Andere Länder: Die Grenzen des Parlamentarismus

«Druck von außen kann etwas bewirken»

26. Mai 2023 | Der Grazer Politiker Ernest Kaltenegger über seine Erfahrungen als kommunistischer Politiker: Woher kommt der überraschende Aufstieg der steirischen KP? Was hat ihre Wohnungspolitik damit zu tun? Und wem nutzt das was?

Bei der Gemeinderatswahl 2021 in Graz gewann die Komministische Partei Österreichs (KPÖ) 29 Prozent der Stimmen und stellt seither als stärkste Fraktion auch die Bürgermeisterin von Österreichs zweitgrößter Stadt. Bei der Wahl für den Salzburger Landtag im April 2023 erreicht die KPÖ in der Festspielstadt sagenhafte 22 Prozent. Ein Gespräch mit Ernest Kaltenegger (geb. 1949), einem Urgestein der steirischen KPÖ, über die Hintergründe des Erfolgs.


Ernest, du hast angefangen in der sozialistischen Jugend, dann in der kommunistischen Jugend, bist 1981 Gemeinderat geworden, warst ab 1998 als Baudezernent verantwortlich fürs Grazer Wohnungswesen und wurdest 2005 in den steirischen Landtag gewählt – und das alles unter dem Etikett «Kommunist». Was ist für dich kommunistisch?

Ernest Kaltenegger: Kommunismus ist für mich eine faszinierende Idee, die auf einen Zustand abzielt, in dem alle die gleichen Chancen haben und die Unterschiede zwischen Arm und Reich nicht diese Rolle spielen wie derzeit bei uns; in dem die Idee des Friedens gilt und die Menschen unabhängig von ihrer Hautfarbe und Nationalität gut miteinander auskommen können. Diese Utopie hat mich als Jugendlicher schon fasziniert.

Lebst du als Kommunist anders?

Kaltenegger: Man lebt anders. Zum Beispiel war für uns immer klar, als wir Sitze in der Grazer Stadtregierung bekommen haben, dass wir uns unterscheiden müssen, dass Wort und Tat übereinstimmen müssen. Zum Beispiel haben wir immer kritisiert, dass bei uns in Österreich Berufspolitikerinnen und Berufspolitiker viel zu hoch bezahlt werden. Wenn du selbst dann plötzlich in diese Situation kommst, dann darf nicht passieren, dass du das viele Geld für dich behältst. Also haben wir 1998 einen Richtwert vereinbart, der sich am Facharbeiterlohn orientiert – und das ist bis heute auch durchgezogen worden.

Wie macht ihr das, dass euch die Macht nicht korrumpiert und verschleißt? Den Anspruch haben zum Beispiel auch die deutschen Gewerkschaften, deren Funktionär:innen in Aufsichtsräten sitzen und eigentlich ihre Tantiemen abgeben sollten – was aber bei weitem nicht alle tun.

Kaltenegger: Der erste Schritt, nicht korrumpiert zu werden, ist diese Einkommensbegrenzung. Zudem bleibt es kein Geheimnis, wie es auf unseren Konten ausschaut: Es gibt jedes Jahr gegen Jahresende den «Tag der offenen Konten», an dem wir nachweisen, was mit dem Geld passiert ist, das das Facharbeitereinkommen überschreitet.

Ich könnte also kommen und mir dein Bankkonto anschauen?

Kaltenegger: Wenn jemand besonders interessiert ist, wäre das kein Problem. Aber wir machen das in Form von öffentlichen Pressekonferenzen, bei denen wir Kontoauszüge und eine genaue Aufstellung vorlegen. Was ist mit dem Geld passiert? Wie viel wurde zur Unterstützung von Menschen in Notsituationen verwendet? Wir helfen, wenn eine Räumung droht oder der Strom abgeschaltet wird. In einem Fall haben wir einer Familie geholfen, die Leiche eines Verstorbenen in die Türkei zu überführen, das kostet in der Regel viel Geld.

«Man weiß aus eigener Erfahrung, wie es ist, mit wenig Geld auszukommen»

Natürlich kann nicht einfach jemand vorbeikommen und sich Geld abholen. Wir schauen uns die Lebensumstände der Menschen schon genau an. Wenn zum Beispiel wegen Mietzinsrückstand eine Räumung droht, versuchen wir, mit dem Vermieter eine Einigung herbeizuführen und überweisen ihm das Geld. In der Landtagsfraktion haben wir beispielsweise eine Sozialarbeiterin beschäftigt, die schaut, welche Unterstützung über die unmittelbare Hilfe hinaus denkbar ist und ob alle Möglichkeiten ausgeschöpft wurden.

