Deutschland: Die Folgen der Vereinigung

Was gibt es da zu feiern?

5. November 2009 | Feuerwerk, Strassenfeste, grosse Reden – das politische Berlin ist in den nächsten Tagen damit beschäftigt, den 20. Jahrestag des Mauerfalls zu begehen. Aber sonst bleibt es verdächtig ruhig im Land. Warum?

Vorletzte Woche, «Neues aus der Anstalt», die mit Abstand beste Satiresendung im deutschen Fernsehen. Auftritt Uwe Steimle, ostdeutscher Schauspieler und Kabarettist. Er debattiert mit seinen Westkollegen Urban Priol und Georg Schramm darüber, wer wohl für das Bundestagswahlergebnis verantwortlich ist – der Osten oder der Westen? Die drei spielen die Bälle so schnell hin und her, dass das etwas begriffsstutzige Publikum kaum folgen kann. Doch dann sagt der Kabarett-Ossi in seiner alten Jeansjacke etwas, das die Leute zu einem kleinen Beifallssturm hinreisst: «Ums nochmals klar zu sagen: Wir haben unsere Revolution gemacht. Jetzt seid ihr dran.» Und fügt hinzu: «Wer sagt, dass das immer friedlich sein muss?»

Enttäuschte Hoffnungen

Ist die Stimmungslage im seit zwanzig Jahre vereinten Deutschland wirklich so? Immerhin wird die Sendung live aus München ausgestrahlt, nicht gerade der Hort emanzipatorischer Revolten. Natürlich nicht. Und doch brachte der inszenierte Disput drei Saiten zum Schwingen: die permanente gegenseitige Schuldzuweisung, die insgeheime Hoffnung auf ein Miteinander und die Enttäuschung darüber, dass nach dem Mauerfall am 9. November alles nur von oben bestimmt wurde – und zwar zugunsten derer, die damals schon oben waren und es heute noch sind.

Denn viele der ersten DDR-Oppositionellen hatten nicht für eine Freiheit im Kapitalismus gekämpft. Sie erhofften sich Reformen, einen Wandel hin zu einem menschlichen, demokratischen Sozialismus, eine Öffnung des Regimes, vielleicht sogar einen Regierungswechsel. Sie wollten – entgegen der verbreiteten geschichtsklitternden Darstellung – nicht den westdeutschen Kapitalismus damaliger Prägung und schon gar nicht das marktradikale Beutesystem übergestülpt bekommen, das heute Gesamtdeutschland prägt. Sie suchten nach einem dritten Weg zwischen Kapitalismus und repressivem Staatssozialismus, sie verlangten nach dem Mauerfall, dass runde Tische die besten Elemente aus beiden Systemen zusammenführen, sie dachten an Fortschritt. Und wurden überrollt von Verheissungen («blühende Landschaften»), personellen Scharaden, vermeintlichen Sachzwängen und Powerpolitik.

Aber sie hofften. Im Westen hingegen sahen das - abgesehen von den Medien und der traditionell antikommunistischen Rechten – viele nüchterner. Westdeutschland hatte ja auch eine andere Geschichte. Nach Wiederaufbau, Wiedergutmachung und Wiederbewaffnung war die BRD von einem westlich orientierten, repressiven Regime geprägt gewesen, in dem alte Nazis im Kabinett sassen und AntifaschistInnen wieder in Gefängnisse wanderten. Demokratische Beteiligung von unten war nicht gefragt. Schon vor Beginn des Kalten Krieges hatten die Westalliierten die Antifa-Komitees entmachtet, die überall entstanden waren, um die schlimmsten Kriegsfolgen zu beseitigen und die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten; an ihre Stelle traten oft halbherzig entnazifizierte Nazibeamte. Es gab Streiks gegen die Kriegsbarone (bei denen alliierte Westtruppen auf demonstrierende ArbeiterInnen schossen); es gab sogar eine CDU, die die Vergesellschaftung aller Schlüsselindustrien verlangte – aber übrig blieb am Ende nur eine demoralisierte ArbeiterInnenschaft, die damals ebenfalls Hoffnungen auf eine Wende gehabt hatte, jedoch von den wichtigsten Entscheidungen ausgeschlossen blieb. Und eine desillusionierte Nazigeneration, die eine unpolitische Ohne-mich-Haltung einnahm.

