Deutschland: Die Proteste von Heiligendamm

Die Polizeifestspiele von Rostock

7. Juni 2007 | Zwei Polizisten im Krankenhaus, drei abgefackelte Autos – und die Medien randalieren wie vor vierzig Jahren. Hat bei den «schwersten Krawallen der letzten Jahre» jemand versagt? Oder wars Kalkül?

Seit Tagen kennt die deutsche Öffentlichkeit nur zwei Themen: die absehbare Ergebnislosigkeit des G8-Gipfels in Heiligendamm und die Auseinandersetzungen am Ende einer weitgehend friedlich verlaufenen Demonstration der GlobalisierungskritikerInnen in Rostock. Denn seit den Vorfällen am Samstag gibt es für die «Sicherheitsexperten» in der deutschen Politik kein Halten mehr. Sie fordern – zum Entsetzen selbst der Polizeiführungen – den Einsatz der militärischen Elitetruppe GSG 9, die Verwendung von in Deutschland bisher verbotenen Gummigeschossen und den «Unterbringungsgewahrsam» von potenziellen Störenfrieden bis zum Ende des G8-Gipfels (die Nazis hatten das noch «Schutzhaft» genannt). Und Innenminister Wolfgang Schäuble triumphiert: Hatte er nicht zu Recht vor den «Verbrechern» gewarnt?

«Wollt ihr Tote, ihr Chaoten?»

Die Bilder, die die Fernsehsender noch am Samstagabend und die Zeitungen über die nächsten Tage hinweg zeigten, waren ja auch eindeutig: Rund 2000 vermummte DemonstrantInnen des sogenannten Schwarzen Blocks lieferten sich mit einer «auf Deeskalation eingestellten» Polizei die «schlimmste Strassenschlacht seit Jahren», wie es in den Begleittexten hiess. Die Einsatzleitung meldete, 433 Polizisten seien verletzt worden, über 30 davon «schwer». Die Demoleitung sprach von über 500 verletzten DemonstrantInnen, darunter viele Unbeteiligte mit Knochenbruch. Unter dem Druck, den die Medien aufbauten («Wollt ihr Tote, ihr Chaoten?», titelte «Bild»), distanzierten sich manche Organisationen wie Attac von den Linksautonomen und entschuldigten sich in aller Form.

Am Samstag, 2. Juni, jährte sich zum vierzigsten Mal die Demonstration Berliner StudentInnen gegen den Besuch des persischen Schahs, bei der 1967 der Student Benno Ohnesorg von einem Polizeibeamten erschossen wurde. Diese Tat und die damalige Berichterstattung hat die 68er erst in Bewegung versetzt. Erst später kam heraus, dass nichts so war wie dargestellt.

Das könnte auch im Rückblick auf den 2. Juni 2007 in Rostock wieder passieren. Denn gar so gewalttätig, wie anfangs vermeldet, waren die Auseinandersetzungen dann doch nicht gewesen. Am Dienstag gab ein Polizeisprecher gegenüber der Tageszeitung «Junge Welt» zu, dass nur zwei Polizisten stationär behandelt werden mussten (einer davon war da schon wieder entlassen worden) und dass gerade mal drei Autos ausbrannten.

Politische Absicht?

Vielleicht wird auch irgendwann mal eine Rekonstruktion der Ereignisse vom Samstag (dann, wenn die beteilig­ten PolizistInnen frei reden können) die Frage klären, wer anfing. Derzeit ist das nicht möglich. Derzeit steht nur fest, dass die Stimmung in der friedlich begonnenen Demonstration (es war wie auf einer Loveparade, sagte ein beobach­tender Polizeigewerkschafter) plötzlich umschlug, weil ein Polizeifahrzeug im Weg stand. Dass Vereinzelte daraufhin mit Steinen warfen. Dass Stosstrupps der Polizei in die Menge stürmten. Dass dann die Schlägerei begann. Dass zwischendurch der Einsatzleiter der Polizei ausgewechselt wurde. Und dass die Interventionistische Linke, die den linksradikalen Block an der Demo organisiert hatte, allen TeilnehmerInnen dieses rund 8000 Leute umfassenden Demoblocks (längst nicht alle Radikalen waren vermummt) die Botschaft eingeimpft hatte, dass friedlicher Protest die grösstmögliche Wirkung entfalte.

