Deutschland: Wie weiter nach der Bundestagswahl?

Der Sparkurs der Verlierer

27. Oktober 2005 | Eine umzingelte Kanzlerkandidatin, eine zentralistisch agierende SPD-Spitze mit rechter Ministerriege, ein angeschlagener CSU-Chef – so langsam dämmert den grossen Parteien, dass sie die Wahl nicht gewonnen haben.

Manchmal zeigen auch Nebensätze, welcher Geist in einem Ministerium umgeht. In einem Bericht mit dem Titel «Vorrang für die Anständigen» hatte der scheidende SPD-Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement Langzeitarbeitslose als potenzielle Sozialleistungsbetrüger bezeichnen und mit «Parasiten», mit Ungeziefer, gleichsetzen lassen. Dass der Begriff – immerhin ein Wort aus dem Nazivokabular – offenbar wieder hoffähig ist, demonstrierte Clement in seiner Reaktion auf die Proteste, die es letzte Woche hagelte, nachdem der Bericht bekannt geworden war. Die Probleme der Sozialreformen, deren Kosten von geschätzten 14 auf rund 26 Milliarden Euro explodiert sind, seien vor allem durch betrügerischen Missbrauch der Sozialleistungen, durch eine «Selbstbedienungsmentalität» und durch «Abzocke» entstanden, sagte er letzte Woche.

Mit dieser Sicht der Dinge steht Clement nicht allein. Peter Clever, CDU-Vertreter in der Bundesagentur für Arbeit, pflichtete ihm bei. Und auch der designierte Finanzminister Peer Steinbrück sieht nicht in handwerklichen Fehlern und einer grotesken Unterschätzung der Armut (statt der erwarteten 3,4 Millionen beziehen mittlerweile 4,9 Millionen die knapp bemessene Hilfe) einen Hauptgrund für die leeren Kassen. Der Grund für diese Einigkeit ist unschwer zu erkennen: Die Politiker können derzeit Sündenböcke besonders gut gebrauchen. Denn allmählich dämmert den beiden grossen Parteien CDU/CSU und SPD, dass sie die Wahl im September verloren haben und dass ihre jeweilige Variante neoliberaler Politik keine Mehrheit fand.

Merkels Schlappe

Diese Erkenntnis hat in den letzten Tagen ziemliche Verwirrung gestiftet und eine Reihe von Führungsfiguren lädiert. Angela Merkel zum Beispiel, die Kanzlerin in spe, konnte sich beim Personalkarussell nicht einmal in der eigenen Fraktion durchsetzen und musste hinnehmen, dass CSU-Chef Edmund Stoiber ihren innerparteilichen Hauptfeind Horst Seehofer ins Kabinett hievte. Ein Grund für ihre plötzliche Schwäche ist, dass ihr Schockprogramm der sozialen Kälte (Kopfpauschale im Gesundheitswesen wie in der Schweiz, Einheitssteuer für alle, Reduzierung des Kündigungsschutzes und so weiter) bei vielen in der Union als Mitursache der Wahlschlappe gilt.

Kein Wunder also, dass Merkel eine Analyse des für die Union enttäuschenden Wahlausgangs so lange wie möglich hinausschieben will. Sie hatte im September noch weniger Stimmenprozente erzielt als Kanzlerkandidat Stoiber im Jahre 2002. Dieser wiederum zerdeppert derzeit so viel Porzellan in den eigenen Reihen, dass er selber angeschlagen ist. Stoiber vertritt, so rabiat er manchmal auch tönt und so fremdenfeindlich er auch ist, immer noch die Idee der Volkspartei, die die Union einmal war: Durchsetzung der Interessen der Elite - aber unter Berücksichtigung der Belange der kleinen Leute. Beim Kongress der neoliberal getrimmten Jungen Union am Wochenende kam er damit allerdings schlecht an.

Rechte Riege bei der SPD

Auch SPD-Chef Franz Müntefering steht in der Kritik. Unter seinem Kommando ist die SPD noch weiter nach rechts gerückt. Seine Töne zu Beginn des Wahlkampfs, die Debatte über Finanzinvestoren (die gut gehende Unternehmen aufkaufen, ausschlachten und auf die profitabelsten Firmenteile reduzieren), die Pläne für eine Reichtumssteuer, das Versprechen, die Sozialabbau-Agenda 2010 nachzubessern – all das ist längst verstummt. Müntefering hat sich eine rechte Ministerriege zusammengezimmert und wird trotz aller Proteste an der Basis einen ihm genehmen SPD-Generalsekretär durchsetzen; die von der Parteilinken favorisierte Andrea Nahles dürfte das Nachsehen haben. An einer Diskussion über die Wahlverluste – die SPD hat rund 2,2 Millionen WählerInnen verloren, darunter eine Million an die Linkspartei – hat er genauso wenig Interesse wie seine Koalitionspartnerin Merkel.