Als der Nazi mit dem KZler …

Beide Gruppierungen konnten dem neuen Staat BRD wenig abgewinnen. Den hatten die Westalliierten als antikommunistisches Bollwerk gegründet (die Gründung der DDR war nur eine Reaktion darauf gewesen). Und so litt die BRD vor allem zu Beginn unter einem ähnlichen Legitimationsdefizit wie später die DDR; breite Bevölkerungsteile identifizierten sich nicht mit dem Staat, wie die vielen Inseratekampagnen zeigten, die bis in die sechziger Jahre hinein die Menschen zum Mitmachen aufforderten. Die BRD blühte nur auf, weil der Westen auf Reparationsforderungen verzichtete und viel Geld in die westdeutsche Volkswirtschaft steckte: Wirtschaftswachstum war, so gesehen, die Raison d'être des westdeutschen Staats.

Der wiederum war bemüht, die Bevölkerung wenigstens sozial einzubinden. Die Grossunternehmen begnügten sich mit einer Rendite von vier bis fünf Prozent, Sozialpartnerschaft wurde grossgeschrieben. So kam es, dass beispielsweise in den sechziger Jahren der damalige Daimler-Personalchef Hanns-Martin Schleyer (der SS-Untersturmführer gewesen war) immer wieder den früheren Stuttgarter IG-Metall-Chef Willi Bleicher (der als Kommunist sieben Jahre lang im KZ Buchenwald eingekerkert war) in dessen kleiner Arbeiterwohnung besuchte, um beim Bier Betriebsprobleme zu disktutieren – ein heute unvorstellbarer Vorgang.

Ende der Alternative

Dass Wirtschaftsführer wie Schleyer auf die kleinen Beschäftigten zugingen, hatte einen einfachen Grund: In Ostdeutschland existierte eine Systemalternative. Und die war für manche ArbeiterInnen durchaus attraktiv, wie ich zu meiner Verblüffung feststellen musste, als ich Anfang der siebziger Jahre in einer Friedrichshafener Motorenfabrik arbeitete. «Ihr denkt wirklich daran, in diese DDR zu gehen?» Ja, sagten da ein paar Kollegen aus dem konservativen Oberschwaben, die alles andere als Klassenkämpfer waren: «Dort ist wenigstens der Arbeitsplatz sicher, und die Mieten sind billig.»

Die politischen, ideologischen, kulturellen Grundlagen des Westsystems waren also alles andere als solide. Wirkliche Stabilität bekam die Marktwirtschaft erst, als mit dem Mauerfall die Nachkriegszeit endete, die Alternative – so bedrückend sie auch gewesen war – verschwand und das Soziale in den Hintergrund gedrängt werden konnte. Ohne Wiedervereinigung wäre den Marktradikalen der Durchmarsch durch alle Instanzen kaum gelungen. Michael Schlecht, Chefökonom der Grossgewerkschaft Verdi, kann sich gut daran erinnern, wie erstaunt er war, als Anfang der neunziger Jahre der Unternehmensverband in der Druckindustrie von heute auf morgen alle Verhandlungen mit der Gewerkschaft einstellte. «Mit euch müssen wir nicht mehr reden», lautete das Motto. Nicht einmal zehn Jahre zuvor hatte sich derselbe Verband noch die 35-Stunden-Woche abringen lassen.

Es dauerte noch eine Weile, bis die soziale Demontage voll einsetzte (dazu bedurfte es einer rot-grünen Regierung). Aber seit dem Anschluss des Ostens an den Westen kennen die da oben kein Halten mehr. Es waren vor allem ja auch die da unten gewesen, die ab 1990 die Kosten für die überstürzte Vereinigung bezahlten – mit Steuererhöhungen (wie dem Solidaritätszuschlag), mit Anhebungen der Sozialbeiträge und vielen Kürzungen. WissenschaftlerInnen wie Klaus Schroeder, Leiter des Forschungsverbunds SED-Staat an der Freien Universität Berlin, schätzen, dass die Vereinigung bisher rund 1,5 Billionen Euro gekostet hat. Sie war auch deswegen so teuer ausgefallen, weil die westliche Treuhandanstalt im Regierungsauftrag das DDR-Volksvermögen (Betriebe und Grundstücke) an Westfirmen und Private verschleudert und oft noch Geld dazugelegt hatte. Auf über 600 Milliarden Euro hatten Sachverständige den Wert des DDR-Besitzes veranschlagt; als die Treuhandanstalt 1994 ihre Arbeit beendete, wies sie ein Defizit von über 100 Milliarden Euro aus. Die Schulden sind längst nicht abbezahlt.

