Deutschland: Der Umbau geht weiter

Thatchers Enkel bei rotgrün

1. April 2004 | Sozialabbau sei unvermeidlich, sagt die Allparteienkoalition der Sparer – und plündert Staat und Sozialkassen. Dabei wachsen die Gewinne und der Reichtum der Eliten.

Im Ton moderat, in der Geste verbindlich, in der Aussage knallhart – Gerhard Schröder lief wieder zu grosser Form auf. Er erinnerte an die Anfänge des Wohlfahrtsstaats, sprach von der guten Wirtschaftswunderzeit, massierte mit seiner Kritik an zu hohen Managerlöhnen die sozialdemokratische Seele, stellte mehr Geld für Bildung und Familien in Aussicht und erläuterte, warum sich das Land ändern müsse. Im Kern aber werde er nichts ändern. «Die Agenda 2010 ist und bleibt unser Konzept, Deutschland zu neuer Stärke zu führen», sagte der Kanzler am vergangenen Donnerstag gleich zu Beginn seiner Regierungserklärung – und kündigte ein paar Minuten später die Fortsetzung der Reformen an: «Wir haben mit dem Umbau des Sozialstaates begonnen. Damit er auch in Zukunft denen hilft, die sich nicht selber helfen können.»

Die frohe Botschaft haben jedoch nicht alle vernommen – schon gar nicht die rund 400.000 Obdachlosen, die es in Deutschland mittlerweile gibt. Sie lesen kaum Zeitung, sie sehen selten TV und haben längst jedes Interesse an solchen Reden verloren. Denn seit der Gesundheitsreform – ein wichtiger Bestandteil der Agenda 2010 -– müssen sie sich mit ganz besonderen Problemen herumschlagen. Nun gelten auch für Wohnsitzlose die neuen Gebühren: für Arzt- und Zahnarztbesuche zehn Euro Eintrittsgeld im Quartal, für jedes Medikament in der Apotheke fünf Euro. Brillen müssen sie selber zahlen und demnächst auch den Zahnersatz. Das sind grosse Summen für jemanden, der vom Sozialamt 9,90 Euro am Tag erhält und – wie so manche Exjunkies auf Methadon – fast täglich die Arznei abholen muss.

Eine stationäre Behandlung im Spital können sie sich schon gar nicht leisten. Die kostet inzwischen 10 Euro am Tag, das Sozialamt gewährt Obdachlosen im Krankheitsfall jedoch nur 4,95 Euro. Die Gesundheitsreform ist auf der Strasse angekommen. «Wenn ich richtig krank bin, lege ich mich halt hin und bin weg, tot, aus, basta!», zitierte die Tageszeitung «Südkurier» einen Konstanzer Obdachlosen.

Die Agenda 2010, mit der die rot-grüne Regierung Deutschland stark machen will, ist ein Sozialabbauprogramm von bisher ungekannten Ausmassen. Sie schröpft nicht nur die Kranken. Ab 2005 müssen sich alle BeitragszahlerInnen für das Krankengeld (eine Art Lohnersatz bei Langzeiterkrankung) selber versichern. Die Renten werden drastisch gesenkt. Arbeitslose bekommen nur noch für ein Jahr Arbeitslosengeld und erhalten danach nur noch Leistungen in Höhe des Sozialhilfesatzes (monatlich 345 Euro im Westen, 331 Euro im Osten). Zuvor aber müssen sie «eigenes Vermögen» (auch die angesparte Betriebsrente) aufgebraucht haben. Ausserdem haben Arbeitslose jede Arbeit anzunehmen – auch Billiglohnjobs in anderen Landesteilen.

Nur so könne die Arbeitslosigkeit wirksam bekämpft werden, argumentieren SozialdemokratInnen und Grüne – als gäbe es in Deutschland nicht 7,5 Millionen Arbeitssuchende (die offizielle Arbeitslosenzahl von 4,6 Millionen berücksichtigt die Ausgesteuerten nicht) und gerade mal 270.000 offene Stellen. Ausserdem, so die Regierung, schnürten die «explodierenden» Sozialkosten den Unternehmen die Luft ab, die Lohnnebenkosten (der Sozialversicherungsbeitrag der Betriebe) seien viel zu hoch. Da habe man einfach handeln müssen. Es ist noch nicht lange her, da war die SPD richtig stolz auf das «Modell Deutschland». Dieses korporatistische Konzept im Rahmen des «Rheinischen Kapitalismus» habe für eine überdurchschnittlich hohe Wertschöpfungskraft gesorgt, weil es das «Human- und Sozialkapital» pflegte, hiess es noch in den neunziger Jahren.

