Deutschland: Rotgrüne Arbeitsmarktreform

Großer Socialabbau

2. August 2004 | Es wird viel protestiert in diesen Tagen. Die einen wollen alte Wörter wieder haben, die anderen wehren sich gegen den Sturz ins Nichts.

Es sei nie zu spät, eine falsche Reform zurückzunehmen. Das sagte vor Tagen der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) in einem Interview und erntete begeisterten Beifall. Die Klagen über die Reform, die er meinte, mehren sich täglich. Letzte Woche haben sich etliche Widerständler gar auf eine konzertierte Aktion verständigt: Die Chefredaktionen mehrerer grosser Zeitungen und Zeitschriften (von «Bild» bis «Spiegel», von der «Welt» bis zur «Süddeutschen Zeitung») verkündeten unter dem Beifall der bekanntesten deutschen SchriftstellerInnen, dass sie demnächst zur «bewährten» Rechtschreibung zurückkehren werden. Sie könnten die «widersinnige», «behördlich erzwungene» Reform nicht länger akzeptieren. Ihr Protest wirft allerdings einige Fragen auf.

Mal abgesehen davon, dass die alte Rechtschreibung noch unlogischer war als die neue und dass nichtstaatliche Einrichtungen ohnehin so schreiben können, wie sie wollen – abgesehen auch von der Tatsache, dass die ach so sprachbesorgten Chefredaktionen mit ihrer Aktion noch eine Weile zuwarten müssen (bis die Rechtschreibprogramme ihrer Computer wieder umgestellt sind): Warum stossen die vornehmlich konservativen, zumindest aber wirtschaftsliberalen Verlage nun gemeinsam mit einigen CDU-Landesfürsten ins gleiche Horn? Hat ihre Aktion etwas mit den bevorstehenden Wahlen in vier Bundesländern zu tun? Wovon lenken sie ab?

Und warum beschäftigen sich deutsche Intellektuelle derzeit viel mehr mit der Frage, ob ihnen künftig ein «belemmertes» (alt) oder «belämmertes» (neu) Verhalten attestiert wird, als einzugreifen in die wirklich grosse Auseinandersetzung um den Sozialabbau? Im Konflikt um den Rückbau des Sozialstaates haben sie sich bisher jedenfalls nicht zu Wort gemeldet. Anders als die Grossverlage übrigens, mit denen sie das Sommertheater gestalten: Diese plädieren seit langem für die «notwendige Reform des Arbeitsmarkts» und tadeln in jedem zweiten Leitartikel die «reformunwillige» Bevölkerung und das «Anspruchsdenken» der «faulen» Arbeitslosen.

Ganz so faul aber sind die bedrängten Menschen nicht. Am Montag zogen erneut Zehntausende durch die Städte im Osten der Republik, auch in Westdeutschland kam es zu Demonstrationen. Ihr Protest richtet sich vor allem gegen das «Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt». Dieses Gesetz wurde von einer Regierungskommission unter Vorsitz des VW-Personalmanagers Peter Hartz entworfen (daher der Beiname Hartz IV) und von allen Bundestagsparteien gutgeheissen. Es tritt am 1. Januar 2005 in Kraft und sieht drastische Einschränkungen für die 2,2 Millionen Langzeitarbeitslosen vor. Bisher bekamen Langzeitarbeitslose Arbeitslosenhilfe, deren Höhe sich am früheren Lohn orientierte. Künftig erhalten sie jedoch nur noch eine Unterstützung auf Sozialhilfeniveau: Alleinstehende bekommen demnach künftig im Westen neben Wohngeld und extra zu beantragenden Zulagen 345 Euro im Monat (im Osten 331 Euro). Ausserdem müssen sie jede «zumutbare» Arbeit annehmen (dazu gehört auch der zeitlich befristete Billigjob, den zum Beispiel ein Hamburger Unternehmer einer Konstanzer Arbeitslosen offeriert).

Der plötzliche Aufruhr

All das ist seit Monaten bekannt. Und doch regt sich erst jetzt Widerstand. Warum? Zum einen werden erst allmählich die Details des Gesetzes bekannt: Wer Hilfe beziehen will, muss vorher alles Ersparte aufgebraucht haben. Dazu gehören die private Altersversorgung (für die die rot-grüne Regierung nach ihrer Teilprivatisierung der Rentenversicherung seit Jahren wirbt), die Sparguthaben der Kinder (Minderjährige erhalten keine staatliche Unterstützung, wenn sie mehr als 750 Euro angespart haben) und die von vielen Eltern getroffene, zweckgebundene Ausbildungsvorsorge, die der Bildung ihrer Kinder (Lehre, Studium) dienen sollte.