Dafür einigten sich beide überraschend schnell auf das Regierungspersonal. Auch das Programm, über das derzeit verhandelt wird, bietet kaum Probleme. Es verspricht «Heulen und Zähneklappern im Land», wie es Roland Koch, CDU-Ministerpräsident von Hessen, am Montag formulierte. Sechzig Milliarden Euro sollen in den nächsten zwei Jahren eingespart werden. Kürzungen beim Arbeitslosengeld, Stillstand bei den Renten, Ausbau des Niedriglohnsektors. Dazu noch mehr Privatisierung des öffentlichen Diensts und der zügige Verkauf öffentlicher Einrichtungen.

Weiter wie gehabt also. Die Union wird ein paar Abstriche machen und einen Teil ihrer Forderungen (wie nochmalige Senkung der Unternehmersteuern, sofortige Erhöhung der Mehrwertsteuer, grosszügige Entbindung der Firmen von Sozialabgaben) eintauschen gegen Zugeständnisse der SozialdemokratInnen auf anderen Gebieten: Einsatz der Bundeswehr auch im Inneren, Einschränkung der Migration, noch engere Kooperation der Polizei mit den Geheimdiensten. Die SPD dürfte damit wenig Mühe haben, hat doch ihr bisheriger Innenminister Otto Schily in den letzten Jahren mehr Bürgerrechte beschnitten, als sich dies die CDU je getraut hätte.

Weiterer Sozialabbau, Entzug der Bürgerrechte, Abschottung nach aussen – die Linkspartei könnte kaum bessere Voraussetzungen für eine Opposition finden. Allerdings wird sie sich erst zusammenraufen müssen. Dass dies nicht so einfach ist, zeigt der heftige Streit darüber, ob und unter welchem Namen man bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg (im März) antreten will.

Die Linkspartei wird auch entscheiden müssen, wo sie den Schwerpunkt ihrer Arbeit sieht: im Bundestag oder im ausserparlamentarischen Raum. Dass Gregor Gysi, einer der beiden Fraktionssprecher, jetzt schon laut darüber nachdenkt, wie man nach der nächsten Wahl eine dann vielleicht gewendete SPD zu einem linken Regierungsbündnis überreden könnte, ist kein gutes Zeichen. Denn solche Bündnisse gibt es bereits – in den Bundesländern Berlin und Mecklenburg-Vorpommern. Und da sieht die Politik in zentralen sozialpolitischen Bereichen nicht viel besser aus als auf Bundesebene.

Ein Blick in die Geschichte zeigt allerdings: Die letzte grosse Koalition von CDU/CSU und SPD (1966 bis 1969) – mit ihrem von oben verordneten Programm einer «formierten Gesellschaft», ihrem Eingriff in die Gewerkschaftsautonomie und ihren Notstandsgesetzen – hat der damaligen ausserparlamentarischen Opposition, der Apo, einen enormen Schub verliehen.

Nach 25 Jahren ein Auslaufmodell?

Es gibt noch Orte, da sind sie ganz stark: Über 22 Prozent der Stimmen bei der letzten Wahl, zweitgrösste Fraktion im Lokalparlament, und der regierende Oberbürgermeister kommt auch aus den eigenen Reihen. In Konstanz am Bodensee sind die Grünen noch eine politische Kraft. Anders sieht es auf Bundes- und Länderebene aus: Sie sind aus der Bundesregierung geflogen, stellen im Bundestag nur die kleinste von fünf Fraktionen und haben im Laufe der letzten Jahre auch alle MinisterInnenposten in den Landesregierungen eingebüsst.

Kurzum, die Grünen, die einmal angetreten waren, um das Land ökologisch, sozial und demokratisch zu erneuern, haben ihre Gestaltungskraft verloren. Nur in Konstanz und ein paar anderen Universitätsstädten wie Freiburg im Breisgau spielen sie noch eine Rolle – und vielleicht noch in Berlin-Kreuzberg, wo der grüne Linksaussen Hans-Christian Ströbele am 18. September sein Direktmandat verteidigen konnte.

