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Buchkritik: «Mainstream»

Einheitsbrei in wichtigen Fragen

4. Januar 2017 | Sind die Medien tatsächlich so auf den Hund gekommen, wie vielfach behauptet? Und falls ja: Woran liegt das?


Cover des Buchs «Mainstream»Es ist noch nicht lange her, da führten die grossen deutschen Medien mal wieder ausgiebig vor, was unter dem englischen Begriff «Mainstream» zu verstehen ist: Ihre Berichte und Kommentare drängten alle in gleiche Richtung, fast wortgleich wiederholten sich die Argumente und Ausführungen – und was an Informationen nicht ins Schema passte, fiel unter den Tisch.

Sie erinnern sich wahrscheinlich: Ende Oktober stand Europa kurz vor dem Abgrund. Nach langem Hin und Her hatten sich die EU-Kommission und die kanadische Regierung auf einen Termin zur Unterzeichnung des umstrittenen Handelsvertrags CETA zwischen der EU und Kanada einigen können, Kanadas Premier Justin Trudeau sass fast schon im Flieger nach Brüssel, um der feierlichen Zeremonie beizuwohnen – und dann geschah das Ungeheuerliche: Mehrere belgische Regionen versagten ihre Zustimmung, die laut Verfassung des Landes vorgeschrieben ist. Ihr Argument: CETA untergrabe die Rechte der Beschäftigten und der KonsumentInnen, beschädige mit der vorgesehenen Investorschiedsgerichtsbarkeit die Demokratie und hebele das Vorsorgeprinzip aus, das in Europa gilt und demzufolge Produkte erst dann auf den Markt gelangen dürfen, wenn sie nachgewiesenermassen unschädlich sind.

Neu war ihr Einwand nicht. Bereits im Frühjahr 2016 hatte es genügend Hinweise darauf gegeben, dass die Regionalparlamente CETA ablehnen würden. In den Redaktionsstuben der deutschen Medien war das jedoch nicht zur Kenntnis genommen worden – und so kannte die Empörung keine Grenzen, als Walloniens Ministerpräsident Paul Magnette das Veto bekannt gab. «Europa im Würgegriff der Wallonen», schrieb beispielsweise die FAZ. Die EU befände sich «in Geiselhaft der Wallonie», hiess es bei «Spiegel Online». Die «Wallonie blamiert die EU», formulierte nicht nur der «Spiegel». «Kleinstaaterei» sei eine «gefährliche Bedrohung der EU-Handlungsfähigkeit», glaubte die «Zeit» – und stiess damit ins selbe Horn wie die anderen grossen Medien, die eine «Fundamentalopposition» witterten. Und in dieselbe Kerbe hauten wie der Vorsitzende des Handelsausschusses des EU-Parlaments Bernd Lange (SPD), der im Widerstand der belgischen Regionen allen Ernstes «einen weiteren Schritt zur Zerstörung der EU» zu erkennen glaubte.

Ukraine und Griechenland

Dass die deutschen Leitmedien von ARD, ZDF über FAZ, «Süddeutsche», «Welt», «Spiegel» und «Zeit» bis hin zum ansonsten differenziert berichtenden Deutschlandfunk oft stromlinienförmig dasselbe berichten, ist nicht neu. Zu Beginn der Ukraine-Krise beispielsweise malten fast alle dieselben Teufel an die Wand: den damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch und Russlands Wladimir Putin. Gleichzeitig liessen sie alle Informationen, die ihr Bild von der guten, demokratischen, pro-europäischen Westukraine hier und dem bösen Osten korrigiert hätten, unter den Tisch fallen.

Zum Beispiel die Tatsache, dass das, was zur Maidan-Bewegung wurde, über Jahrzehnte hinweg aus geopolitischen Gründen von den USA massiv unterstützt worden war. Dass an den Maidan-Protesten von Anfang an die rechtsradikale ukrainische Partei Swoboda und der ultra-nationalistische Rechte Sektor beteiligt waren. Oder dass das Maidan-Massaker im Februar 2014 nicht hauptsächlich auf das Konto von Janukowytschs Sicherheitsleute ging, sondern eben auch von Scharfschützen des Rechten Sektors begangen worden war. Von all dem war in den Mainstream-Medien seinerzeit nichts zu hören und zu lesen. Auch der rechtsradikale Angriff am 2. Mai 2014 auf das Gewerkschaftshaus von Odessa (46 Tote) war nur wenigen Zeitungen ein paar Zeilen wert.

