Deutschland: Jung und erbarmunslos

Arbeitslos am Bodensee

14. Juli 2005 | Erst ein halbes Jahr alt ist die Reform, die Kanzler Gerhard Schröder seine «wichtigste» nannte – und schon will niemand so recht dafür verantwortlich gewesen sein. Doch sie greift, wie das Beispiel Konstanz zeigt.

Wenigstens der Name hat einen heiteren Klang: «Sonnenschein» heisst die kleine Selbsthilfegruppe Konstanzer Arbeitsloser, die sich seit einem Jahr gemeinsam weiterbilden, andere Arbeitslose beraten, politische Arbeit betreiben und sich fast jeden Tag in der ehemaligen Chérisy-Kaserne treffen. Vor langer Zeit habe er einmal von einer DDR-Maurerbrigade Sonnenschein gehört, sagt Peter Kissinger, «und das hörte sich so freundlich an, dass wir den Namen übernommen haben».

Etwas Freundlichkeit können er und seine KollegInnen durchaus brauchen, denn die Arbeit, die sie da freiwillig tun, verlangt einen langen Atem. Seit im Januar der vierte Teil der rot-grünen Arbeitsmarktreformen («Hartz IV») in Kraft getreten ist, wachsen auch am Bodensee vielen Erwerbslosen die Probleme über den Kopf.

«Immer mehr kommen zu uns und suchen Rat», sagt der gelernte Stuckateur Kissinger. Einigen wurden gerade die Sozialleistungen gekürzt, andere erhalten kein Geld mehr, weil die Datenverarbeitungsanlage des neu gebildeten Jobcenters überfordert ist, die nächsten klagen über die Zuweisung in untertariflich bezahlte Jobs, und manche werden demnächst ins Obdachlosenheim ziehen müssen. Also informieren Kissinger und andere Sonnenschein-Mitglieder die Hartz-IV-Betroffenen über ihre Rechte, begleiten sie zum Jobcenter, schlagen sich dort mit SachbearbeiterInnen herum, alarmieren die im Konstanzer Gemeinderat vertretene PDS/Linke Liste über die neuesten Skandale und basteln nebenbei an den Computern, die sie demnächst in einem Internetcafé für Arbeitslose einsetzen wollen.

An Beratungsbedarf mangelt es nicht. Die Agentur für Arbeit Konstanz hat Anfang Juli die neuesten Zahlen veröffentlicht: Derzeit sind der Behörde im Bezirk Konstanz rund 16.000 Arbeitsuchende gemeldet (1300 mehr als im Vorjahr), aber nur 1200 offene Stellen. Die Arbeitslosenquote liegt mit offiziell 6,1 Prozent zwar deutlich unter dem nationalen Durchschnitt (11,3 Prozent), aber das Verhältnis von registrierten Arbeitslosen zu offenen Stellen entspricht dem nationalen Durchschnitt. «Der Arbeitsmarkt gibt hier nicht viel her», sagt Dorothea Wuttke von der Konstanzer Arbeitsagentur.

Unser bestes Stück

Die Situation auf dem Arbeitsmarkt ist also nicht besser geworden – und das trotz aller Einschnitte und Veränderungen, die die rot-grüne Regierung mit grossem Getöse angekündigt und umgesetzt hat. Die Gesetze über moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (so der offizielle Titel) seien die «wichtigste und umfassendste Reform» seiner Amtszeit, hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder die Massnahmen genannt, sein Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement jubelte sie gar zur «bedeutendsten Arbeitsmarktreform der Geschichte» hoch.

