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Indien: Kerala ist anders

Wo die Linke noch hoffen darf

12. Mai 2016 | Im indischen Bundesstaat Kerala wird am kommenden Montag wohl wieder eine kommunistisch geführte Regierung gewählt. Wieso muss sich die Linke dennoch reformieren?

Text: Joseph Keve, Alleppey; Übersetzung: Pit Wuhrer

«Habt Ihr auch genug von Korruption, Nepotismus, Arbeitslosigkeit und den vielen Meldungen über Selbstmorde? Wollt Ihr den Wandel? Dann stimmt für ihn!» Thomas Isaac ist ziemlich in Fahrt. Mit grossem Elan spricht er zu den Kokosarbeitern, Gemüsebäuerinnen, Hirten und Fischerinnen, die sich am Rande der südindischen Hafenstadt Alleppey versammelt haben, um ihn zu hören. Drei Mal haben sie bisher den 63-Jährigen mit dem grauen Vollbart ins Parlament von Kerala gewählt, und sie werden es wohl wieder tun. Denn Isaac – führendes Mitglied der Kommunistischen Partei Indiens/Marxisten (CPIM) – gilt als unerschrocken, ehrlich, erfahren.

Und er kann zuhören. Am Ende seiner Wahlkampfrede kramt Isaac, der in der vorletzten Legislaturperiode Finanzminister der Linksdemokratischen Front (LDF) gewesen war, Zettel und Bleistift hervor und notiert, was die ZuhörerInnen so alles erwarten: besseren Zugang zu Trinkwasser, breitere Strassen, höhere Witwenrente, Unterstützung der biologischen Landwirtschaft, Arbeitsversicherung für TagelöhnerInnen. Die Liste könnte er womöglich bald brauchen: Sollte die LDF die Wahl am 16. Mai gewinnen, wird Isaac wieder für Keralas Finanzen zuständig sein.

Ein kommunistischer Finanzminister in einem Bundesstaat mit 35 Millionen EinwohnerInnen? Das schreckt hier niemanden. Denn Kerala wird seit bald sechzig Jahren von KommunistInnen mitregiert: Sie gewannen bei den ersten Wahlen 1957 eine Mehrheit, etablierten die erste frei gewählte kommunistische Regierung der Welt, begannen Land- und Bildungsreformen, dezentralisierten Machtstrukturen, führten einen Mindestlohn ein – und wurden von der Zentralregierung in Neu-Delhi abgesetzt. Einige Jahre später (die KommunistInnen bekamen erneut die meisten Stimmen) wiederholte sich der Vorgang, der nicht ohne Folgen blieb. Der Elan der ersten Jahre verpuffte. Während der sechziger Jahre waren von der Linken noch Kooperativen gegründet worden; sie mobilisierten die Jugend, bauten Leseräume, errichteten auf dem Land Kliniken, bekämpften alle Formen des Aberglaubens und halfen bei Naturkatastrophen.

Danach konzentrierte sich die Partei jedoch auf den parlamentarischen Weg, sie verlor den Kontakt zu den Bewegungen, setzte sich im Staatsapparat fest – und war nur noch punktuell von der Kongresspartei zu unterscheiden. Weil diese aber auch nicht besser war, wechseln sich die beiden Lager – das von der CPIM geführte LDF-Bündnis und die von der Kongresspartei dominierte United Democratic Front (UDF) – in schöner Regelmässigkeit an der Regierung ab. Keine Seite hat jemals die Wiederwahl geschafft, die Regierenden mussten stets der Opposition weichen.

Das könnte auch diesmal der Fall sein – zugunsten der Linken. Alle Umfragen deuten darauf hin, dass die Bevölkerung der momentan regierenden UDF eine Abfuhr erteilt; zu sehr hat sich die Kongresspartei in Korruptionsaffären verstrickt, zu dünn ist ihr Programm.

