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Deutschland: Baden-Württemberg wählt

Beten für Merkel

10. März 2016 | Laut Umfragen könnten die baden-württembergischen Grünen bei der Landtagswahl am Sonntag erstmals stärkste Partei werden. Doch wem nutzt das?

Sie sind immer noch da – und nicht zu übersehen mit ihren Infoständen, ihren Transparenten («Schluss mit Stadt- und Naturzerstörung – gegen Stuttgart 21»), ihren Trillerpfeifen, Aufklebern, selbstgemalten Schildern ("Oben bleiben") und feurigen Reden. Montag für Montag stehen sie in der Stuttgarter Innenstadt, um gegen das «mit Abstand grösste, teuerste, riskanteste und dümmste Projekt in der Geschichte der Eisenbahn» zu protestieren; so hatte der grüne Verkehrspolitiker Winfried Hermann den geplanten Tunnelbahnhof Stuttgart 21 einmal beschrieben. Stuttgart 21 (S21) soll irgendwann im nächsten Jahrzehnt den deutlich leistungsfähigeren Kopfbahnhof ersetzen; Kostenpunkt: wahrscheinlich über zehn Milliarden Euro. Ein städtebauliches Fiasko, ein verkehrspolitischer Schildbürgerstreich, ein milliardenschwerer Unfug – darin sind sich alle einig, die sich regelmässig auf dem Schlossplatz versammeln und anschliessend durch die Innenstadt ziehen.

Und deswegen lassen sie auch nicht locker, obwohl schon viele Bäume gefällt wurden, beim Hauptbahnhof tiefe Gruben klaffen und zwölf der rund sechzig Kilometer Tunnel gebohrt sind. Warum auch aufgeben? Ein sofortiger Ausstieg, das ergab jüngst eine Untersuchung, käme die öffentliche Hand – darunter das Land Baden-Württemberg und die Stadt Stuttgart – knapp acht Milliarden Euro billiger; bei einer grosszügigen Modernisierung des Kopfbahnhofs sind es immer noch fast sechs Milliarden. Zudem fehlen noch viele planrechtliche Genehmigungen, es hapert beim Brandschutz, und dann lauern da weiterhin quellfähige Gipsschichten im Untergrund, die das ganze Projekt stoppen könnten.

Natürlich sind nicht mehr so viele Menschen unterwegs wie vor einigen Jahren; aber anderthalbtausend KundgebungsteilnehmerInnen an der 311. Montagsdemo vor zwei Wochen ist beachtlich viel: So hartnäckig wie die Bewegung gegen S21 war schon lange kein Protest mehr in Deutschland. «Das Rebellische in diesem Landstrich kommt langsam, hält dafür aber auch länger», schrieb dazu die Stuttgarter Wochenzeitung «Kontext».

Stuttgart 21 und Fukushima

Eine Frage treibt die RebellInnen derzeit besonders um. Wen wählen am 13. März? Die SPD, die in Sachen S21 seit jeher gespalten ist? Die Grünen, die anfangs gegen das Bauvorhaben mobilisierten, nach ihrem Landtagswahlerfolg im März 2011 jedoch den Protest ad acta legten und deren Verkehrsminister Herrmann inzwischen mit der Umsetzung des «teuersten und dümmsten» Bahnprojekts beschäftigt ist? Oder Die Linke?

Aber würde die in Baden-Württemberg kleine Partei etwas ausrichten können? Viele Intellektuelle, zahlreiche GewerkschafterInnen und eine lange Reihe von AktivistInnen rufen zu ihrer Wahl auf. Ob es Die Linke diesmal schafft, ist ungewiss. Vor fünf Jahren war sie gewaltig unter die Räder gekommen und hatte – gegen den Bundestrend – sogar Prozentpunkte eingebüsst. Das lag an den besonderen Umständen der Landtagswahl Ende März 2011: Die CDU, die ab Anfang der fünfziger Jahre ununterbrochen den Ministerpräsidenten gestellt hatte (darunter den ehemaligen Nazi-Richter Hans Filbinger), war nur noch auf Machterhalt bedacht – und hatte mit Stefan Mappus einen Regierungschef, dessen autoritäres Gebaren Teile der CDU-Gefolgschaft empörte. Der rabiate und rechtswidrige Polizeieinsatz gegen junge DemonstrantInnen im Herbst 2010 machte S21 landesweit zu einem Thema. Und dann schmolzen sechzehn Tage vor der Wahl in Fukushima drei Atomreaktoren durch.