Auch der Arbeitsmarktreformer Peter Hartz (er musste vergangene Woche sein Amt als VW-Personalmanager zur Verfügung stellen, weil er sich allzu sehr im VW-Kungel-, Geld- und Sexskandal verstrickt hatte) sparte im Sommer 2003 nicht mit grossen Worten: Die «Profis der Nation» hätten sich etwas Grosses ausgedacht, sagte der Chef der von Schröder eingesetzten Kommission und versprach auch gleich das Ergebnis: Bis in zwei Jahren – bis heute also – würde sich die Zahl der Arbeitslosen um zwei Millionen reduzieren. Doch das Gegenteil trat ein: Mittlerweile sind in Deutschland rund eine halbe Million mehr Erwerbsfähige arbeitslos registriert als zu Beginn der rot-grünen Reformen.

Und nicht nur das: Die überwiegende Mehrheit der etwa 4,5 Millionen Menschen, die Arbeitslosengeld 2 (Alg2) beziehen, stehen jetzt deutlich schlechter da als zum Jahresende 2004. 2,3 Millionen Langzeitarbeitslose erhalten nur noch einen Regelsatz (siehe Kasten), und auch die 2,2 Millionen SozialhilfeempfängerInnen bekommen weniger als zuvor. Wenn so viele Menschen auf die soziale Rutschbahn gesetzt werden, kommen auch Umfragewerte ins Gleiten. Kein Wunder also, dass jetzt im Wahlkampf SPD, Grüne und CDU/CSU etwas zurückrudern.

Fordern statt fördern

In drei Punkten aber sind sich alle Bundestagsparteien einig:

● Für die Betreuung, die Leistungsauszahlung und die Überprüfung der Alg2-BezieherInnen ist eine neue Behörde zuständig, die meist – so auch in Konstanz – Jobcenter genannt wird. Daneben gibt es weiterhin die (kommunalen) Sozialämter und die (bundesstaatlichen) Arbeitsagenturen.

● Der Niedriglohnsektor soll ausgeweitet werden. So müssen Alg2-BezieherInnen so genannte Ein-Euro-Jobs annehmen, eine «zusätzliche Tätigkeit gemeinnütziger Art», die mit ein bis anderthalb Euro in der Stunde honoriert wird und für die keine Arbeitsrechte gelten.

● Die Kontrollen, der Zwang und die Strafen, die mit dem Alg2 eingeführt wurden, bleiben. Jede Tätigkeit gilt als zumutbar. So muss sich beispielsweise ein Architekt – wie kürzlich in Konstanz geschehen – auch als Erntehelfer bewerben. Weigert er sich, wird der Regelsatz um dreissig Prozent gekürzt, lehnt er nochmals ab, fallen weitere dreissig Prozent weg, und so weiter. Das Wort Erdbeerpflücker im Lebenslauf verbessert aber kaum die Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

Besonders die Kontrollmöglichkeiten und die Zwangsmassnahmen empören viele Arbeitslose. «Ich muss jederzeit damit rechnen, dass einer vom Amt vorbeikommt und Schränke, Truhen und Bett durchwühlt, um herauszufinden, ob ich nicht mit jemandem zusammenwohne, dessen Einkommen angerechnet werden kann», sagt einer, der seinen Namen nicht nennen will («wenn ich Ärger mache, stehe ich übermorgen in der Fussgängerzone und muss Abfall auflesen»). Schon der Gedanke daran sei entwürdigend – und denkbar sind solche Situationen durchaus. «Die Behörden verstärken zunehmend die Kontrolle, weil es keine Stellen gibt», sagt der Mann, der früher selbst im Arbeitsvermittlungsbereich tätig war.

Mitglieder der Selbsthilfegruppe Sonnenschein haben ähnliche Erfahrungen gemacht. «Im Jobcenter heisst es immer wieder: ‹Sie wissen ja, wir können auch anders ...›», sagt Peter Kissinger. «So werden die Leute unter Druck gesetzt.» Dass bisher nicht mehr Ratsuchende den Weg ins Sonnenschein-Büro gefunden haben, schreibt er einer weit verbreiteten Angst zu: «Viele wollen ihre Interessen nicht offen vertreten, weil sie Repressalien befürchten.» Und ausserdem: Wer zeigt im mittelständischen Konstanz schon gern die eigene Hilflosigkeit?