Geschäft statt Visionen

Während Keralas KommunistInnen also immer wieder die Geschicke des Bundesstaats bestimmen können und beispielsweise dafür sorgten, dass der öffentliche Verkehr Teil des Service public blieb, steckt die indische Linke in einer schweren Krise. Noch nie standen die kommunistischen und sozialistischen Parteien so schlecht da. Bei der letzten Parlamentswahl im Mai 2014, die die HindunationalistInnen um Narendra Modi an die Regierung brachte, blieb die Linke landesweit unter fünf Prozent. Und in ihrer einstigen Hochburg Westbengalen, die sie 32 Jahre lang dominiert hatte, ist die CPIM nur noch ein Schatten ihrer selbst.

Woher dieser Absturz? In Westbengalen hatte die CPIM-Führung die Bevölkerung vertrieben, um Platz für Sonderwirtschaftszonen zu schaffen und bekam dafür die Quittung. Doch die Probleme liegen tiefer. «Schauen Sie sich nur mal das Personal an», empört sich beispielsweise Shobha Nair. «Früher haben Kommunisten den bescheidenen Familienbesitz geopfert und damit Büchereien für die Armen finanziert, heute denken die Linken vor allem ans Geschäft.» Die zierliche Frau gehört zu den schärfsten KritikerInnen der CPIM-Kader. Sie war jahrzehntelang in der Partei aktiv, und kann sich mit ihren 91 Jahren immer noch gehörig aufregen. «Die linken Parteien haben doch keine Visionen mehr mehr», sagt sie in ihrem Haus in Sherthala, «die Patrons pflegen ihre Klientel, besorgen ihnen ein paar Bonbons aus dem Staatshaushalt, von sozialer Umwälzung keine Spur». Umgerechnet 550 Millionen Euro sollen die Supermärkte, Vergnügungsparks, Spitäler und Immobilien wert sein, die der CPIM von Kerala gehören.

Rajeev Punnadath weist diese Kritik entschieden zurück. «Wir haben es mit starken Gegnern zu tun», sagt der stämmige 47-Jährige im CPIM-Büro von Cochin. «Die Kongresspartei hat jedes Mal das wieder rückgängig gemacht, was wir initiiert hatten und stärkt die feudalen und religiös-sektiererischen Kräfte», beklagt der Politiker, der zwei Legislaturperioden lang im indischen Parlament sass. Ausserdem dürfe man die schwierigen Umstände nicht vergessen: «Die Gesellschaft ist geldgierig geworden, alles muss superschnell gehen, Prinzipien werden für ein paar Rupien verhökert, es ist kaum noch möglich, Menschen für Grundwerte wie Gerechtigkeit und Gleichheit zu gewinnen.» Hat sich die Partei also nichts vorzuwerfen? Nicht viel, antwortet Punnadath.

Zentralismus oder Demokratie

Wohin man kommt und mit wem man spricht: Viele teilen die Kritik von Shobha Nair – auch weil sie enttäuscht sind. Ende vergangenen Jahres hatte die CPIM-Führung ein nationales Plenum in Kalkutta einberufen, das die Gründe für die Wahlniederlagen diskutierte. Heraus kam nach fünf Tagen heftiger Debatte ein verschraubter Satz: Die Partei müsse «ihre organisatorischen Fähigkeiten stärken, um durch die Entfesselung von Kämpfen die Kraft der Partei in Einheit mit der verabschiedeten politisch-taktischen Linie zu entwickeln». Man weiss zwar nicht wie weiter, hat aber eine Linie. «Und was ist seither daraus geworden», fragt Shobha Nair, «wo sind denn die Kämpfe, die die Partei entfesseln will?»

Hat die CPIM mittlerweile ihren Daseinszweck verloren, wie ihre politischen GegnerInnen und die Medien glauben machen wollen? Der Weg aus der Krise ist schwierig, das zeigen auch die Auseinandersetzungen um das Organisations- und Führungsprinzip, das lange Zeit in allen kommunistischen Parteien galt – den Demokratischen Zentralismus leninscher Prägung. Disziplin und hierarchischer Aufbau habe die Partei viele Stürme überstehen lassen, sagt etwa Prakash Karat, CPIM-Generalsekretär von 2005 bis 2015. Die Partei könne bei Wahlen nur erfolgreich sein, wenn sie sich demokratisiere, argumentiert hingegen sein Nachfolger an der CPIM-Spitze, Sitaram Yechury.

