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Deutschland: Demos gegen die Freihandelsabkommen

Im Eilverfahren an der Demokratie vorbei

31. August 2016 | TTIP, das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA, wankt; der Widerstand ist enorm. Doch es gibt eine Hintertür.

Entsprang die Äusserung seinem Realitätssinn? Oder war sie ein geschickter Schachzug? Aufsehen erregte sie allemal: Am Wochenende verkündete der deutsche Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel das Freihandelsabkommen TTIP für «de facto gescheitert». Einen Tag später doppelten französische Politiker nach. Die Gespräche seien festgefahren, konstatierte Staatspräsident François Hollande, sein Handelsstaatssekretär Matthias Fekl fordert mittlerweile den Abbruch der Verhandlungen mit der US-Regierung.

Steht TTIP vor dem Aus? Vieles deutet darauf hin. Seit die Umweltorganisation Greenpeace im Mai interne TTIP-Dokumente veröffentlichte, ist bekannt, dass beide Seiten sehr weit auseinander liegen: Nach drei Jahren Geheimgespräche und vierzehn Verhandlungsrunden konnte bisher in keinem der 27 Vertragskapitel eine Annäherung erzielt werden. Dabei drängt die Zeit. US-Präsident Barack Obama, ein strammer TTIP-Befürworter, sitzt nur noch bis Januar im Weissen Haus. Auf ihn folgen entweder Donald Trump, der sich klar gegen jede Form von Freihandel ausspricht, oder Hillary Clinton, die sich im Wahlkampf – aus taktischen Gründen – den TTIP-kritischen Positionen von Bernie Sanders angenähert hat. Und diese später nicht einfach über Bord werfen kann.

Dass es jetzt eng wird für die einst hochgelobte Transatlantische Handels- und Investitions-Partnerschaft TTIP liegt freilich auch am massiven Widerstand von Umweltorganisationen, Verbraucherschutzverbänden und Gewerkschaften beidseits des Atlantiks. In der EU schlossen sich über 500 Initiativen und Gruppierungen zusammen, sammelten 3,5 Millionen Unterschriften gegen TTIP und das EU-Kanada-Abkommen CETA initiierten die Kampagne «TTIP-freie Zonen», veranstalteten Kongresse und mobilisierten über soziale Netze. So viel grenzüberschreitende Kooperation hat es in Europa schon lange nicht mehr gegeben.

Besonders im deutschsprachigen Teil der EU ist die ausserparlamentarische Opposition massiv. Laut EU-offiziellen Umfragen lehnt weit über die Mehrheit der deutschen Bevölkerung TTIP und CETA ab, in Österreich sind es über siebzig Prozent. Und es mobilisieren nicht nur die üblichen Verdächtigen: linke Basisorganisationen, die GlobalisierungskritikerInnen von attac, die Kampagnenplattform campact.de oder Lobbycontrol. Sondern auch der Deutsche Kulturrat, das Hilfswerk Brot für die Welt, Sozialverbände, die Unternehmerinitiative «KMU gegen TTIP» und KleinbäuerInnen.

Sie alle kritisieren, dass Sozial-, Verbraucherschutz- und Umweltstandards als «Handelshemmnisse» betrachtet werden, dass eine Fortschreibung der Verträge ohne Einbezug der Parlamente vorgesehen ist, dass über den sogenannten Investitionsschutz eine Paralleljustiz für Konzerne geschaffen wird. Diese sollen – das sieht etwa das ausgehandelte CETA-Abkommen vor – Staaten verklagen können, wenn diese Massnahmen ergreifen, die zwar dem Gemeinwohl dienen, aber den Profit schmälern.

Die Taktik des SPD-Chefs

Die vielfach belegten Einwände, die entschiedene Ablehnung durch die Gewerkschaften, selbst die scharfe Kritik des Deutschen Richterbunds – all das interessierte den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel bisher wenig. Er ist ja auch für die Abkommen. CETA, sagte er vor kurzem, sei «das beste Freihandelsabkommen der Welt». Doch nun musste er handeln: Seiner Partei steht die grösste Zerreissprobe seit Gerhard Schröders Sozialabbauprogramm «Agenda 2010» bevor. Der linke Flügel und eine ganze Reihe von Landesverbänden haben sich in den letzten Wochen klar gegen CETA ausgesprochen; am 19. September entscheidet ein SPD-Sonderparteitag über das Kanada-Abkommen.

Also warf Gabriel eine Nebelkerze. Er konstatiert die Chancenlosigkeit von TTIP (das bisher im Fokus des öffentlichen Interesses stand), schiebt der US-Regierung die Schuld zu (sie sei in den Verhandlungen «kompromisslos»), signalisiert mithin Entwarnung – und lobt gleichzeitig die kleineren Verbesserungen, die durch den Druck von unten an CETA vorgenommen wurden, über den grünen Klee.

Doch so recht nimmt ihm das niemand ab. Was auch daran liegt, dass die EU-Kommission CETA zuerst an den Parlamenten der EU-Mitgliedsstaaten vorbei beschliessen lassen wollte. Um dann, als etliche Regierungen Einspruch einlegten, bekannt zu geben, dass das Abkommen noch im Herbst «vorläufig» in Kraft gesetzt werde. Also noch vor der Ratifizierung durch die nationalen Parlamente. Zudem – auch das hat sich herumgesprochen – hätten durch CETA alle US-Konzerne mit Niederlassungen in Kanada ihr TTIP.

Im Eilverfahren an der Demokratie vorbei: Eine bessere Mobilisierungshilfe konnte sich die breite Anti-CETA/TTIP-Bewegung für die seit langem geplanten regionalen Demonstrationen am 17. September kaum wünschen. Und damit die Bundesregierung CETA nicht einfach durchwinkt, haben Mitte dieser Woche, am 31. August, die Organisationen Campact, Foodwatch und Mehr Demokratie eine Verfassungsbeschwerde von 125.000 BürgerInnen dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe übergeben. (pw)

PS: Der CETA-Fahrplan im Herbst: 17. September: Demonstrationen in sieben deutschen Großstädten. 19. September: SPD-Sonderkonvent zu CETA in Wolfsburg. 23. September: Treffen der EU-HandelsministerInnen zu CETA in Bratislava. 18. Oktober: Der Europäische Rat der EU-Regierungs- und Staatschefs entscheidet über CETA. 27. Oktober: EU-Kanada-Gipfel.