Und das kommt an?

Kaltenegger: Das spricht sich in der Bevölkerung herum: «Mir wurde geholfen in dieser schwierigen Situation.» Zum Beispiel, wenn die Waschmaschine kaputt geht und man drei Kinder hat. Dann rufen wir den Elektrohändler an; der bringt dann die Maschine und schickt mir die Rechnung. So ist alles überprüfbar.

Hat der Sozialfonds noch andere Auswirkungen?

Kaltenegger: Unser System hat tolle Nebeneffekte. Erstens gibt es nie ein Gerangel um Listenplätze, weil niemand ein super Einkommen erwarten kann. Zweitens kleben die Leute nicht an ihren Funktionen, weil sie keinen finanziellen Absturz befürchten müssen. Und drittens, und das ist ganz wesentlich: Man weiß aus eigener Erfahrung, wie ist es, wenn man mit 2200 Euro auskommen muss.

Ich höre zwei Punkte heraus, die für euren Erfolg in Graz maßgeblich sind: eure Authentizität und euer offenes Ohr. Ihr seid die Kümmerer. Wenn ich ein Problem habe, kann ich kommen. Sind das die Hauptkomponenten?

Kaltenegger: Es spielt eine große Rolle, dass Menschen in schwierigen Situationen überhaupt irgendwo hingehen können. Wenn eine politische Partei eine andere Form des Zusammenlebens anstrebt, muss sie offen sein für alle. Es nützt nichts, wenn man Hilfesuchenden einen Termin in vier Wochen anbietet. Aus Erfahrung weiß ich, dass viele Leute in prekären Situationen den Kopf in den Sand stecken. Sie hoffen auf den Lotto-Sechser, der nie kommt, lassen die Post von Inkassobüros oder Hausverwaltungen ungeöffnet liegen und machen dadurch vieles noch schlimmer.

«Bei zwei Spekulanten hat unsere Unterstützung zum finanziellen Ruin geführt.»

Graz hat einen vergleichsweise geringen kommunalen oder genossenschaftlichen, gemeinwirtschaftlichen Wohnungsbestand …

Kaltenegger: Es sind ungefähr 11.000 Wohnungen, aber das unterschreitet die Nachfrage bei weitem. Wir haben schnell gemerkt, dass immer mehr Menschen Wohnungsprobleme haben. Dass ihnen Wohnungen überteuert vermietet wurden oder dass man versuchte, Mieterinnen und Mieter zum Teil mit Gaunermethoden aus ihren Wohnungen zu drängen. Indem man beispielsweise im Jänner die Stiegenhausfenster rausgenommen hat, weil die angeblich gerade jetzt dringend renoviert werden mussten.

Also haben wir einen Mieter-Notruf eingerichtet und die Telefonnummer unseres Parteibüros überall plakatiert. Um Menschen über ihre Rechte zu informieren. Denn wir hatten gemerkt, dass sich Leute oft nicht zu wehren trauen oder keine Chance für sich sahen. Und so haben wir unseren Mieter-Notruf um einen Rechtshilfefonds für Spekulantenopfer erweitert. Wir ermutigten die Menschen und haben ihnen gesagt: Passt auf, wehrt euch, ihr seid im Recht! Und wenn was bei Gericht schiefgeht, übernehmen wir die Verfahrenskosten.

Wie teuer war das?

Kaltenegger: Wir haben nie zahlen müssen, weil die Leute immer im Recht waren. Das hatte zur Folge, dass sich mehr zu wehren getraut haben. Es gab Fälle, bei den die Leute viel Geld zurückbekamen. Bei zwei Spekulanten hat das zum finanziellen Ruin geführt.

Das klingt ja jetzt fast nach Erfolgsrezept. Das sieht man auch in Salzburg, wo es so ähnlich läuft. Warum funktioniert das anderswo, in Innsbruck oder Bregenz, nicht? Warum ist es so schwer, das auf die Bundesebene zu übertragen? Dort dümpelt ihr ja immer so bei einem Prozent.

Kaltenegger: Salzburg hat den Beweis erbracht, dass dieses System funktioniert. Die haben vieles gleich gehandhabt, sich um Wohnungsprobleme gekümmert, Kontakte mit den Betroffenen aufgenommen, sie unterstützt. Meine Hoffnung ist, dass das jetzt mehr Schule macht. Man kann dadurch beweisen, dass es Möglichkeiten gibt, dass man nicht ausgeliefert ist, auch den Mainstreammedien nicht. Unser Konzept ist wesentlich effektiver als ein Zeitungsinserat, in dem steht, was für ein netter Mensch man ist.

