Baden-Württemberg: Die Schlacht um Stuttgart 21

Mappus setzt auf die Brechstange

14. Oktober 2010 | Wer im Loch sitzt, sollte mit dem Schaufeln aufhören. Diese alte Regel interessiert die BefürworterInnen von «Stuttgart 21» wenig – sie graben einfach weiter.

Es gibt Kämpfe, die wirken fort, auch wenn die Schlacht geschlagen ist – weil sie auf lange Zeit die gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse ändern. Die Auseinandersetzungen um Wyhl Mitte der siebziger und um Wackersdorf Mitte der achtziger Jahre waren solche Kämpfe. In Wyhl am Kaiserstuhl hatte ein selbstherrlicher baden-württembergischer CDU-Ministerpräsident mit allen Mitteln ein Atomkraftwerk gegen eine breite Allianz aus WinzerInnen und Freiburger Studierenden durchzusetzen versucht; es war der Beginn der bundesweiten Anti-AKW-Bewegung. Das Projekt scheiterte ebenso wie die geplante atomare Wiederaufbereitungsanlage im bayerischen Wackersdorf: Selbst die vom rabiaten CSU-Chef Franz-Josef Strauss zur Bürgerkriegsarmee hochgerüstete Polizei konnte die breite Bewegung nicht stoppen.

Und nun also Stuttgart. Noch ist nicht absehbar, wie der Konflikt um «Stuttgart 21» das Prestigebahnhofsprojekt der Deutschen Bahn, der schwarz-gelben Landesregierung und der Stadt Stuttgart – ausgehen wird. Aber nach den Ereignissen der letzten Woche, als die Polizei gewaltsam gegen demonstrierende SchülerInnen vorging (mehrere Hundert zum Teil schwer Verletzte), ist ein schnelles Ende nicht absehbar.

Zu lange haben die BetreiberInnen des gigantischen Immobilien- und Verkehrsprojekts die Bevölkerung getäuscht, mit falschen Zahlen operiert und kritische Gutachten unter Verschluss gehalten, als dass ihnen die Mehrheit der StuttgarterInnen noch irgendetwas glauben würde. Das zeigen die Montags- und Freitagskundgebungen, zu denen mittlerweile jeweils zwischen 50 000 und 100 000 Menschen strömen; das zeigen die allabendlichen «Schwabenstreiche», die die baden-württembergische Hauptstadt unter einen Lärmteppich legen; das zeigte auch die Spontandemonstration letzte Woche, als Tausende zur SPD-Stadtratsfraktion zogen, die im Unterschied zur Landes-SPD das Vorhaben immer noch unterstützt.

Von der Sache her ist ein Kompromiss ohnehin nicht möglich – und den Verantwortlichen läuft die Zeit davon. Im März 2011 wird in Baden-Württemberg gewählt, und fast täglich servieren die Medien neue Details über Pfusch bei der Planung und der Kalkulation, über gravierende Sicherheitsmängel und Absprachen hinter vorgehaltener Hand. Wohl auch deswegen wollte die Politik am Donnerstag vor einer Woche ein Exempel statuieren und mit provozierender Gewalt die Bewegung spalten – CDU-Innenminister Heribert Rech sprach lange von steinewerfenden Radikalen, die den Polizeieinsatz ausgelöst haben sollen. Die hätte er gern gehabt. Doch das Manöver ging gründlich daneben. Die Widerstandsbewegung ist ja nicht erst vorgestern entstanden (seit rund einem Jahr wird wöchentlich demonstriert, bei der Gemeinderatswahl im Juni 2009 mussten CDU und SPD empfindliche Einbussen hinnehmen). Die Leute kennen sich, und sie wissen, dass es um mehr geht als nur die Umwandlung des alten Kopfbahnhofs in einen tiefgelegten Durchgangsbahnhof. Es geht um Macht und Geld, um Spekulationsprofite und die Interessen der Grossindustrie in der Autostadt, um eine weitere Plünderung der von den Banken bereits ausgeraubten Staatskassen zulasten der Sozialausgaben (Schätzungen zufolge kostet «Stuttgart 21» über zehn Milliarden Euro) – und nicht zuletzt um eine öffentliche Finanzierung der weiterhin geplanten Privatisierung der Bahn und die Ausdünnung des Schienenverkehrs auf dem Land. Denn für den Unterhalt und Ausbau selbst so wichtiger Strecken wie die der Rheintalbahn (Frankfurt-Basel) oder der Gäubahn (Stuttgart-Singen-Zürich) ist kein Geld mehr da, wenn «Stuttgart 21» gebaut wird.

Die Vielfalt ihrer Argumente ist die Stärke der Widerstandsbewegung. Dass die Verantwortlichen sie immer noch für dumm verkaufen wollen und einen Volksentscheid bis heute ablehnen, treibt Alte und Junge, Bessergestellte und Linke, Kleinbürgerinnen und Gewerkschafter an. Nicht mal mehr den eigenen Beamten vertraut die Stuttgarter Polizeiführung und liess letzte Woche Einsatzkräfte aus benachbarten Bundesländern ankarren.

Es gehe um den Fortschritt, um die Zukunftsfähigkeit des Standorts Deutschland, argumentieren Kanzlerin Angela Merkel und der baden-württembergische CDU-Ministerpräsident Stefan Mappus unisono. Deswegen komme ein Baustopp nicht infrage. So hatten einst auch Hans Filbinger (CDU) und Strauss ihre Vorhaben in Wyhl und Wackersdorf begründet. Und – wie Haudrauf Mappus heute – vor unabsehbaren Folgen gewarnt, sollten die laufenden Bauprojekte gestoppt werden. Herausgekommen ist, wie man weiss, das Gegenteil: ein gesellschaftliches Umdenken, eine Abkehr von neuen Atomkraftprojekten und – eher zögerlich, aber immerhin – mehr Forschung und Entwicklung in Richtung erneuerbarer Energien. Auch heute noch sind (längere AKW-Laufzeiten hin oder der) neue Atommeiler in Deutschland nicht durchsetzbar. Die GegnerInnen von «Stuttgart 21» erreichen eben gerade dasselbe: Verkehrsprojekte, die nur den Interessen weniger ProfiteurInnen dienen, könnten in Deutschland bald der Vergangenheit angehören. (pw)