Deutschland: Gewerkschaften gehen auf Distanz

Der wöchentliche Rücktritt

22. Mai 2003 | Die rot-grüne Bundesregierung plant den sozialen Kahlschlag. Jetzt müssen die Gewerkschaften zeigen, was in ihnen steckt.

Jeder hat irgendwann seinen Vorrat an Rücktrittsdrohungen aufgebraucht. Denn irgendwann muss der Drohung auch die Tat folgen, sonst ist die Glaubwürdigkeit dahin – und mit ihr die Autorität. Im Falle des deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder geht der Vorrat rapide zur Neige. Wer seine «Agenda 2010» kippe, kippe auch den Kanzler, soll Schröder am Montag dieser Woche dem SPD-Vorstand gesagt haben, der zur Beratung der Sozialpolitik zusammengekommen war.

Damit hat Schröder bereits zum zweiten Mal innerhalb von drei Wochen die Partei mit dem Hinweis auf eine mögliche Demission erpresst (2001 setzte er mit dem gleichen Mittel eine deutsche Beteiligung am Afghanistan-Krieg der USA durch). Doch die Methode nutzt sich ab. Zumindest die «Frankfurter Rundschau» hat nach dem neuerlichen Ultimatum «manche» in den SPD-Gremien «schon feixen» sehen, «die anderen schauen wenigstens noch ernst drein».

Forderung nach Mitgliederentscheid

Der Parteiführung geht es derzeit nur um Schröder und den Erhalt ihrer Macht. Für sie kam es einer Majestätsbeleidigung gleich, dass nicht alle SPD-Gliederungen dem Regierungschef stehend Beifall zollten, als dieser Ende April mit seiner «Agenda 2010» den wohl grössten sozialpolitischen Umbau in der Geschichte der Bundesrepublik ankündigte. Und dass nun zum ersten Mal in der 140-jährigen Geschichte der Partei die Parteilinke Unterschriften für einen Mitgliederentscheid über die Reformpläne eines SPD-Kanzlers sammelt, hat die Führungsgremien hellauf entsetzt.

Und so genehmigten sie schliesslich den ebenfalls geforderten Sonderparteitag, der sich ausschliesslich mit dem geplanten Sozialabbau beschäftigen soll. Für den Kongress am 1. Juni liegen bereits 344 Anträge vor, alle richten sich gegen den Regierungsentwurf.

Dieser Entwurf («Agenda 2010») hat es in sich. Erstens soll der ohnehin schon begrenzte Kündigungsschutz für Beschäftigte in Kleinbetrieben aufgehoben werden (Stichwort: Flexibilisierung des Arbeitsmarktes). Zweitens werden künftig nur noch die Lohnabhängigen Beiträge für das so genannte Krankengeld bezahlen, das chronisch Kranken für ein paar Jahre eine Art Lohnersatz bietet (bisher wurde das Krankengeld paritätisch, also auch von den UnternehmerInnen finanziert). Drittens erhalten Arbeitslose unter 55 Jahren demnächst höchstens 12 Monate lang Arbeitslosengeld (bisher bis zu 26 Monate), danach bekommen sie nur noch die magere Sozialhilfe (die bisherige Arbeitslosenhilfe wird faktisch abgeschafft).

Doch das Programm ist bereits überholt. Denn die Regierung legte nach. So will sie nach der Teilprivatisierung des Rentensystems auch im Gesundheitsbereich die paritätische Kassenfinanzierung aufheben. Wer krank ist, muss mehr zahlen. Mehr für die Medikamente, mehr für einen Spitalaufenthalt. Wer zum Facharzt will, soll eine Besuchsgebühr entrichten. Auch das Sterbegeld fällt weg. Für die MittelständlerInnen in der SPD und in den Medien alles kein Problem, für die real sieben Millionen Arbeitslosen und die noch grössere Zahl von Armen aber eine Hürde, die sie kaum überwinden können; bisher hatten sie sich wenigstens darauf verlassen können, anständig beerdigt zu werden. All diese Massnahmen dienen wie auch die geplante Erhöhung des Rentenalters nur einem Zweck: Der Unternehmeranteil an der Sozialversicherung soll weiter gesenkt werden.

