Buchkritik: Weltkrieg in den Bergen

Stellungskrieg in der Vertikalen

17. September 2014 | Nie zuvor – und später nur selten – gab es im Gebirge solche Gemetzel wie während des Ersten Weltkriegs in den Karnischen und Julischen Alpen und den Dolomiten.


Damit hatte niemand gerechnet, schon gar nicht die Rekruten, die nach Roms Kriegseintritt 1915 aus Süditalien an die Front geschickt wurden. Die Generalität und der König hatten ihnen von der Verteidigung des Vaterlands vorgeschwärmt. Und da sassen nun die in Uniform gepressten Landarbeiter und Tagelöhner, oft in schwindelerregender Höhe an Bergen, von deren Existenz sie bisher nichts wussten, im Schnee, den sie nie zuvor gesehen hatten, mit unzureichender Ausrüstung und angeführt von Kommandanten, die von moderner Kriegsführung keine Ahnung hatten. Jedenfalls anfangs nicht, denn warum sonst jagte der italienische Oberbefehlshaber Luigi Cardona seine Truppen in enger Formation ins Maschinengewehrfeuer?

Sie froren gottsjämmerlich in ihren hauchdünnen Uniformen (besonders im bitterkalten Winter 1916/17), die in den klammen Unterständen nie trockneten. Sie verreckten zu Tausenden an Krankheiten, wurden von Lawinen verschüttet, kamen durch Steinschlag um und mussten vielfach auch noch bergan kämpfen, weil der Feind – die ebenfalls zum Kriegsdienst gezwungenen österreichisch-ungarischen Truppen – topografisch eher begünstigt war. Und warum? Weil Italien, bis Mai 1915 neutral, von der Entente mehr versprochen bekommen hatte als von den Mittelmächten Deutschland und Österreich-Ungarn. Diese stellten dem italienischen Königreich den Trentino in Aussicht, der Geheimvertrag von London (April 1915) offerierte ihm aber mehr: neben der heutigen italienischen Provinz Trentino auch das bis dahin von der k-und-k-Monarchie kontrollierte Südtirol, die Stadt Triest, Istrien, Dalmatien und einen Teil der albanischen Küste.

Um imperiale Gebietsgewinne – und nichts anderes – kämpften Hunderttausende im verheerendsten vertikalen Stellungskrieg aller Zeiten. Zwischen Juni 1915 und Oktober 1917 lieferten sie sich insgesamt zwölf Schlachten am Isonzo (slowenisch: Soča); allein bei den ersten vier Schlachten 1915 starben auf italienischer Seite 175.000, auf österreichischer 123.000 Menschen. Sie fielen weniger dem direkten Kampf zu Opfer, sondern dem Gelände, der Witterung, den Entbehrungen und dem Minenkrieg. Vor allem in den Julischen Alpen und in den Dolomiten trieben Pioniereinheiten (vgl. Seitenspalte) Stollen in den Fels, platzierten Sprengstoff und sprengten Teile des Bergs weg – in der Erwartung, den Feind zu treffen. An manchen Bergen verliefen die Stollen der einen Seite direkt unter oder neben jenen der anderen. Die Gipfel des Krn (2244 Meter) oder der Batognica (2164 Meter) liegen seither einige Meter tiefer als vor dem Ersten Weltkrieg.

Viele Berge in den Dolomiten sind heute noch durchlöchert. Und viele Klettersteige, Wanderwege und Strassen wurden damals zu militärischen Zwecken gebaut – unter anderem von Kriegsgefangenen.

Wer will, findet in diesem Alpenkriegsgebiet noch viele Spuren der damaligen Kämpfe: Stacheldrahtreste, Gürtelschnallen, Granatsplitter, Knochen. Seit langem schon gibt es den Sentiero della Pace, einen 500 Kilometer langen Friedensweg durch die Südtiroler und italienischen Alpen, der einen unter anderem an der «Menschenmühle» des Pasubio (2232 Meter) vorbeiführt. Und kürzlich veröffentlichte der Rotpunktverlag den Wanderführer «Quer durch die Julischen Alpen» in seiner mittlerweile legendär guten Naturpunkt-Reihe. Wie viele Museen entlang des Dolomiten-Friedenswegs thematisiert auch dieser Band das Kriegsgeschehen vor hundert Jahren.

Woran aber all die Denkmäler, Ausstellungen und Bücher kaum erinnern, sind die politischen Konsequenzen dieses Alpenkriegs in Italien: Nach dem Chaos des Kriegs, dem Leid und den Enttäuschungen suchten viele italienische Veteranen stabile gesellschaftliche Verhältnisse – und glaubten, sie in den Versprechungen von Benito Mussolini gefunden zu haben. (pw)




Bernhard Herold, Dagmar Kopše: «Quer durch die Julischen Alpen. Vom Triglav-Nationalpark Sloweniens in die Voralpen des Friaul». Rotpunktverlag. Zürich 2014. 304 Seiten. 29.90 Euro.


«Abnorm grosser Abgang an Kranken»

«Die Verfügbarkeit über Motoren, Kompressoren, Bohrhämmern und Bohrmaschinen zählten zu den wichtigsten Faktoren bei den Bohrarbeiten. In dieser Hinsicht war vielleicht die italienische Technik und Ausrüstung der österreichischen überlegen. Tatsächlich kamen die Italiener in der Vorkuppe [des Kleinen Lagazuoi, 2778 Meter, in den Dolomiten] an die fünf bis sechs Meter am Tag voran, während die Österreicher höchstens einen Meter schafften (…)

Auf beiden Seiten war die physische Leistung der Mineure hart gefordert. Es galt, den Fels stundenlang mit dem schweren Bohrer zu bearbeiten, Steinbrocken [mit einem Gewicht] von bis zu dreissig, vierzig Kilo zu bewegen, oft in gebückter Haltung, in staubgeschwängerter Luft und ständig in der Angst, von einer gegnerischen Mine begraben zu werden (…)

Aus einem Rapport eines österreichischen Arztes: ‹Bei Sappeurkompagnien [Pioniereinheiten], welche längere Zeit im Minendienst standen, wurde ein abnorm grosser Abgang an Kranken wahrgenommen. Die ärztliche Beobachtung stellte hauptsächlich die Erkrankung der Nieren, des Herzens und der Nerven fest. Die Erkrankungen sind auf Mangel an Sauerstoff, grossen Durst und schwere, physische Arbeit in konstant gebückter Stellung zurückzuführen. Als Folge der Herzschwäche, dann aus Angst, von einer feindliche Mine eingequetscht zu werden, tritt eine grosse Nervosität ein. Sie wurde selbst bei kaltblütigen, kriegsgewohnten Leuten beobachtet.›»

Zitat aus: Comitato pro Cengia Martini-Lagazuoi: «Der Grosse Krieg auf dem Kleinen Lagazuoi», Cortina d'Ampezzo, 1990, Seite 20.