Vor allem der Angriff auf die Kindersparbücher hat in den letzten Wochen für Empörung gesorgt. Dabei ist er nur konsequent. «Der Wahnsinn hat Methode», schrieb die «Frankfurter Rundschau». Und sie hat Recht: Wenn man «die Leistungen für Langzeitarbeitslose auf Sozialhilfeniveau rasiert», dann muss man auch die Bemessungsgrundlagen anpassen: Auch Minderjährige (1,1 der 2,8 Millionen SozialhilfeempfängerInnen sind unter achtzehn Jahre alt) dürfen kein «Vermögen» besitzen.

Zweitens tritt die rot-grüne Regierung immer dreister auf. Mitte Juli verstieg sich Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement (SPD) zu einer folgenschweren Äusserung. Wer zu blöd sei, das 16-seitige Antragsformular für das Arbeitslosengeld II – so heisst die neue Hilfsmassnahme – auszufüllen, solle bei ihm anrufen. Seither stehen die Telefone in seinem Ministerium nicht mehr still; viele SachbearbeiterInnen haben ebenfalls Mühe mit dem hoch komplizierten Formular. Ausserdem plant Clement derzeit noch, die Auszahlung des Arbeitslosengeldes II im Januar ganz zu streichen. Seine Begründung: Bisher wird die Arbeitslosenhilfe jeweils Ende Monat ausbezahlt, die Sozialhilfe jedoch am Monatsanfang. Die ab Januar 2005 auf Sozialhilfe reduzierten Arbeitslosen dürften also Anfang Januar nicht schon wieder Unterstützung erhalten.

Absturz ins Leere

Ausschlaggebend für die rasch wachsende Protestbewegung aber ist, dass immer mehr Menschen begreifen, wie schnell die Kürzungen jedeN EinzelneN treffen können. Egal, wie lange man in die Arbeitslosenkasse eingezahlt hat - nach einem Jahr ist mit den Auszahlungen Schluss (nur wer 55 Jahre und älter ist, bekommt eine Schonfrist von anderthalb Jahren). Danach gehts direkt in einen Abgrund, aus dem sich niemand mehr herausarbeiten kann: Denn die Arbeitslosigkeit nimmt weiter zu. Vielen dämmert auch, dass sie einem Trugbild aufsassen. «Es gibt kein Recht auf Faulheit», hatte SPD-Kanzler Gerhard Schröder Anfang 2001 gedonnert. Damals stimmten ihm die Fleissigen noch zu (wer will in Deutschland nicht als «fleissig» gelten?)Doch jetzt werden alle gebodigt, ob «fleissig» oder nicht, ob Bankangestellte oder Kaufmann, ob Internetspezialist oder Verkäuferin mit dreissig Jahren treuer Arbeit im selben Warenhauskonzern.

Und so akzeptieren immer weniger eine Politik, die eher an das Sparguthaben von Kindern geht, als die Vermögenssteuer wieder einzuführen. Die Empörung hat auch die CDU erschreckt. Etliche OppositionspolitikerInnen (sogar von der FDP) distanzieren sich nun von Hartz IV – obwohl gerade sie die Massnahmen vor kurzem noch als zu milde abgelehnt und im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat eine Verschärfung der rot-grünen Pläne durchgesetzt hatten.

Linke Alternativen

Die kollektive Wut könnte die Parteienlandschaft ändern. Im Osten erfährt die links-sozialdemokratische PDS enormen Zulauf und könnte sich bald mit den Problemen des Erfolgs herumschlagen müssen (etwa wenn sie stärkste Partei in Brandenburg wird). Im Westen wächst die Bedeutung der von linken GewerkschafterInnen getragenen «Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit». Auch die Medien nehmen die Linke plötzlich wieder wahr. Spätestens seit Oskar Lafontaine, der ehemalige SPD-Vorsitzende, in einem Interview davon sprach, die linke «Wahlalternative» zu unterstützen, falls die SPD ihren Kurs beibehält, halten westdeutsche Politikwissenschaftler einen Wahlerfolg dieser Bewegung für möglich.

Im Osten profiliert sich derweil aber auch die extreme Rechte. Bisher gelang es den Anti-Hartz-DemonstrantInnen zwar stets, die Neonazis mit ihren Parolen für einen «nationalen Sozialismus» in den Hintergrund zu drängen, doch bei den Wahlen in Sachsen und Brandenburg könnten sie durchaus Stimmen gewinnen. Vor allem im Osten nehmen die sozialen Konflikte dank Hartz IV auch handgreifliche Formen an. So haben die Arbeitsagenturen (früher hiessen sie Arbeitsämter) von Chemnitz und Leipzig private Wachdienste engagiert, um ihre Beschäftigten vor Übergriffen empörter Arbeitsloser zu schützen. Für die Regierung statistisch gesehen ein Erfolg: Auch so entstehen neue Arbeitsplätze. (pw)