeld II, Hartz IV genannt. Es liegt derzeit bei höchstens 374 Euro im Monat (plus Miete und Heizkosten).

6,1 Millionen Menschen beziehen Hartz-IV und leben damit am untersten Rand des Existenzminimums. Das hat auch das Bundesverfassungsgericht erkannt: Es lehnte Anfang 2010 die Hartz-IV-Leistungen als verfassungswidrig ab und prüft derzeit erneut die Gültigkeit der Sätze. Die oft willkürliche Festlegung der Sätze durch die Behörden hat zu einer Klageflut geführt: Jeder dritte abgelehnte Widerspruch landet vor den Sozialgerichten; in fast der Hälfte aller Fälle (2011: 144.000) gaben sie den KlägerInnen Recht. (pw)