Sozialpartnerschaft ade

Dieses Modell bestand im Wesentlichen aus einem grossen gesellschaftlichen Konsens: Die Unternehmen akzeptierten Handlungsbeschränkungen, verzichteten auf Entlassung nach Belieben und bezahlten bereitwillig einen Anteil an den Sozialkosten. Dafür unterstützten die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften die Rationalisierungsanstrengungen der Betriebe, beteiligten sich an der Standortkonkurrenz, enthielten sich «zu hoher» Lohnforderungen und verzichteten weitgehend auf Streiks. Auf politischer Ebene gaben Willy Brandts «Enkel» den Ton an. Ende der neunziger Jahre kündigte die Kapitalseite den Konsens auf. Mit dem Untergang der DDR war die Gefahr eines – wenn auch nicht sonderlich attraktiven – Gegenmodells verschwunden, die neoliberale Ideologie bemächtigte sich auch der Sozialdemokratie, die Elite entzog dem «Modell Deutschland» ihre Unterstützung.

Aber das sagte man natürlich nicht so offen. Stattdessen haben alle Parteien die «explodierenden» Kosten des Wohlfahrtsstaates entdeckt, überall «Investitionshemmnisse» wie zu hohe Steuern geortet und die «soziale Hängematte» in den Mittelpunkt ihrer Kritik gerückt. Aber stimmen diese Behauptungen?

Ein nüchterner Blick auf die verfügbaren Daten zeichnet ein anderes Bild:

● In den letzten Jahrzehnten stieg der Anteil aller Sozialleistungen am Bruttoinlandprodukt BIP (der Summe der im Land produzierten Waren und Dienstleistungen) nur unwesentlich – von 30,6 Prozent 1980 auf 31,9 Prozent 2000. Die moderate Erhöhung ist vor allem infolge der deutschen Vereinigung entstanden, für deren Kosten insbesondere die Sozialversicherung aufkommen musste: Nach dem Anschluss der DDR hatten die westdeutschen Konservativen unter Helmut Kohl das gesamte Staatsvermögen der DDR (Betriebe, Grundstücke, Gebäude) an westdeutsche Unternehmen verramscht; für die massenhaft zunehmenden Arbeitslosen und die RentnerInnen mussten daraufhin die (vorwiegend westdeutschen) BeitragszahlerInnen aufkommen. In den Jahren von 1991 bis 1999 entstanden der Sozialversicherung so Zusatzkosten in Höhe von 120 Milliarden Euro, die eigentlich der Staat hätte übernehmen müssen.

● Im europäischen Vergleich liegen die deutschen Lohnnebenkosten (der von Unternehmen und Beschäftigten entrichtete Sozialbeitrag an den Lohnkosten) mit einem Anteil von 34 Prozent inzwischen eher im Mittelfeld (Frankreich: 38 Prozent, Polen: 38 Prozent, Belgien: 35 Prozent). Sie sind seit 1996 in Deutschland um 1,4 Prozent gestiegen, im EU-Durchschnitt um 2,8 Prozent. Ausserdem zahlen in vielen EU-Staaten die Unternehmen weitaus höhere Beiträge als die Beschäftigten. Die Forderung der Senkung der Lohnnebenkosten ist aus Unternehmersicht durchaus logisch, gesamtwirtschaftlich aber eher schädlich. Erstens entsteht daraus kein Wettbewerbsvorteil, zweitens verschwinden die Sozialbeiträge nicht im Orkus, sondern fliessen in den Wirtschaftskreislauf.

● Die Unternehmenssteuern liegen in Deutschland unter denen anderer EU-Staaten. Seit der Reform der Körperschaftssteuer ist die Gewinnsteuer für Kapitalgesellschaften von 45 auf 25 Prozent gesenkt worden; damit nimmt Deutschland die vorletzte Stelle in der EU ein.

● 2002 haben die produktiven Kapitalgesellschaften einen Unternehmensgewinn in der Höhe von 315 Milliarden Euro erzielt (15 Milliarden mehr als 2001, 30 Milliarden mehr als 2000). Die direkte Besteuerung betrug 12,5 Milliarden. Derzeit beträgt der Anteil der Steuern und Sozialabgaben am BIP in Deutschland 41,2 Prozent, in Frankreich 45,4 Prozent, in Dänemark 49,8 Prozent.

● 1978, vor 25 Jahren, machten die Lohnsteuern rund 30 Prozent der gesamten Steuereinnahmen aus, der Anteil der Gewinn- und Vermögenssteuern lag nur knapp darunter. Heute liegt die Lohnsteuer bei rund 36 Prozent; die Gewinn- und Vermögenssteuern sind jedoch auf 14 Prozent gefallen.

Geld ist genug da

Ist das die «viel zu hohe» Belastung, von der Unternehmensverbände und die meisten PolitikerInnen der Bundestagsparteien ständig reden? Hat der Sozialstaat Deutschland tatsächlich eine Ausgabenkrise – oder nicht vielmehr ein politisch gewolltes Einnahmenproblem? Noch ein paar Zahlen:

● Derzeit liegt das Nettobarvermögen der «privaten Haushalte» (gemeint sind damit vor allem die zehn Prozent der Bevölkerung, die über 42 Prozent des Geldvermögens in Form von Sparguthaben, Dividenden und Anteilscheinen verfügen – die untere Hälfte der Bevölkerung besitzt gerade 4,5 Prozent) bei 2,2 Billionen Euro. Im Vergleich: Die Staatsschuld beläuft sich auf 1,3 Billionen.

