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Britannien: Das Dilemma der Linken

Brexit mit links?

19. Juni 2016 | Ob Britannien in der EU bleiben soll oder nicht – das ist keine Frage von links oder rechts. Sondern von oben und unten. Mit verkehrten Vorzeichen allerdings.

Die Märkte reagierten rasch auf den Mord an der britischen Labour-Abgeordneten Jo Cox, die möglicherweise aufgrund ihrer Pro-EU-Haltung getötet wurde: Die Aktienkurse schnellten Stunden danach in die Höhe. Bringt das kurzzeitige Innehalten, auf das sich die Lager der EU-BefürworterInnen wie der GegnerInnen kurz nach der Tat verständigt hatten, die Bevölkerung zur Besinnung? Nimmt das Geschehnis Dampf aus der hochemotional geführten Debatte? Die BörsenanalystInnen gehen jedenfalls davon aus. Und schöpfen Hoffnung. Denn kurz zuvor hatten alle Umfragen einen Brexit erwarten lassen, ein Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der EU.

Ob die Wahlkampfpause, auf die sich die gegnerischen Lager verständigt haben, tatsächlich die Gemüter beruhigt und das Referendum am Donnerstag beeinflusst, ist höchst ungewiss. Die Tory-Rechte um den früheren Londoner Bürgermeister Boris Johnson wird jedenfalls nicht locker lassen. Und auch die EU-kritische Linke wird ihre Position nicht aufgeben.

Sozialistische Tradition

Die EU sei ein Club der Bosse, argumentiert beispielsweise die arbeitskampferfahrene Eisenbahner- und Seeleutegewerkschaft RMT, der die Privatisierung des Schienenverkehrs vorantreibe, die Rechte der Beschäftigten untergrabe (zu erkennen am Vorgehen der Troika in den Krisenstaaten) und mit den geplanten Freihandelsabkommen TTIP und CETA das staatliche Gesundheitssystem gefährde.

"Wir stehen in der Tradition einer progressiven und sozialistischen Opposition zur EU", sagt RMT-Chef Mick Cash und verweist auf die Begründungen, die Labour-Linke bereits beim britischen EWG-Referendum 1975 vorgetragen hatten. Damals waren große Teile der Labour-Partei für einen Austritt des Landes aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG gewesen, der Britannien zwei Jahre zuvor beigetreten war (die Konservativen hatten hingegen für einen Verbleib geworben und gewonnen). Vor allem der damalige Labour-Minister Tony Benn hatte die EWG als zutiefst undemokratische Organisation kritisiert – und darauf beruft sich die RMT noch heute.

Auch Jeremy Corbyn gehörte zu jenen, die seinerzeit für einen EWG-Austritt plädierten. Der linke Labour-Vorsitzende, der vor zehn Monaten per Urwahl überraschend ins Amt kam, ist noch heute kein Freund der EU und ihrer neoliberalen Politik, aber er hält – im Unterschied zur Führungsspitze der Bahngewerkschaft und so manchen EU-GegnerInnen auf der Linken – den Staatenverbund reformfähig.

Revolte der Basis

Gleichwohl hat ihn das Brexit-Referendum – das ja nur zustande kam, weil Tory-Premierminister David Cameron glaubte, mit einer Volksabstimmung die Spaltung seiner Partei in der EU-Frage überwinden zu können – in ein Dilemma gestürzt. Denn alle Umfragen zeigen, dass vor allem die Armen und Vergessenen, die von Camerons rigider Austeritätspolitik gebeutelt werden, und insbesondere die deklassierten ArbeiterInnen, einen EU-Austritt befürworten. Die klassische Labour-Basis also.

Diese "working class revolt" (so die Tageszeitung "Guardian") hat zum einen damit zu tun, dass ihnen ausgerechnet die Elite um Cameron und Schatzkanzler George Osborne, die sich sonst nicht um die Marginalisierten scheren, den Verbleib in der EU schmackhaft machen wollen – und das offenkundig im Interesse der Großunternehmen und der Finanzindustrie in der Londoner City. Und dann ist da die reale Sorge, dass Zuwanderer aus dem osteuropäischen EU-Raum die Löhne weiter unter Druck setzen.

Nach der Osterweiterung der EU 2004 war Britannien eins der wenigen Länder, das osteuropäischen LohnarbeiterInnen die sofortige Personenfreizügigkeit einräumte – und keinerlei Massnahmen zum Schutz vor Lohndumping ergriff. Den Unternehmen kam die neue Reservearmee gerade recht. Die Wut und die Angst vor der Konkurrenz sind entsprechend groß.

In Südwales zum Beispiel, das seit 1922 von Labour dominiert wird, gewinnt die fremdenfeindliche United Kingdom Independence Party (UKIP) deutlich an Zulauf. Die Menschen im ehemaligen Kohle- und Stahlrevier durchleiden seit Thatchers Deindustrialisierungspolitik einen schier endlosen Niedergang: Mit den einst starken Gewerkschaften ist auch die Kultur des Zusammenhalts und der Solidarität verschwunden, die lokale Ökonomie ist kollabiert, Armut grassiert – und niemand im Establishment kümmert die Not der Menschen. Weder die Konservativen noch die Labour-Partei, die – trotz Corbyn – noch immer nicht das Erbe von Tony Blair abgeschüttelt hat.

Der Stolz und das Selbstbewusstsein, das die ArbeiterInnen in den Bergbautälern einst zu einer Vorhut der Gewerkschaftsbewegung hatten werden lassen, ist verschwunden. Und so herrscht nun bei den Abgehängten das Gefühl vor, dass ein Brexit mit all seine Folgen auch nicht katastrophaler sein kann als das, was ihnen bisher angetan wurde. Für sie ist das Referendum auch eine Abstimmung gegen das System. Die Ironie dabei: Sie folgen nun ausgerechnet jenen, die bisher besonders eifrig ihre Gewerkschaften bekämpft hatten und ihnen auch künftig ihre Rechte und Sozialstandards attackieren werden: den besonders reaktionären Tories und der UKIP-Partei, die von einem ehemaligen Börsenspekulanten angeführt wird. Aber das ist ja nicht nur in Britannien so.

Diesem langfristig verheeerenden Stimmungsumschwung in vielen Labour-Hochburgen haben die Brexit-BefürworterInnen auf der Linken allerdings wenig entgegen zu setzen. Und – bisher – auch Corbyn nicht. (pw)