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Kapital & Arbeit: Genossenschaftsgeschichte

Die Kultur des Kooperierens

3. April 2017 | Warum sind in einigen Regionen – etwa dem Baskenland oder die Provinz Reggio Emilia – Genossenschaften stärker verankert als in anderen? Ein Erklärungsversuch.


Wer nach Italien reist, fährt meist dran vorbei – zu unbedeutend erscheint die zwischen Parma und Modena gelegene Stadt Reggio dell'Emilia mit ihren rund 170.000 EinwohnerInnen. Und zu unscheinbar wirkt die gleichnamige Provinz (Bevölkerung: eine halbe Million), die sich vom Po bis zum Apennin erstreckt – trotz des Parmigiano-Reggiano, der hier (und nicht in Parma) gekäst wird, trotz ihrer linken Geschichte, trotz der ehrwürdigen Altstadt. Und so bekommen auch nur wenige den Hauptplatz von Reggio mit seinen vielen Denkmälern zu sehen, darunter auch eine Büste von Camillo Prampolini, nach dem auch die Piazza benannt ist.

Prampolini (1859-1930) war lebenslang Sozialist gewesen, der wie kaum ein anderer italienischer Politiker seiner Zeit das Konzept einer alternativen Ökonomie vorantrieb: Die Arbeiterselbstverwaltung habe den Zweck, «die Bevölkerung auf ein ökonomisches, intellektuelles und moralisches Niveau zu heben, um so die siegreiche Revolution vorzubereiten, ohne das Proletariat in ein Massaker und in die Niederlage zu führen», schrieb er 1889 in der von ihm gegründeten Zeitung «La Giustizia». Reform und Revolution – nach diesem Motto vergesellschaftete während seiner Zeit die Stadtverwaltung von Reggio Gas-, Strom- und Wasserversorgung; sie kommunalisierte Bäckereien und Schlachthöfe und gründete 1900 kommunale Apotheken, die nicht nur die Armen mit billigen Medikamenten versorgten, sondern auch selbst Arzneimittel herstellten. Noch heute erwirtschaften die Farmacie Comunali einen Überschuss, der städtischen Sozialprojekten zugute kommt.

Die alten Prinzipien gelten noch

Schon zu Beginn der Arbeiterbewegung hatte es solche Ansätze gegeben. Bereits während der Industrielle Revolution entstanden – angeregt durch die Ideen frühsozialistischer Visionäre wie Charles Fourier oder Robert Owen – die ersten modernen Genossenschaften. 1844 etwa gründeten Weber im nordenglischen Rochdale einen Konsumverein und formulierten jene Prinzipien, die heute noch für Kooperativen gelten: offene Mitgliedschaft, keine Diskriminierung, basisdemokratische Kontrolle, Autonomie und Unabhängigkeit.

Neben den Verbraucherorganisationen entwickelten sich in vielen Staaten bald Produktionsgemeinschaften; in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs das Genossenschaftswesen zu einer breiten Bewegung heran. Vielerorts scheiterten sie jedoch – nicht zuletzt an der etatistisch orientierten Linken. Die großen sozialistischen (später auch kommunistischen) Parteien setzten damals entweder auf die Revolution, nach der sich sowieso alles ändern werde, oder auf staatliche Reformen. Änderung der Eigentumsverhältnisse durch den Aufbau von Kooperativen? «Freie Assoziation der Produzenten» (Karl Marx)? Das erschien vielen als ein zu mühsamer Weg, als kleinbürgerliches Vorgehen, das zudem die Klassengrenzen verwischte.

So kam es, dass in Industriegebieten mit zentralistisch organisierten Gewerkschaften und Parteien die Genossenschaftsidee nur in Konsumvereinen überlebte. In ländlichen Regionen wie in Reggio Emilia oder im Baskenland gab es weder eine leninistische Hierarchie noch einen starken bürgerlichen Staat. Hier ging es den Menschen vor allem um die Sicherung ihrer Lebensgrundlagen. In dieser norditalienischen Provinz waren halbautonome LandarbeiterInnen und Pächter die treibende Kraft. Während im italienischen Süden oder in der Region um Mailand Grossgrundbesitzer Heerscharen von TagelöhnerInnen kontrollierten, wirtschafteten die Pachtbauern auf nahe beieinander liegenden Gehöften – und halfen sich gegenseitig. Der nächste Hof war zu Fuss zu erreichen, man teilte sich die Werkzeuge, sprang in Notfällen ein. Und kämpfte oft gemeinsam gegen die Gutsbesitzer. Eine vergleichbare soziale Topografie wies übrigens das Baskenland auf, wo Zusammenhalten und -arbeiten bereits Tradition hatten, als in den 1950er Jahren zwischen verstreuten Höfen und Weilern die erste Mondragón-Kooperative entstand.

Staatsferne und Handlungsnotwendigkeit

Auffällig ist eine weitere Gemeinsamkeit: die Staatsferne. Im Baskenland wurde und wird der (spanische) Staat vor allem als Repressionsagentur wahrgenommen, entsprechend groß ist dessen Ablehnung – und der Wunsch nach Selbständigkeit und autonomer Entwicklung, die in Mondragón einen Ausdruck fand. In Norditalien hingegen musste sich zwischen der Staatsgründung 1861 und dem Ersten Weltkrieg niemand vom Staat distanzieren – es gab ihn de facto nicht – beziehungsweise nur als Repressionsagentur. Und so war Selbsthilfe angesagt: Weil niemand anderer das tat, bauten die Menschen gemeinsam Strassen, gründeten Eisenbahn-Kooperativen, schaufelten Dämme gegen die Hochwasser des Po, errichteten Volkshäuser mit Bibliotheken, Versammlungsräumen und Theatersälen. Nach Nazibesatzung und Zweitem Weltkrieg blühte die lokale Genossenschaftsbewegung wieder auf: So manche Partisanen sahen nach der Befreiung in Kooperativen das Gegenkonzept zu Kapitalismus und Faschismus.

Ähnliche Faktoren erklären übrigens auch die Existenz einer weiteren Kooperativen-Hochburg: Sherthala im südindischen Bundesstaat Kerala. Der besonders lange und zähe Kampf der lokalen Bevölkerung gegen die britischen Kolonialherrn hatte dort einen Selbstbehauptungswillen entstehen lassen, der nach der Unabhängigkeit nicht einfach verschwand: Privatinvestoren machten einen großen Bogen um das Gebiet. Und so blieb den Fischern, Textilarbeiterinnen, Kokospflückern und Dienstleistungsbeschäftigten (darunter die Kellner des Indian Coffee House) nur die Alternative, sich selber zu organisieren.

Verantwortung übernehmen, eigenständig denken, solidarisch handeln und gemeinsam in Kooperativen dem renditegetriebenen Kapitalismus Paroli bieten – im Prinzip können das alle, überall. Dafür gibt es viele Beispiele. Doch nicht immer gelingt der Sprung in die kollektive Selbständigkeit. Weil Gesetze das verhindern. Oder weil die Kultur dafür fehlt: Selbst kampfstarke LohnarbeiterInnen sind nicht unbedingt auch engagierte und unternehmerisch denkende Kollektivmitglieder. So übernahmen beispielsweise die Belegschaften der Chemnitzer Werkzeugmaschinenfabrik Union und der Flugzeugwerke Pfalz 1996 und 1997 ihre kriselnden und von Schliessung bedrohten Betriebe. Als die Firmen ein paar Jahre später wieder profitabel waren, verkauften die Beschäftigten ihre Anteile. (pw)

Dieser Text erschien in der März-Ausgabe der Wirtschaftszeitung Oxi.