● In Deutschland leben 755.000 Menschen mit einem Geldvermögen von über einer Million Euro. 20.000 verdienen pro Jahr mehr als eine Million. Diese EinkommensmillionärInnen sparen dank der rot-grünen Steuerreform (die für 2005 vorgesehene Steuersenkung mitgerechnet) 100.000 Euro im Jahr. Bis heute sind dem Staat dadurch Mindereinnahmen in Höhe von etwa 50 Milliarden Euro entstanden.

● Kaum ein anderes Industrieland besteuert die Reichen so wenig wie Deutschland. In den USA liegt der Anteil der Eigentumssteuern gemessen am BIP bei 3,1 Prozent, in Japan bei 2,8 Prozent, in Britannien bei 4,3 Prozent. In Deutschland sind es 0,9 Prozent.

Es fehlt in der deutschen Gesellschaft also nicht an Geld. Die rot-grüne Umverteilung von unten nach oben hat oben enorme Summen anwachsen lassen. Schon eine Rückkehr zu Steuer- und Abgabesätzen, die vor fünf oder zehn Jahren üblich waren, könnte den Fiskus und das Sozialsystem enorm entlasten. 1997 zum Beispiel hat Schröders Vorgänger Kohl die Vermögenssteuer kurzerhand gestrichen. Würde sie wieder erhoben, hätten die Bundesländer (denen sie einst zugute kam) 16 Milliarden Euro mehr, um etwa das Bildungswesen zu sanieren, in das im Laufe der letzten Jahre immer weniger investiert wurde.

Magere Reformansätze

Eine Rückkehr zu den alten Zeiten und Steuersätzen genügt jedoch nicht. Der Sozialstaat krankt auch am Beitragssystem. Bisher wird er von den LohnempfängerInnen finanziert, der Gesellschaft geht aber die bezahlte Erwerbsarbeit aus. Eine Massenarbeitslosigkeit von offiziell 10,6 Prozent (mit Tendenz nach oben) können die lohngestützten Sozialversicherungen nicht verkraften.

Deswegen diskutieren manche rot-grüne StrategInnen mittlerweile über eine Bürgerversicherung, der alle ohne die bisherige Einkommensobergrenze beitreten (auch BeamtInnen und Selbständige) und die alle Einkommen (auch Zinseinkünfte, Mieten, Dividenden) heranzieht. Ihr Modell schont aber ebenfalls die Reichen – es sieht eine deutliche Beitragssenkung für die Unternehmen vor. Die Gewerkschaften schlagen seit langem ein radikaleres Modell vor: Nicht allein Einkommen wie Lohn und Gehalt dürften als Massstab für den Sozialbeitrag gelten, auch die Wertschöpfung der Unternehmen müsse herangezogen werden. Denn bisher zahlten vor allem die lohn- und arbeitsintensiven Klein- und Mittelbetriebe die Lohnnebenkosten; der Beitrag der durchrationalisierten Grosskonzerne mit einem Lohnanteil an den Gesamtkosten von vielleicht zwanzig Prozent fiel eher bescheiden aus.

Ein solcher Systemwechsel verlangt jedoch Mut – einen Mut, den die deutsche Sozialdemokratie noch nie aufgebracht hat. Sie müsste die Mächtigen herausfordern. Dabei hat sie es nicht einmal geschafft, der Pharmaindustrie, deren Preise die Kosten des Gesundheitswesens nach oben treiben, eine profitmindernde Positivliste nützlicher Arzneien aufzuerlegen. Sie hat sich auch jahrelang gescheut, die Maastricht-Kriterien anzutasten, die einer Neuverschuldung enge Grenzen setzen.

Die Kriterien seien tabu, sagte die Regierung all jenen, die mehr Beschäftigungsprogramme und staatliche Investitionen forderten, um eine Wirtschaft zu beleben, die vor allem an der mangelnden Binnennachfrage krankt, während die Aussennachfrage kaum besser sein könnte. Der Exportüberschuss betrug im Jahre 2003 rekordverdächtige 96 Milliarden Euro. Auch beim Exportvolumen (764 Milliarden) übertraf die deutsche Wirtschaft alle anderen Länder. Gegen die Maastricht-Kriterien verstossen hat Rot-Grün erst, als ihre Steuersenkungen zugunsten der Unternehmen und der Reichen nicht den erhofften Wirtschaftsaufschwung brachten – und weil die Regierung ihre dem Kapital bereits versprochenen Zusagen nicht zurücknehmen wollte. (pw)