Aber ist das auch auf die Bundesebene übertragbar?

Kaltenegger: Es ist möglich. Und ich bin optimistisch, dass das jetzt, nach der Salzburg-Wahl, stärker aufgenommen wird. Aber man braucht einen langen Atem. Du brauchst Leute, die bereit sind, diese Arbeit zu übernehmen. Das liegt nicht allen. Manche beschäftigen sich lieber mit theoretischen Fragen, das muss man respektieren, es braucht auch solche Leute. Aber man braucht auch den Kontakt. Es hat sich herausgestellt, dass die FPÖ in Österreich dort stark ist und auch in Graz stark war, wo es den Leuten am schlechtesten geht. Die hantiert mit Feindbildern und Sündenböcken, beispielsweise den Migranten, die bei uns nur abkassieren oder unsere Jobs wegnehmen würden. Das hat funktioniert. Bis die Leute bei uns merkten: Wenn ich mit meinem Problem zur FPÖ gehe, ändert sich nicht viel, aber bei der KPÖ finde ich Menschen, die sich wirklich interessieren …

… und wo’s auch was bewirkt.

Kaltenegger: Eine Partei muss ein theoretisches Fundament haben, das ist wichtig. Aber sie darf sich nicht darauf reduzieren. Um es mit Brecht zu sagen: «Zorn und Unzufriedenheit allein genügen nicht, so etwas muss praktische Folgen haben.» So kann man eine Verbindung herstellen zwischen der eigenen Lebenssituation und dem politischen System. Beides hat miteinander zu tun.

«Die Linke darf Menschen in prekären Lebensverhältnissen nicht abschreiben.»

Was wäre dein Rat an die Linke hier vor Ort? In Baden-Württemberg finden im kommenden Mai Kommunalwahlen statt. In Konstanz zum Beispiel hat die Linke drei von vierzig Mandaten, die Aufwandsentschädigung ist gering, zu verteilen gibt es also nichts – und am stärksten war die Linke bisher in Stadtteilen mit gutbürgerlichen, also auch vielen grünen Wähler:innen, und am schwächsten in den armen Quartieren. Was müssten sie anders machen?

Kaltenegger: Mir steht es nicht zu, Ratschläge zu erteilen; ich kenne die lokale Situation zu wenig. Was immer hilft: Man darf Menschen in prekären Lebenssituationen nicht abschreiben. Es ist immer eine Gefahr für Linke, egal ob hier oder bei uns, dass man Menschen ignoriert, nur weil sie vielleicht mal FPÖ gewählt haben. Manche wählen einfach aus Verzweiflung oder aufgrund einer Illusion solche Parteien. Aber sie sind nicht alle rechtsradikal! Wenn man mit diesen Leuten diskutiert, stellt sich oft heraus, dass sie uns wesentlich näher stehen als den Rechten. Denn die sind im Grunde genommen die Parteien der Reichen.

Ist die KPÖ also eine Partei der Armen?

Kaltenegger: Nein. Das haben wir bei der Gemeinderatswahl 2003 gespürt, als wir einen Sprung von 7,9 auf über 20 Prozent gemacht haben. Da ist etwas passiert, was wir nicht vermutet hatten, weil wir stark auf Menschen mit Wohnungsproblemen fokussiert waren: Wir gewannen plötzlich auch in bürgerlichen Bezirken viele Stimmen. Da sind Leute zu uns gekommen und haben gesagt: Ich habe nie was von Ihnen gebraucht, ich werde nie was von ihnen brauchen. Aber ich werde Sie wählen, weil es einfach notwendig ist, dass es auch Leute und Parteien gibt, die sich um Menschen kümmern, die am Rande stehen. Es gibt also sozial empfindende Menschen, die nicht wollen, dass unsere Gesellschaft so auseinanderdriftet.

Erreicht ihr auch andere innerhalb der liberalen bürgerlichen Mittelschicht, die sich für ganz andere Themen interessieren, zum Beispiel den Klimaschutz?

Kaltenegger: Unser Themenspektrum ist viel breiter geworden. Ende der 1980er Jahre haben viele unserer Genossinnen und Genossen die Sorge gehabt, dass wir zu einer Ein-Punkt-Partei werden. Das hat so nicht gestimmt; natürlich haben uns auch die anderen Themen interessiert. Aber man muss sich erst einmal konzentrieren. Damals saß ich ganz allein im 56-köpfigen Gemeinderat und habe auch andere Probleme angesprochen …

… heute sind es 15 von 48 …

Kaltenegger: … aber das Schwerpunktthema war Wohnen. In der nun viel größeren Fraktion gibt es natürlich Leute mit anderen Interessen und Zugängen und mehr Möglichkeiten, Termine wahrzunehmen, bei denen es um andere Fragen geht, beispielweise den öffentlichen Verkehr.