Ein Indiz dafür, was falsch lief und dass möglicherweise gar politische Absicht im Spiel war, lieferten in Interviews zwei Personen, die man kaum zu den üblichen Verdächtigen zählen kann. Das Klima des Misstrauens sei auch von den Sicherheitskräften geschürt worden, sagte Konrad Freiberg, Chef der Gewerkschaft der Polizei GdP. Die Polizei hätte von Anfang an sagen müssen: «Wir wollen, dass dort demonstriert wird, wir wollen den Protest.» Immerhin würden Mitglieder seiner Gewerkschaft mit den politischen Zielen der GlobalisierungskritikerInnen sympathisieren.

«Wie Marines im Irak»

Noch viel weiter ging der Münchner Polizeipsychologe Georg Sieber in einem Gespräch mit dem Deutschlandradio. Mit der Warnung vor den Chaoten, den Durchsuchungen von Wohnungen, den Schnüffelproben von potenziellen Verdächtigen, der Durchleuchtung ihrer Post habe die Eskalation begonnen, «bevor es in Rostock losging». Nie zuvor gab es in Deutschland «eine Grossveranstaltung, die im Vorfeld derartig angeheizt wurde», sagte Sieber. Er lässt auch kein gutes Haar am Einsatz. Die martialisch ausgerüstete Polizei hätte man «auf den ersten Blick glatt mit Marines im Irak verwechseln» können, auf Sachbeschädigung habe die Polizei sehr schnell mit Körperverletzung reagiert, und der Einsatz von geschlossenen Einheiten, die auf Protestierende zustürmen, sei etwas, «das seit den siebziger Jahren als einsatztechnische Dummheit bezeichnet wird».

«Eine Demonstration gehört den Demonstranten», sagt Sieber. «Die reagieren sauer oder fühlen sich bedroht, wenn man ihnen die Strasse wegnimmt oder den Raum verkleinert.» In Ros­tock «ist lehrbuchmässig alles so gemacht worden, wie es nicht sein soll». Auf diese Weise könne man auch jede Fronleichnamsprozession aufmischen. All das wisse man schon lange. Und so sei der Polizeieinsatz und das Ergebnis «womöglich sogar auch politisch so gewollt» gewesen.

Allerdings ist durchaus denkbar, dass nicht nur Einzelne die Demonstration am Samstag mit dem Vorsatz begannen, die Öffentlichkeit mit militanten Methoden auf die herrschende Gewalt in der Welt hinzuweisen und Zoff anzuzetteln. Aber gab es solche Gruppen in Rostock? Bis heute, und das sagt nicht nur Sieber, hat die Polizei nichts dar­- über in Erfahrung bringen können. Einige wurden verhaftet, andere bei späteren Demos willkürlich herausgegriffen (darunter auch ein junger Berner) – von der eigentlichen Polizeiaufgabe her gesehen, der Ermittlung von Straftaten, ein mageres Ergebnis. Aber darum ging es ja auch nicht.

Es ging darum, vor den geplanten Blockadeaktionen am Flughafen und am Zaun des Hochsicherheitstrakts Heiligendamm Angst zu verbreiten und Ängste zu schüren. Und die Medien machen mit. Am Wochenende verbreitete «Spiegel online» die Nachricht, dass ein Redner an der Rostocker Kundgebung die «militante Szene aufgestachelt» habe mit den Worten: «Wir müssen den Krieg in diese Demonstration reintragen. Mit friedlichen Mitteln erreichen wir nichts.» Diese Aussage wurde von vielen andern Medien begierig aufgegriffen. Doch der zweite Satz war frei erfunden, und der erste war falsch übersetzt. Der Redner – Walden Bello, Träger des alternativen Nobelpreises – hatte lediglich darauf hingewiesen, dass das Kriegsthema Irak bei den Diskussionen der GlobalisierungskritikerInnen und beim G8-Gipfel eine Rolle spielen sollte. «Spiegel-online» nahm den Bericht mittlerweile zurück, andere hingegen nicht. (pw)