Andere Länder: EU-Wahl 2014

Ach, Europa

27. Mai 2014 | Im sechsten Jahr der Krise rückt die EU nach rechts – jedenfalls in vielen Ländern. Allerdings: Ganz so drastisch, wie manche Zahlen vermuten lassen, ist die Lage nicht. Noch nicht.

Kurz vor Schluss schwenkte Angela Merkel scharf nach rechts. Während des gesamten EU-Wahlkampfs war wenig von der deutschen Bundeskanzlerin (CDU) zu hören gewesen, aber dann konstatierte sie in einem Zeitungsinterview: «Die EU ist keine Sozialunion.» Damit näherte sie sich deutlich den EuropagegnerInnen von der Alternative für Deutschland AfD («Wir sind nicht das Weltsozialamt») und der rechtsextremen NPD («Wir sind nicht das Sozialamt der Welt») an, die seit langem Massnahmen gegen die sogenannte Armutszuwanderung fordern.

Viel geholfen hat Merkels späte Übernahme fremdenfeindlicher Positionen ihrer Partei nicht: Die AfD erzielte das erwartete Ergebnis (sieben Prozent), auch die NPD zieht – aufgrund der in Deutschland fehlenden Prozenthürde – in das Europaparlament ein.

Aber sonst hat sich im Land mit den meisten EU-Mandaten wenig geändert. Das lag zum einem an der – im Vergleich zur EU-Wahl 2009 – höheren Wahlbeteiligung (in vielen Bundesländern fanden gleichzeitig Kommunalwahlen statt); zum anderen leidet die Bevölkerung hier vergleichsweise wenig unter den Folgen der Finanzmarktkrise, die in anderen grossen EU-Staaten diese Wahl prägten. In Frankreich, England und Dänemark überholten der Front National (FN), die United Kingdom Independence Party (Ukip) und die Dansk Folkeparti mit ihren rassistischen Parolen gegen «Überfremdung» die etablierten Parteien. In Österreich und Finnland erzielten rechtspopulistische Parteien zweistellige Ergebnisse. Aber viele dieser Resultate waren erwartet worden – selbst jene der offen faschistischen Parteien Jobbik (Ungarn) und Goldene Morgenröte (Griechenland). Nur Geert Wilders' niederländische Partei für die Freiheit schnitt – wohl aufgrund ihres Bündnisses mit dem FN – schlechter ab als prognostiziert.

Im EU-Parlament mit seinen begrenzten Kompetenzen sind die RechtspopulistInnen allerdings kaum handlungsfähig. Die Rechte ist zu heterogen, zu national orientiert, als dass sie auf dieser Ebene zu einer Kraft werden könnte, zumal sich manche kaum für parlamentarische Arbeit interessieren – wie jene bisherigen Ukip-EU-Abgeordneten, die nur in Brüssel oder Strassburg auftauchten, wenn es darum ging, Mandatszulagen abzuholen.

Zudem besagen ihre Erfolge derzeit noch nicht viel: Die EU-Wahlen wurden schon immer von vielen als ein Sammelsurium von nationalen Testwahlen gesehen und mithin als geeignetes Mittel, «denen da oben» einen Denkzettel zu verpassen – sofern die Leute nicht gleich zu Hause blieben wie in Italien und vielen osteuropäischen Staaten.

In den Einzelstaaten hingegen hat ihr Zugewinn teilweise gravierende Auswirkungen, weil das die Politik nach rechts verschiebt – siehe Frankreich, siehe Britannien (wo der Premierminister David Cameron schon vor dem absehbaren Ukip-Erfolg die Parlamentsarbeit für zwei Wochen sistieren liess, um seinen stramm konservativen HinterbänklerInnen keine Gelegenheit für Putschversuche zu bieten, und wo der Arbeitsminister für EU-AusländerInnen die Dauer der Anspruchsberechtigung auf Sozialhilfe halbierte). Und siehe auch die deutsche SPD. Die war sich nicht zu schade, ebenfalls auf die nationale Karte zu setzen: «Nur wenn Sie Martin Schulz und SPD wählen», hiess es in einer Anzeige, «kann ein Deutscher Präsident der EU-Kommission werden».

Das ist wenig wahrscheinlich. Aber schon jetzt zeichnet sich ab, dass die beiden grossen christdemokratischen und sozialdemokratischen Blöcke künftig noch enger zusammenrücken. Dabei waren sie (und die Liberalen) es gewesen, die im Europäischen Rat der Staats- und RegierungschefInnen sowie im EU-Parlament den Ruf der als Wirtschaftsgemeinschaft gebildeten EU gründlich ruinierten: durch ihre marktradikalen Deregulierungsdirektiven, ihre Privatisierungen, ihr elitäres Gehabe und ihre brutale Austeritätspolitik. Aus ihren Reihen kommt die nächste EU-Führungsspitze – und die wird weitermachen wie bisher.

Denn so stark, wie erhofft, sind jene Kräfte dann doch nicht geworden, die ein anderes, ein menschenfreundlicheres Europa durchsetzen wollen. Gewiss: In Deutschland konnte sich die Linke bei rund 7,5 Prozent halten, in Griechenland siegte Syriza mit knapp 27 Prozent, in Spanien kam die Vereinigte Linke auf zehn Prozent und die neue Partei Podomos aus dem Umfeld der Indignados auf acht Prozent. In Irland wiederum wählte die Bevölkerung gleich drei Sinn-Féin-Abgeordnete nach Brüssel, die dort – zumindest vorläufig – in der Konföderalen Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken (GUE/NGL) mitarbeiten. Und selbst in Italien meldete sich eine Linke zurück. Aber mit knapp sieben Prozent aller EU-Mandate wird die Linke auf parlamentarischen Wege allein weder das EU-Flüchtlingsregime ändern noch die vielen sogenannten Freihandelsabkommen verhindern können.

Dabei hängt von ihr und ausserparlamentarischen Bewegungen ab, ob jene Vision eines freien, sozial gerechten, klassenlosen Europas Realität wird, die italienische AntifaschistInnen um Altiero Spinelli 1941 auf der Gefängnisinsel Ventotene in einem Manifest skizziert hatten. Es wurde in der Nachkriegszeit zu einem europäischen Gründungsdokument. Von diesem Ziel ist die EU seither noch nie so weit weg gewesen wie heute. (pw)