Das wäre jetzt dein Tipp: Wenn ihr noch klein und wenige seid, konzentriert euch auf ein, zwei wichtige Themen und arbeite dran, dass ihr in denen als kompetent erachtet werden, ohne die anderen jetzt völlig zu vernachlässigen. Kann man das so sagen?

Kaltenegger: Auf jeden Fall. Und was man noch sagen kann: Geht hinaus! Wenn man Mandate hat, besteht die Gefahr, dass du dich auf den Parlamentarismus konzentrierst, dass du in deiner eigenen Welt lebst. Du bist dann unter deinesgleichen, hast dieselben Interessen wie die anderen Gemeinderatsmitglieder, wirst zu denselben Events eingeladen – und dann bist du irgendwann entschwunden.

Das sollte also auf keinen Fall passieren?

Kaltenegger: Ein Beispiel dafür, wie man etwas auch ohne Mehrheit im Parlament durchsetzen kann: Wir haben im Zuge unserer Wohnungsaktivitäten gemerkt, dass immer mehr Leute für ihre Sozialwohnungen schon 50 bis 60 Prozent ihres Einkommens ausgeben müssen. Das ist Wahnsinn! Daraufhin haben wir verlangt, dass niemand mehr als ein Drittel des Einkommens für eine Sozialwohnung aufwenden darf. Unser Antrag wurde im Gemeinderat mit riesiger Mehrheit versenkt. Aber wir haben uns das nicht gefallen lassen, das steiermärkische Volksrechtegesetz genutzt und Unterschriften gesammelt. 10.000 hätten wir gebraucht, 20.000 haben wir zusammen bekommen, obwohl die KPÖ bei der vorausgehenden Wahl nur 5000 Stimmen erhalten hat. Die Folge war ein einstimmiger Gemeinderatsbeschluss.

Und der gilt heute noch?

Kaltenegger: Ja. Druck von außen kann etwas bewirken.


(Ralph-Raymond Braun / pw)

Die Renaissance der KPÖ

1918 gegründet, im Zuge der Februarkämpfe 1934 gegen den Austrofaschismus groß geworden, während der NS-Herrschaft aktiver im (Partisan:innen-)Widerstand als andere, 1945 eine der drei Gründungsparteien der zweiten Republik Österreich, danach allmählicher Niedergang in die Bedeutungslosigkeit: So in etwa könnte man die Geschichte der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) zusammenfassen – wenn da nicht die bemerkenswerten Wahlergebnisse in zwei Bundesländern beziehungsweise deren Hauptstädte wären.

Bei der letzten Nationalratswahl 2019 gewann die Partei gerade mal 0,7 Prozent der Stimmen, mehr erzielt sie in der Regel auch bei Landtagswahlen nicht. In Graz und in Salzburg hingegen kam die Partei dank ihrer konsequent basisnahen, sozialen Politik (siehe Interview) bei letzten Wahlen auf Platz 1 beziehungsweise Platz 2.

Mit rund 2500 Genoss:innen gehört die KPÖ zu den mitgliederschwächsten Parteien Österreichs – was allerdings auch daran liegt, dass jedem Beitritt ein persönliches Gespräch vorangeht. Dennoch gewann sie zuletzt viele junge Mitglieder. Denn 2017 warf die Bundespartei der österreichischen Grünen ihre Jugendorganisation, die aufsässigen „Jungen Grünen“, aus der Partei; diese engagierten sich daraufhin teilweise in der neu entstandenen Wahlallianz „KPÖ PLUS“ oder traten gleich der Partei bei.

So war der Salzburger Spitzenkandidat Kay-Michael Dankl, 34 Jahre alt und heute Fraktionsvorsitzender der KPÖ im Salzburger Landtag, bis 2017 Bundesvorsitzender der Jungen Grünen. Die zunehmende Betonung anderer Themen wie Klimaschutz, Migration oder Antirassismus zeigt den Einfluss der Jungen. Und davon gibt es in der KPÖ einige: Robert Krotzer zum Beispiel, in der Partei zunehmend einflussreich und Gesundheitsdezernent der Gemeinde Graz, ist gerade mal 36 Jahre alt. (pw)