Sozialdemokratisch und kontraproduktiv

Dann würde endlich wieder investiert, dann könnten Arbeitsplätze entstehen, argumentiert Rot-Grün – als hätten all die anderen Massnahmen zuvor (Senkung der Unternehmenssteuern, Abschaffung der Vermögenssteuer, Kürzung der Sozialbeiträge für die «Arbeitgeber») neue Jobs entstehen lassen. Auch die Aufhebung des Kündigungsschutzes und die Kürzung des Arbeitslosengelds werden nicht mehr Beschäftigung hervorbringen – im Gegenteil.

Durch die steigenden Gebühren sinkt die Inlandsnachfrage weiter (ein Hauptproblem der deutschen Wirtschaft); eine schon unter der Regierung von Helmut Kohl vollzogene Einschränkung des Kündigungsschutzes hat nach Berechnungen der IG Metall über 150.000 Arbeitsplätze vernichtet (statt, wie versprochen, neue zu schaffen); die geplante Kürzung des Arbeitslosengeldes dürfte nach einer Schätzung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) gesamtgesellschaftlich 100.000 Jobs kosten.

Viele GewerkschafterInnen verstehen mehr von Volkswirtschaft als die neoliberalen StrategInnen im Berliner SPD-Präsidium. Sie wissen (oder ahnen zumindest), dass öffentliches Sparen in der Rezession die Krise nur vertieft, dass der hohe Schuldenberg des Staates vor allem zwei Ursachen hat: die teure Wiedervereinigung und die steuerliche Entlastung der Reichsten im Land. Da sie den rot-grünen Frontalangriff auf ihre (oft schlecht entlohnten) Mitglieder schon aus Gründen der Selbstbehauptung nicht zulassen können, machen sie mobil. Aber die Gewerkschaften sind politisch uneins. Auf der einen Seite stehen die IG Metall, die grosse Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und die IG Bau-Agrar-Umwelt. Auf der anderen Seite befinden sich die eher sozialpartnerschaftlich orientierten Organisationen wie die IG BCE (Chemie- und Energie-Branche).

IG Metall und ver.di mobilisieren momentan. Am kommenden Samstag sollen bundesweit Grossdemonstrationen der Regierung zeigen, was die GewerkschafterInnen von den SPD-Plänen halten. Die scheinbar eherne Allianz von Gewerkschaften und SPD ist brüchig geworden – immerhin hatte vor kurzem erstmals der Deutsche Gewerkschaftsbund DGB eine Zusammenkunft mit einem SPD-Kanzler abgesagt.

Doch die Abkehr von ihren neoliberalen GenossInnen in der SPD fällt den Gewerkschaftsspitzen nicht leicht. Schliesslich hat ihre Lohnzurückhaltung der letzten Jahre die Krise des Staatshaushalts und der Sozialsysteme noch verschärft. Weil sie selber lange Zeit dem neoliberalen Humbug («höhere Profite schaffen Arbeitsplätze») aufsassen, fällt es ihnen nun schwer, den Mitgliedern begreiflich zu machen, dass trotz hoher Staatsverschuldung derzeit nicht gespart werden darf.

Geld ist genug da. Nur schon mit der Wiedereinführung der Vermögenssteuer liesse sich leicht ein öffentliches Beschäftigungsprogramm finanzieren, das Arbeit schafft, Steuern abwirft und Sozialbeiträge hervorbringt. Doch Schröder besteht partout auf seinem prozyklischen Sparkurs. Und so wird er vielleicht noch ein paar Mal zu Rücktrittsdrohungen greifen müssen. (pw)