Das Ergebnis von Mappus, S21 und Fukushima: Die CDU holte sich im traditionell konservativen Südwesten das schlechteste Wahlresultat (39 Prozent) seit der Gründung von Baden-Württemberg. Die Grünen wurden mit 24,2 Prozent (ein Plus von 12,5 Prozentpunkten) zweitstärkste Partei und gingen mit der SPD, die noch nie so miserabel abgeschnitten hatte (23,1 Prozent), eine Koalition ein. In Stuttgart holten Grüne drei der vier Direktmandate. Eine Sensation. Erstmals regierte grün-rot, erstmals gab es mit Winfried Kretschmann einen grünen Ministerpräsidenten. Viele erhofften sich einen Politikwechsel.

Die Kirche bleibt im Dorf

Knapp fünf Jahre später. Die Landtagsfraktion der Grünen hat in Konstanz zum «Bürgerdialog» geladen, und alle sind da, frisch gekämmt und geschniegelt. Die Abgeordneten und MinisterInnen scharen sich um Kretschmann, der erzählt, wie stolz er auf den "Innovationsstandort Nr. 1 in Europa" ist und wie sehr ihn die Flüchtlingsfrage umtreibt. Ihm und den anderen grünen FunktionärInnen ist anzumerken, wie unangenehm ihnen die Anwesenheit von Konstanzer TTIP- und TISA-GegnerInnen ist. Denen war es trotz Verbot und Taschenkontrolle gelungen, Transparente gegen die Freihandelsabkommen in den Saal zu schmuggeln. Die Parteibasis unterstützt zwar den Protest gegen TTIP; Kretschmann jedoch erwartet von dem geheim verhandelten Abkommen eine Stärkung der Exportkraft des baden-württembergischen Unternehmertums. Und auf Kretschmann kommt es an.

Also vermeiden die Grünen in Konstanz das Thema. Die einst konfliktfreudige Protestpartei, die im Zuge der AKW-Bauplatzbesetzung von Wyhl Ende der siebziger Jahre entstanden und mit den Friedensblockaden bei Mutlangen Anfang der achtziger Jahre gross geworden war, ist im Südwesten seit langem ein wertkonservativer, bieder agierender, nach der bürgerlichen Mitte und der politischen Macht drängender Wahlverein. Während sich auf Bundesebene Linke und Rechte noch erbittert Schlachten um die inhaltliche Ausrichtung, um Regierungsbeteiligung, Kriegseinsätze und die Notwendigkeit grundlegender Veränderungen lieferten, gaben bei den baden-württembergischen Grünen längst die «Realos» um Kretschmann und Fritz Kuhn den Ton an.

Verwalten statt verändern, arrangieren statt bewegen – das machte die Grünen, die vor allem in den Universitätsstädten grossen Zulauf hatten, schon bei der Landtagswahl 2011 für bürgerliche Kreise wählbar. Die grünen Oberbürgermeister in Konstanz (1996 bis 2012), Freiburg (seit 2002), Tübingen (seit 2007) und Stuttgart (Fritz Kuhn seit 2012) hatten schliesslich die Kirche im Dorf gelassen. Also stimmten Liberale, denen die FDP zu neoliberal geworden war, und mappus-kritische ChristdemokratInnen für Kretschmann, «ausnahmsweise», wie manche damals sagten.