Woher kommt das? Warum schlagen sich die grossen Medien so oft und so unverhohlen auf eine Seite (meistens die der Mächtigen), statt zu differenzieren? Weshalb ignorieren sie andere Positionen und/oder Fakten? In ihrer Griechenland-Berichterstattung zum Beispiel waren sich meisten grossen Medien ziemlich einig, dass die GriechInnen mit ihrem südländischen Schlendrian selber schuld an der Staatsverschuldung seien.

Gewiss: Die griechische Bevölkerung hatte in schöner Regelmässigkeit die beiden grossen Parteien – die konservative Nea Dimokratia oder die sozualdemokratische Pasok gewählt und dabei zugesehen, wie sich deren Regierungen immer tiefer in die Korruption verwühlten. Aber kann man tatsächlich sagen, dass «die Griechen» allein die Verantwortung dafür tragen? Also auch die Verkäuferin, der Lehrer, die Ärztin, der Bauer?

Doch der mediale Tenor blieb: Die Anweisungen der Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds seien alternativlos; die Vorschläge der in Griechenland regierenden «radikalen Linken» würden die Stabilität der Eurozone und damit auch Deutschlands gefährden; bei Alexis Tsipras und Yanis Varoufakis handele es sich um Haserdeure, Extremisten, Spieler. Während die EU mit ihren «Rettungspaketen» jeweils nur Gutes im Sinn habe.

Nur eine rabiate Kürzungspolitik sei geeignet, «den Griechen» endlich das Sparen beizubringen und der Wirtschaft wieder auf die Beine zu helfen, lautete der Subtext der allermeisten Meldungen – obwohl ernstzunehmende ÖkonomInnen genau diesen Zusammenhang bestreiten.

Und welche Zeitung, welcher Sender wies denn schon darauf hin, dass die sogenannten Rettungsgelder nicht etwa der gebeutelten griechischen Bevölkerung zugute kommen, sondern direkt an europäische Banken fliessen, die zu Spekulationszwecken griechische Staatsanleihen kauften? Hin und wieder tauchte diese Information in einem Nebensatz auf. Aber der Gesamtzusammenhang wurde nie hergestellt.

Massiver Vertrauensverlust

Die Beispiele liessen sich problemlos erweitern. Während des Lokführerstreiks im Sommer 2015 war es der GDL-Vorsitzenden Claus Weselsky gewesen, der zur Durchsetzung «völlig überzogener Forderungen» die «Bevölkerung in Geiselhaft» genommen hatte. Gleichzeitig begrüssten die meisten KommentatorInnen das Tarifeinheitsgesetz der SPD-Ministerin Andrea Nahles – obwohl es den kleineren Gewerkschaften das Streikrecht entzieht. Und wann ist in den grossen Medien zum letzten Mal eine Reportage erschienen, die die wachsende Armut in der Bevölkerung zum Thema hatte?

Die Kluft zwischen der Lebenswirklichkeit und dem, was medial vermittelt wird, ist enorm. Sie schlägt sich mittlerweile in demoskopischen Ergebnissen nieder. Laut einer Umfrage im Auftrag des NDR-Medienmagazins «Zapp» im Jahre 2014 haben lediglich 29 Prozent der Befragten noch ein «grosses oder sehr grosses Vertrauen in die Medien». Die übrigen beklagten «Einseitigkeit», «fehlende Objektivität», «bewusste Fehlinformation». Eine andere Umfrage (im Auftrag der Wochenzeitung «Zeit») ergab 2015, dass nur 32 Prozent der Befragten die Ukraine-Berichterstattung für glaubhaft hielten und bloss 35 Prozent dachten, dass die Berichte über die griechische Schuldenkrise der Wahrheit nahe kommen. Hingegen glauben 42 Prozent jener, die für den WDR 2015 befragt wurden, «dass den deutschen Medien von Staat und Regierung vorgegeben wird, worüber sie berichten sollen», und ein Fünftel aller würden gar von «Lügenpresse» im Sinne der Pegida-Bewegung sprechen. Das sind alarmierende Ergebnisse.

Natürlich kann hierzulande nicht von staatlich gesteuerten Medien gesprochen werden. Andererseits gibt es durchaus Verflechtungen, auf die Uwe Krüger in seiner überaus faktenreichen Studie «Mainstream. Warum wir den Medien nicht mehr trauen» aufmerksam macht.