Auch in Kerala ist dieser Machtkampf entbrannt. Hier stehen sich Pinarayi Vijayan (72) und V.S. Achuthanandan (92) gegenüber. Der eine gilt als überzeugter Anhänger des Demokratischen Zentralismus und wird als aussichtsreicher Kandidat für den Posten des Chefministers gehandelt, sollte die Linke die Wahl gewinnen. Der andere ist der mit Abstand populärste Kommunist in Kerala – weil er sich stets für Bewegungen einsetzt, für Offenheit und Transparenz streitet und Konflikte mit der Parteiführung nicht scheut. Erst jetzt hat sich Achuthanandan wieder mit ihr angelegt – denn ausgerechnet ihm, dem früheren Chefminister von Kerala, wollte das Politbüro eine erneute Kandidatur als Abgeordneter verwehren. Es kam nicht durch damit: Zahlreiche Basisorganisationen drohten mit einer Revolte.

Junge gegen Oberkommando

Die Frage, ob sich die Partei grundlegend erneuern und öffnen kann, treibt nicht nur die Alten um, die sich noch an die Hoffnungen erinnern, die sie einst hatten. Es gibt auch Junge, die mit der Bürokratie, dem Karrierismus vieler Kader und den hierarchischen Strukturen wenig anfangen können.

«Wenn die Linke so wird wie alle anderen Parteien und ihre Mitglieder nur noch für Wahlkämpfe braucht, dann bin ich in der falschen Organisation», sagt beispielsweise Shinoj Thekel. Der 23-Jährige lebt und arbeitet in Calvary Mount am Rande der Kardamomberge, einem abgelegenen, ländlich geprägten Gebiet. Und gehört zu den aktivsten Mitgliedern: Er ist Präsident der Democratic Youth Federation of India, der Jugendorganisation der CPIM. «Wir können die Jungen nicht mobilisieren, wenn uns das Oberkommando der Partei dreinredet und sagt, was wir tun sollen.»

Ein paar von Keralas KommunistInnen emanzipieren sich also – zumindest die Alten, die immer schon bewegungsorientiert waren, und die Jungen, die Befehle und Disziplinarmassnahmen ablehnen. Die mittleren und oberen Kader hingegen weichen meist aus, wenn man sie zur parteiinternen Demokratie befragt. «Die Jungen mögen es halt lieber radikaler», heisst es zuweilen, das sei doch natürlich. Vor allem in Kerala.

Der Bundesstaat sei schon was Besonderes, sagt auch Thomas Isaac. «Hier haben wir bei den meisten Menschen eine dauerhafte Linksorientierung schaffen können», erläutert er nach der Rede in Alleppey. «Wegen uns Linken verfügen die Arbeiter von Kerala über ein hohes Mass an politischem Bewusstsein, sie geniessen die höchsten Löhne Indiens und sind weitgehend vor Ausbeutung geschützt. Das bestreiten nicht einmal unsere schärfsten Kritiker.»

Aber reicht das? Mit ihrer Haltung des «Weiter so» gewinnt die CPIM möglicherweise die kommende Wahl. Aber eine Wiederwahl 2021 wird ihr damit ganz sicher nicht gelingen.


Nachtrag: Bei der Kerala-Regionalwahl 2016 hat die Linke – wie von Joseph Keve prognostiziert – eine komfortable Mehrheit gewonnen. Die CPIM kam auf 58 Mandate (von insgesamt 140), die Kommunistische Partei Indiens (CPI) gewann 19 Sitze. Keralas Linksdemokratische Front ist daher mit 85 ParlamentarierInnen vertreten. Die bisher regierende Kongresspartei erzielte lediglich 22 Sitze. Für die derzeit das ganze Land dominierende Indische Volkspartei BJP stimmten zwar rund zehn Prozent der Bevölkerung von Kerala; das reichte aber aufgrund des Mehrheitswahlrechts nur für einen Sitz. (pw)