Mehr Autos statt weniger

Die Grünen enttäuschten diese WählerInnen nicht. Sie gleisten (mit dem Koalitionspartner SPD) eine kleine Schulreform auf, förderten da und dort erneuerbare Energien, reduzierten den Strassenneubau und achteten stets aufs Budget: Grün-rot ignorierte den sozialen Wohnungsbau (die Wohnungsnot der einkommensschwachen Schichten ist eines der grössten Probleme in der baden-württembergischen Wohlstandsgesellschaft), unternahm wenig gegen die Armut im Land und hofierte den Grossunternehmen.

«Weniger Autos sind besser als mehr», hatte Kretschmann vor seinem Amtsantritt gesagt. Heute setzt er sich für Daimler und Porsche ein, für Innovation und Wettbewerbsfähigkeit. Die Industrie ist dankbar dafür: Vor kurzem hat Südwestmetall, der baden-württembergischen Verband der Rüstungs-, Fahrzeug- und Metallindustrie, seine jährliche Spende an die Grünen auf 110.000 Euro erhöht. Und Wolfgang Grupp, bisher CDU-treuer Textilfabrikant, gab bekannt, dass er dieses Mal grün wähle – wegen Kretschmann, dem früheren Maoisten und heutigen Katholiken, dessen schwäbelnd-bedächtige Art weitherum geschätzt wird und auf den die Grünen ihren ganzen Wahlkampf zugeschnitten haben: "Grün wählen für Kretschmann", heisst es auf den Wahlplakaten. Derart personalisiert war eine politischen Kampagne in Deutschland schon lange nicht mehr.

Die Popularität hätte allerdings kaum gereicht, um die CDU zu überholen. Doch dann kam die Flüchtlingskrise. Die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD) legte in den Umfragen zu, die baden-württembergische CDU geriet in Panik, ihr Vorsitzender Guido Wolf setzte sich vom Kurs der Bundeskanzlerin Angela Merkel ab – und plötzlich galt der grüne Ministerpräsident in den Medien als Merkels bester Mann im Südwesten: Er befürwortet ihre Flüchtlingspolitik. Er bete jeden Tag, dass Merkel gesund bleibe, sagte Kretschmann Ende Januar in einem Interview. Keine Obergrenzen in der Flüchtlingspolitik, da sind sich beide einig, dafür bei Abschiebungen «knallhart Kante zeigen» (O-Ton Kretschmann) und eine fortlaufende Verschärfung des Asylrechts.

Dumm für die Landes-CDU: Ihr Rechtsruck ging vielen an der Basis zu weit. Auf dem Land, wo ein eklatanter Mangel an Arbeitskräften herrscht, bemühen sich Unternehmen, Handwerkskammern, Behörden und Freiwillige mit grossem Engagement um Flüchtlinge. Allein im Landkreis Konstanz sind über zwanzig Betriebe gefährdet, weil ihnen die Leute ausgehen. Auch deswegen liegen die Grünen in Umfragen derzeit vor den Schwarzen. Das nutzt der Partei allerdings wenig, wenn die weitgehend konturlose, wirtschaftsfreundliche Landes-SPD so desaströs abschneidet wie prognostiziert – Grün-rot hätte keine Mehrheit mehr.

Und die Linke? «Natürlich würde es uns helfen, wenn Die Linke in den Landtag käme», sagt Christa Schnepf vom Stuttgarter Aktionskomitee gegen Stuttgart 21, die Woche für Woche die Montagsdemos vorbereitet. «Dann hätten die Bewegungen eine Vertretung im Parlament, dann könnte auch dort Druck ausgeübt werden.»

Und falls die Linke erneut an der Fünfprozent-Hürde scheitert? Natürlich gehe auch dann der Protest gegen Stuttgart 21 weiter. Das sagen alle Aktive. Und so wird, wer mit dem Zug in Stuttgart ankommt, auch künftig gegenüber dem Hauptbahnhof einen mit vielen Bannern dekorierten Holzverschlag sehen, in dem vorwiegend ältere und überaus kenntnisreiche AktivistInnen seit Juli 2010 die Öffentlichkeit informieren. 365 Tage im Jahr sind sie da, sieben Tage in der Woche, 24 Stunden am Tag. (pw)