Stuttgart: Was bringt die S21-Schlichtung?

Oben bleiben - oder politisch unten durch

14. Oktober 2010 | Der Konflikt um das Bahn- und Immobilienprojekt «Stuttgart 21» (S21) hat längst bundespolitische Dimensionen. Weil zwar alle PolitikerInnen mitreden – aber wenig verstehen.

Weit über 100 000 TeilnehmerInnen an der Kundgebung am Samstag, rund 30 000 Menschen bei der 47. Montagsdemonstration zu Beginn dieser Woche, dazu die täglichen Radaukonzerte, die Treffen der SeniorInnen gegen S21, die Debatten zur Änderung der Landesverfassung, die Velodemos, die Verletztenversammlungen, die unzähligen Sachvorträge – und am kommenden Samstag die nächste Grosskundgebung: Ist der Protest gegen S21 noch zu stoppen? Das fragen sich nicht nur die baden-württembergische CDU und Bundeskanzlerin Angela Merkel, sondern auch FDP, SPD und nicht zuletzt die südwestdeutschen Grünen.

Doch danach sieht es nicht aus – weil die S21-Befürworter­Innen immer noch glauben, die KritikerInnen des gigantischen Vorhabens mit ein paar Gesten beruhigen zu können. Eine solche Geste hat der unter Druck geratene CDU-Ministerpräsident Stefan Mappus gezeigt, als er den früheren CDU-Generalsekretär und Bundesminister Heiner Geissler um eine Schlichtung bat. Es war keine dumme Wahl: Geissler ist trotz seines Alters das Enfant ­terrible der Konservativen, wird als Mitglied der globalisierungskritischen Bewegung Attac auch von den Linken respektiert und gilt als erfahrener Schlichter.

Nur sind Lohnkämpfe etwas anderes als der komplette Umbau einer Innenstadt. Und halbe Bahnhöfe gibt es nicht. «Oben bleiben!», fordern die S21-GegnerInnen, die in einer Modernisierung des bestehenden Kopfbahnhofs die ökologisch und verkehrstechnisch sinnvollere Lösung sehen, den geplanten unterirdischen Durchgangsbahnhof als das Ergebnis einer engmaschigen Kungelei von Politik und Kapitalinteressen kritisieren - und als Voraussetzung für Verhandlungen einen sofortigen Baustopp und den Stopp aller Arbeitsvergaben fordern. Doch dazu sind die BetreiberInnen nicht bereit. Die bundeseigene Deutsche Bahn lehnt einen Bau- und Vergabestopp rundweg ab, wie Bahnchef Rüdiger Grube am Montag in Stuttgart vor 750 geladenen Gäs­ten aus Politik und Wirtschaft betonte. Und Mappus verkündete ebenfalls am Montag, dass er sich durchaus Kompromisse vorstellen könne – bei der Architektur des neuen Untergrundbahnhofs. Selten zuvor hat eine Konfliktpartei einen von ihr selbst benannten Schlichter so schnell demontiert.

Auch Kanzlerin Merkel demonstrierte in den letzten Tagen, wie wenig sie begriffen hat, worum es in Stuttgart geht. Der Zukunftsfähigkeit des Landes zuliebe müssten manchmal individuelle Wünsche den Inter­essen des Gemeinwohls untergeordnet werden, sagte sie. Das passiert derzeit – nur anders, als sie es meinte: Die S21-GegnerInnen, und das macht ihre gesellschaftliche Kraft aus, vertreten doch gerade gemeinschaftliche Belange, weil sie individuelle Renditeinteressen bekämpfen, die den flächendeckenden öffentlichen Verkehr zugrunde richten (siehe ihre faktenreichen Argumente auf www.kopfbahnhof-21.de).

Das absehbare Scheitern der Schlichtung hätte weitreichende Folgen. In Baden-Würt­temberg wird Ende März 2011 gewählt. Laut jüngsten Umfragen käme die CDU derzeit auf 34 Prozent (bei der Landtagswahl 2006 hatten die im Südwesten Deutschlands dauerregierenden ChristdemokratInnen über 44 Prozent erzielt), und die FDP würde bei 6 Prozent landen (2006 waren es fast 11). Die Grünen jedoch (2006 bei 11,7 Prozent) könnten 32 Prozent verbuchen - und zusammen mit der wegen ihrer unentschiedenen Politik auf 19 Prozent zurechtgestutzten SPD die schwarz-gelbe Koalition ablösen. Eine grün-rote Landesregierung, punktuell womöglich noch von der Linkspartei unterstützt, die aufgrund ihrer entschiedenen Opposition gegen das politkapitalistische S21-Projekt in den Landtag einzieht: Eine solche Konstellation würde die politischen Kräfteverhältnisse in Berlin zum Tanzen bringen.

Und vielleicht auch jene in Baden-Würt­temberg. Denn die südwestdeutschen Grünen gelten selbst innerhalb der mittelständisch geprägten ehemaligen Protestpartei als besonders konservativ. Ihr Fraktionsvorsitzender Winfried Kretschmann favorisiert seit Jahren eine schwarz-grüne Annäherung. Mit dem Widerstand gegen S21 (das Projekt wurde von der rot-grünen Bundesregierung 1998-2005 wohlwollend beurteilt) hatte er lange Zeit nichts zu tun. Nun bauen ihn die Medien als Sprecher der Opposition auf. Er setze sehr auf Kompromisse, sagt Kretschmann derzeit in alle Mikrophone. Wie er wollen viele Grüne das von der CDU enttäuschte bürgerliche Publikum nicht allzu sehr verprellen. Dumm für sie, dass es keine gemütliche Lösung gibt. (pw)