Manche der Transferleistungen waren überaus sinnvoll gewesen: Immerhin erhielten die ostdeutschen PensionärInnen eine kleine Rente und die Erwerbslosen, die durch die schnelle Entwertung der DDR-Wirtschaft auf der Strasse gelandet waren, etwas Unterstützung. Es flossen aber auch Milliarden in private Taschen, in sinnlose Infrastrukturprojekte, in den Wiederaufbau kultureller Baudenkmäler aus der Kaiserzeit und die Beseitigung der DDR-Geschichte, die das vereinigte Deutschland nie als Teil seiner eigenen Geschichte akzeptiert hat. Auch deswegen wuchs nicht zusammen, was so manche als zusammengehörig betrachten.

Natürlich hatte und hat das Ende der deutschen Nachkriegszeit und des Ost-West-Konflikts viele gute Seiten. So wurde beispielsweise der Nationalsozialismus Geschichte. Dies ermöglichte, dass sich – vor allem im Westen – praktisch alle Gesellschaftsgruppierungen offen mit der faschistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen und sie aufzuarbeiten begannen; das war bis zu den neunziger Jahren kaum möglich gewesen. Eine ähnlich ergebnisoffene Beschäftigung mit der DDR-Vergangenheit steht allerdings noch an.

Mittlerweile gilt auch zivilgesellschaftliches Engagement nicht mehr nur als Spinnerei radikaler Minderheiten, die Politik differenziert sich aus, zur alten Lagermentalität neigen nur noch unverbesserliche Haudraufs, und seit dem Ende des «real existierenden Sozialismus» verschwindet allmählich auch der Antikommunismus, der den Westen lange geprägt hatte. Ein Indiz dafür sind die Ergebnisse der letzten Bundes- und Landtagswahlen: Die Partei Die Linke wird – anders als die frühere PDS – kaum noch als Nachfolgepartei der ehemaligen DDR-Partei SED denunziert.

Politbüro und Deutsche Bank

Dennoch zieht sich eine Grenze durch das Land, verwischt nur durch die Flucht vieler Ostdeutscher in die alten Bundesländer: Im Osten liegen die Löhne und Renten immer noch erheblich unter dem ohnehin niedrigen Westniveau. Die, die zurückblieben, fühlen sich bevormundet und ignoriert – während einfachere Gemüter im Westen neidisch auf die neuen Turnhallen und Protzbauten in den neuen Bundesländern blicken und vermeintlich aufgeklärtere Geister den grassierenden Rechtsradikalismus im Osten für den Ausdruck einer rückständigen Gesellschaft halten.

Einig ist sich eine Mehrheit in Ost wie West nur in ihrer Opposition gegen Sozialkahlschlag und Kriegspolitik. Dies wiederum aber ist zu einem wesentlichen Merkmal des neuen Staats geworden: Ohne den Mauerfall hätte sich Deutschland nie an den Angriffskriegen in Jugoslawien und Afghanistan und an zahllosen anderen Militäroperationen beteiligt.

Aber wer weiss: Vielleicht finden ja die vielen Basisinitiativen, die es in beiden Teilen Deutschlands durchaus gibt, unter dem Druck von oben und angesichts des Programms der neuen schwarz-gelben Regierung Gemeinsamkeiten. Wie hat das der frühere DDR-Kabarettist und langjährige Leiter des ostdeutschen Kabaretts Distel vor kurzem in einem Radiointerview formuliert? «Was mich erschreckt, sind nicht die Unterschiede zwischen beiden Systemen, die ich erlebt habe», sagte Peter Ensikat, «sondern die Ähnlichkeiten.» Das Politbüro der SED habe eines gemeinsam mit der Deutschen Bank: «Beide wurden und werden nicht demokratisch gewählt - und beide hatten beziehungsweise haben viel zu viel Macht.» (pw)