Nun ist Konstanz, diese mittelständische Grenzstadt mit ihrem hohen Anteil an Studierenden, Lehrenden und ComputerspezialistInnen, nicht mit der Republik zu vergleichen. Ein paar Parallelen können jedoch gezogen werden. Zum Beispiel historische. Als die Bundesgrünen im Januar 1980 gegründet wurden, machten sich überall im Land zahllose Bewegungen daran, die Republik zu verändern – die Feministinnen demonstrierten gegen das allseits präsente Patriarchat, FriedensaktivistInnen verlangten Abrüstung, Anti-Atom-Initiativen besetzten AKW-Bauplätze, HausbesetzerInnen widersetzten sich der Wohnungsnot und der Immobilienspekulation, BürgerrechtlerInnen protestierten für das Bleiberecht von Asylsuchenden und gegen das «Berufsverbot» (wie der von der damaligen SPD-FDP-Regierung verfügte Ausschluss von «Radikalen» aus dem Staatsdienst genannt wurde). Diesen Bewegungen zu einer parlamentarischen Repräsentanz zu verhelfen – das war die Idee, die vor 25 Jahren zur Gründung der Grünen geführt hatte.

Von den Grünen zu Attac

Das Konzept (ein Spielbein in den Parlamenten, das wichtigere Standbein draussen auf der Strasse) überzeugte auch in Konstanz. Man werde der «Mauschlerclique im Rathaus» tüchtig einheizen, hiess es auf den ersten Sitzungen der Freien Grünen Liste (FGL). Und das tat man auch – in den Anfangsjahren zumindest. Heute sind die FGL-Abgeordneten Teil dieser Clique. Sie mauscheln mit, agieren hinter den Kulissen und «wollen von den sozialen Bewegungen nichts mehr wissen», wie es Holger Reile formuliert, der jahrelang für die Grünen im Kreisrat sass, inzwischen aber mit der «zutiefst strukturkonservativen Partei» nicht mehr viel zu tun haben will.

Seine Kritik könnte auch auf die Bundesgrünen gemünzt sein, die seit der Wahl und dem Abgang ihrer Führungsfigur Joschka Fischer etwas ratlos dastehen und sich auf ihrem Parteitag vor zwei Wochen nach allen Seiten öffneten. Zumindest auf Landesebene werde künftig «die politische Farbenlehre bunter», sagt Ralf Fücks, ehemaliger Vorstandsvorsitzender der Grünen; in Baden-Württemberg zum Beispiel können sich viele Parteimitglieder eine Koalition mit der CDU vorstellen. Und warum auch nicht: Die Grünen können zwar noch in einem einigermassen stabilen Milieu agieren, stehen nach dem Abschied von Rot-Grün aber ohne Projekt da.

Denn auf dem Weg zur Macht sind viele ihrer früheren Ziele und Prinzipien über Bord gegangen. Ihr Pazifismus hat den Krieg gegen Jugoslawien und den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan nicht überlebt. Ihr Engagement für die Bürgerrechte ist während der letzten Jahre weitgehend erlahmt: Das Bundesverfassungsgericht etwa hat mit seinen Einsprüchen gegen den Lauschangriff und das NPD-Verbot mehr gegen die Politik des Innenministers Otto Schily unternommen als alle grünen Abgeordneten zusammen.

Und selbst auf ihrem ureigensten Gebiet der Ökologie hat die Partei so viele Zugeständnisse gemacht, dass sie da kaum jemand noch ernst nimmt oder gar fürchten muss. Das war vor ihrer Regierungsbeteiligung noch anders gewesen. Damals hatte die CDU/FDP-Regierung unter Helmut Kohl eine Reihe von Umweltmassnahmen ergriffen, um der Ökobewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sie setzte in Brüssel eine europaweite Rücknahmeverordnung für Altautos durch (die kurz danach vom frisch gebackenen grünen Umweltminister Jürgen Trittin abgeschossen wurde) und erleichterte den Bau von Windanlagen (der entsprechende Passus im Bundesbaugesetz soll jetzt wieder gestrichen werden).

Gewiss: Im Verbraucherschutz und beim Ausstieg aus der Atomkraft haben die Grünen etwas erreicht. Doch der so genannte Atomkompromiss – er begrenzt die durchschnittliche Laufzeit der AKW auf 32 Jahre – steht schon wieder auf der Kippe.

Was also hat die Regierungsbeteiligung gebracht? Hat sie zu einer nachhaltigen Veränderung der Gesellschaft und des Umgangs mit der Natur geführt – oder nur die Grünen selber verändert? Eine Debatte darüber hat die Partei bisher vermieden.

Ein paar der früheren AktivistInnen haben jedoch mittlerweile die Konsequenzen gezogen, auch in Konstanz. «Die Grünen haben ihren Frieden mit dem Wachstumsgedanken gemacht», sagt beispielsweise Hendrik Auhagen, der vor 25 Jahren die Grünen in der Region mitgegründet hatte und eine Zeit lang auch im Bundestag sass. Nicht nur das. Auch in anderer Hinsicht seien sie «zu dem geworden, wogegen sie gegründet wurden». Auhagen engagiert sich jetzt bei Attac. pw (pw)