Teil der Elite

So gibt es – wie Krüger schildert – eine punktuell enge Kooperation von Politik und Medien. Beispielsweise sitzen zentrale Figuren der Vorzeigemedien (etwa Klaus-Dieter Frankenberger von der FAZ, Stefan Kornelius, Auslandschef der «Süddeutschen», Peter Frey, Nachrichtenchef von ZDF, oder Josef Joffe, Mitherausgeber der «Zeit») in zwischenstaatlich organisierten Netzen und Denkfabriken – wie dem German Marshall Fund of the United States, dem Aspen Institute Germany, der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, der Deutschen Atlantischen Gesellschaft, der Stiftung Atlantik-Brücke und so weiter. Da verwundert es wenig, wenn ihre Analysen und Leitartikel ziemlich ähnlich klingen und das wiedergeben, was auf der Ebene der Herrschenden an akzeptabler Meinung gehandelt wird.

Und dann gibt es da noch unzählige Zirkel, die sich die politische Elite und die VerantwortungsträgerInnen in den Redaktionen geschaffen haben. Sie dienen vor allem dazu, Informationen auszutauschen und «off the record», also Stillschweigen vereinbarend, den Tarif durchzugeben. Allein in Berlin gibt es über zwei Dutzend solch erlauchter Kreise, denen niemand beitreten kann, zu denen man nur gebeten wird. «Embedded Journalism», dieser Begriff, der während der Irakkriege erstmals auftauchte, als die US-Army westliche Journalisten unter ihre Fittiche nahm und sie lediglich mit ihr genehmen Informationen fütterte – diesen «einbetteten» Journalismus gibt es nicht nur in Kriegssituationen.

Unmittelbare Einflussnahme ist hingegen eher selten. Krüger erwähnt in seinem Buch nur einen Fall: Im Oktober 2008, kurz nach der Pleite von Lehman Brothers, hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel die Chefredakteure der wichtigsten deutschen Medien zu sich bestellt. Ihre Bitte: Man solle sich doch in der Berichterstattung über die Finanzmarktkrise zurückhalten.

Permanente Beschleunigung

Nur wenige JournalistInnen gehören der Elite an (oder fühlen sich als Teil davon), für die meisten KollegInnen sind andere Faktoren ausschlaggebend: Die zunehmende Beschleunigung, die Boulevardisierung der Medien, die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, die steigende Abhängigkeit von PR und Lobbyismus. So nimmt beispielsweise die Zeit, die JournalistInnen für ihre Recherchen haben, dramatisch ab. Laut einer Befragung von 253 RedakteurInnen, die von der Universität Leipzig vorgenommen wurde, haben die KollegInnen im Durchschnitt gerade mal elf Minuten pro Tag für Quellencheck und Faktenkontrolle. Die Konsequenz: Zahllose Informationen gehen ungeprüft durch, und zwar nicht nur auf der Provinzebene. Als der frühere US-Aussenminister Colin Powell mit der (erfundenen) Behauptung, Saddam Hussein verfüge über Massenvernichtungswaffen, 2003 den mörderischen Angriff auf den Irak begründete, schrieben das die meisten Medien einfach nach.

Und wer erinnert sich nicht an die ungeheure Aussage des früheren iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad, der «Israel von der Landkarte radieren» wollte? Das Interessante dabei: Er hatte das nie gesagt (siehe Krüger: «Mainstream», S. 45), sondern lediglich geäussert: das (israelische) «Besatzungsregime muss Geschichte werden». Ein Übersetzungsfehler, den niemand überprüft hat, und ein riesengrosser Unterschied.

Wenn nicht einmal mehr Fakten gecheckt werden können, wie sieht dann erst mit Themen aus, die man selber aufgreifen müsste? Und die nicht im Mainstream liegen? Dazu muss man recherchieren. Und das kostet nicht zur Zeit, sondern ist auch unbequem: Man muss raus aus der Komfort-Zone. Wer allgemein akzeptierte Glaubenssätze – die NATO ist per gut, der Euro ist richtig – teilt, muss sich um seine Reputation keine Sorgen machen, und hat es zudem einfacher: Die gegen den Strom schwimmen, müssen ihre Argumentation sorgsam aufbauen, Einwände vorwegnehmen, sich defensiv vortasten, möglichst wenig Zuhörer oder Leserinnen gegen sch aufbringen. Das ist aufwendig. Und so nimmt die Zahl der JournalistInnen, die sich nicht nur als Content-Manager sehen, ab. Laut einer Langzeitbefragung von RedakteurInnen, die 1993 und 2005 befragt wurden, sank der Anteil jener JournalistInnen, die «Kritik an Missständen üben» wollen, von 63 auf 57 Prozent, und «sich für Benachteiligte einsetzen» haben nur noch 29 Prozent der RedakteurInnen vor (früher waren es immerhin 43 Prozent gewesen).