«Fördern und fordern» lautet das Schlagwort, das sich die Arbeitsmarkt-ReformerInnen ausgedacht haben: Die Langzeitarbeitslosen sollen mittels persönlicher Beratung und beruflicher Eingliederungsmassnahmen gefördert, aber auch dazu gedrängt werden, jede Tätigkeit anzunehmen. Die Beschäftigten des neuen Konstanzer Jobcenters können dem «Fördern» jedoch kaum nachkommen: Sie mussten vor drei Wochen in neue Räume ziehen, die EDV funktioniert noch immer nicht, der Arbeitsmarkt ist leer gefegt.

Und so verlegen sich manche SachbearbeiterInnen halt doch lieber aufs «Fordern»: «Die Eiseskälte, die einem da mitunter entgegenschlägt, ist atemberaubend», sagt Kissinger. Raphael Suska, 24, der gerade im Sonnenschein-Büro hockt, kann dem nur beipflichten. Ihm war von der gemeinnützigen Einrichtung Neue Arbeit eine Schreinerlehre angeboten worden. Diese Lehre hätte das Konstanzer Jobcenter aufgrund der Gemeinnützigkeit des potenziellen Lehrherren bezuschussen müssen – und so wies ihn der Sachbearbeiter des Jobcenters an, stattdessen einen Ein-Euro-Job zu übernehmen.

Amtlich geförderte Schwarzarbeit

Der Ein-Euro-Job ist eine der umstrittensten Vorgaben des Hartz-IV-Gesetzes: Die Massnahme erinnert an den Arbeitsdienst der Nazis und öffnet Lug und Trug die Tür. Langzeitarbeitslose sollen, so die Idee, durch gemeinnützige Tätigkeit wieder an den Arbeitsmarkt herangeführt und integriert werden. Der Staat zahlt Trägern wie Caritas, Diakonie, Arbeiterwohlfahrt oder Kolpingwerk monatlich 500 Euro, davon gehen 180 an die JobberInnen, die bis zu 120 Arbeitsstunden im Monat ableisten. 600 davon gibt es derzeit im Bezirk Konstanz, «eine stolze Zahl», wie Barbara Hummel vom Jobcenter das nennt. Aber nicht alle sind nur «zusätzlich» engagiert – in einem Altersheim und im Krankenhaus erledigen, so hört man, Ein-Euro-Kräfte die Jobs von vorher festangestellten Beschäftigten. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi klagt mittlerweile in Bayern gegen Träger, die rechtlose Ein-Euro-JobberInnen gesetzeswidrig normale tarifgebundene Tätigkeiten erledigen lassen und sogar mit Profit verleihen.

In Konstanz hat sich bisher noch niemand an die Öffentlichkeit gewagt. «Die Jobber müssen vorher unterschreiben, dass sie Stillschweigen bewahren», sagt Hans-Günther Heider, der im Ortsverband des Gewerkschaftsbunds DGB aktiv ist und lange Zeit selber arbeitslos war, «und wer sich äussert, ist nicht nur seinen Job los, sondern wird auch noch abgestraft.»

Seit Anfang Juli abgestraft werden übrigens auch all jene 12.000 Alg2-BezieherInnen im Bezirk, die in einer «zu teuren» Wohnung leben. Ein halbes Jahr lang haben die Behörden die tatsächlichen Mietkosten übernommen, die im teuren Konstanz überdurchschnittlich hoch sind. Damit ist jetzt Schluss, künftig wird nur noch ein «angemessener» Zuschuss gewährt. 398 Euro für eine sechzig Quadratmeter grosse Wohnung für zwei Leute, das sei doch angemessen, sagt Barbara Hummel vom Konstanzer Jobcenter. Für dieses Geld plus Regelsatz müsse «ein Friseur ziemlich viel Haare schneiden». Aber wer findet in Konstanz schon eine Zweizimmerwohnung für 400 Euro?