Die Abhängigkeit von PR

Neben dem Zeitdruck, so beschreibt es Uwe Krüger, gerät die Pressefreiheit auch zunehmend unter wirtschaftlichen Druck – auch aus dem eigenem Verlag. Dass man auf die «auf wirtschaftlichen Interessen des eigenen Medienhauses Rücksicht nehmen» müsse, sei eine der Hauptgefahren im Journalismus. Das fand das Allensbacher Institut 2014 in einer Befragung von 432 Zeitungsleuten heraus. Dazu kommt: Über Dreiviertel aller interviewten Zeitungsleuten gaben an, dass die Einflussversuche von PR-Agenturen deutlich zugenommen hätten und dass PR-Material immer öfter ungefiltert in die Medien gelange.

Ganz neu ist das nicht. Schon früher, das haben wissenschaftliche Untersuchungen ergeben, beruhten rund sechzig Prozent der journalistischen Beiträge auf PR-Material. Heute sind es eher mehr. Bei dpa jedenfalls besteht über die Hälfte der Meldungen aus Pressemitteilungen, die gar nicht oder nur wenig bearbeitet wurden.

Zu denen, die diese Mitteilungen heraushauen, gehören nicht etwa nur Pressestellen von Behörden, Ministerien oder Parteien, sondern vor allem scheinbar neutrale Lobbyisten wie die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, Stiftungen wie die des Bertelsmann-Konzerns, die Studien über die Vorteile des Handelsabkommens TTIP herausgibt und für Deregulierung, Liberalisierung, Privatisierung wirbt.

Dazu kommt noch die (von den Chefs oftmals angeordnete) Rücksicht auf die Inseratekundschaft. Diese geht inzwischen sogar den Firmen zu weit. «Unternehmen können heute in einem Ausmass redaktionelle Berichterstattung kaufen, wie das früher völlig undenkbar war. Und sie machen davon Gebrauch», sagte 2015 Jürgen Gramke, Vorsitzender des Arbeitskreises Corporate Compliance in einem Gespräch mit dem «manager-magazin». Jedenfalls hat der Arbeitskreis, dem zahlreiche DAX-Konzerne angehören, einen Kodex für Medienarbeit erlassen, der darauf abzielt, die Trennung von Werbung und Bericht wieder einzuführen. Der Grund dafür ist einfach: Ihnen nützen nur glaubwürdige Medien was.

Wer hat die Macht?

Das sei in etwa so, als würde sich die Mafia um die Ehre der Polizei bemühen, zitiert Krüger in seinem lesenswerten Buch einen Wirtschaftsjournalisten. Was Krüger ebenfalls gut herausarbeitet, ist die soziale Nähe vieler JournalistInnen zur Elite – die Herkunft aus dem selben Milieu, der (formale) Bildungsgrad, die politische Sozialisation in Journalistenschule, die «Parkettsicherheit», der gleiche Habitus – und der Konformitätionsdruck, der daraus entsteht.

Was er leider gar nicht anspricht, sind die materiellen Grundlagen der privaten Medienindustrie, das heisst: die Eigentumsverhältnisse. «Die Pressefreiheit ist die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten», schrieb 1965 Paul Sethe, Gründungsherausgeber der FAZ in einem Leserbrief an den «Spiegel». Heute sind es nicht mehr 200 Reiche, denen die allermeisten Medien gehören, es sind viel weniger. Denn der Konzentrationsprozess ist so weit fortgeschritten wie nie zuvor: Heute geben die zehn grössten Verlage sechzig Prozent der gesamten Zeitungsauflage heraus. Diese Verlage gehören oft Verlegerfamilien wie den Springers, den Mohns, den Burdas, den Schaubs, den Funkes. Und machen immer noch viel Geld mit den Zeitungen – auch weil sie in den Redaktionen alles zusammenkürzen.

Diese EigentümerInnen haben natürlich wenig Interesse daran, dass ihre Macht gezeigt wird. Und daher kommt auch, dass die enorme Reichtumskonzentration als Ursache der Krisen, der wachsenden Ungleichheit und der zunehmenden Fragilität der Gesellschaften so gut wie nie thematisiert wird. (pw)