Viele werden also umziehen müssen. Wie viele es sein werden, weiss auch die Stadtverwaltung nicht. Aber was den Leuten blüht, die ihre Miete nicht mehr bezahlen können und keine billigere Unterkunft finden, ahnt Raphael Suska von der Selbsthilfegruppe Sonnenschein: Sie werden dann vielleicht ins Obdachlosenheim von Böhringen verwiesen. Er selber war schon dort – das Dorf liegt etwa zwanzig Kilometer von Konstanz entfernt – und bekam als Sozialleistung ein Taschengeld von 5 Euro pro Tag. Eine Rückfahrtkarte nach Konstanz kostet 5,40 Euro. (pw)




Hartz I bis IV

Im Zuge der «Agenda 2010» haben die rot-grüne Bundesregierung und die Opposition vier Gesetze «über moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt» verabschiedet, die nach dem ehemaligen VW-Personaldirektor Peter Hartz benannt sind:

● Hartz I und II (seit Anfang 2003): Private Zeitarbeitsfirmen («Personal-Service-Agenturen») können Arbeitslose vermitteln und erhalten dafür eine Provision. Arbeitslose können sich selbständig machen und eine «Ich-AG» gründen, die bis zu drei Jahre lang staatlich bezuschusst wird. Geringfügig Beschäftigte, die bis 400 Euro im Monat verdienen («Mini-Jobs»), müssen keine Steuern und Sozialabgaben entrichten.

Ergebnis bisher: Die neuen Agenturen konnten trotz hoher Zuschüsse gerade mal 26.000 Arbeitskräfte vermitteln, viele ExistenzgründerInnen sind nach kurzer Zeit gescheitert und haben sich wieder arbeitslos gemeldet. Die Zahl der Mini-JobberInnen ist zwar um eine auf über sieben Millionen angestiegen, ein Teil des Zuwachses ging aber auf Kosten regulärer, sozialversicherungspflichtiger Arbeitsverhältnisse (minus 430.000).

● Hartz III: Die Agenturen für Arbeit (früher Arbeitsämter geheissen) werden seit Anfang 2004 zu Servicezentren umgebaut mit «Kundenportal», «Kundensteuerung» und Callcenter. Ziel sind schnellere Abläufe und bessere Beratung. Das Problem dabei: Es gibt nicht genügend BeraterInnen.

● Hartz IV: Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum «Arbeitslosengeld 2», strenge Bedürftigkeitsprüfungen, geringere Leistungen, die generelle Zumutbarkeit auch untertariflich bezahlter Jobs, weitgehende Zwangsmassnahmen und befristete Arbeitsgelegenheiten («Ein-Euro-Jobs») sind das Kernstück der vierten Arbeitsmarktreform, die seit 1. Januar 2005 in Kraft ist.

Während früher Arbeitslose bis zu 32 Monate lang Arbeitslosengeld (etwa 63 Prozent des vorherigen Nettolohns) und danach die ebenfalls lohnorientierte Arbeitslosenhilfe (etwa 55 Prozent) erhielten, bekommen Arbeitslose nach 12 Monaten Arbeitslosengeld auf Dauer das so genannte Arbeitslosengeld 2. Dieses beträgt im Westen 345 Euro im Monat plus «angemessenem» Mietzuschuss und Heizungsgeld. Ein Paar erhält zweimal neunzig Prozent dieser Regelleistung.

Der bisherige Sozialhilfesatz (297 Euro für eine Person) wurde auf 345 Euro angehoben, dafür fallen aber alle Sonderzahlungen wie Kleidergeld, Renovierungsbeihilfe, Weihnachtsgeld für Kinderspielzeug, Beerdigungsgeld für Angehörige und der Ersatz für defekte Küchengeräte und Waschmaschinen weitgehend weg. (pw)